> Dieter Knall: Kriegsende in Alberschwende, Vorarlberg 1945

Dieter Knall: Kriegsende in Alberschwende / Vorarlberg 1945

Dieser Eintrag stammt von Dieter Knall (*1930) aus Graz / Österreich, Mai 2011. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Erinnerungen. Biografische Notizen", erschienen im Verlag "Evangelischer Presseverband in Österreich", Wien 2008

/lemo/bestand/objekt/knall001 Nach unserer Flucht aus Detta in Rumänien trafen wir als Familie gut fünf Wochen später, am Dienstag, den 24. Oktober 1944, in Alberschwende ein. Dorthin war die in Friedrichshafen ausgebombte Familie eines Bruders meines Vaters evakuiert worden. Schließlich sahen auch wir uns als Familie dort wieder vereint. Ein neuer Lebensabschnitt begann für uns als Siebenbürger Sachsen. Wir fanden uns in einem Bregenzerwälderhaus im Ortsteil Fischbach neben der dortigen Kapelle vor, das, abgesehen von seinem Fundament, ganz aus Holz gezimmert war und uns ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit vermittelte. Wir hatten das bitter nötig, denn erst jetzt wurde uns - auch mir - so richtig bewusst, in was für eine Lage wir geraten waren. Außer uns selbst hatten wir nichts mehr vorzuweisen. Vor kurzem noch wohlhabend, erfuhren wir uns jetzt als "Habenichtse" in einem uns fremden Land unter Leuten, deren alemannischen Dialekt wir nur mit Mühe verstanden und deren Gewohnheiten und Bräuche uns ebenso fremd waren wie die Art ihrer römisch-katholischen Frömmigkeit. Nicht leicht fiel uns auch der Umgang mit Lebensmittelkarten und -marken sowie mit Bezugsscheinen für fast alle Bedarfsgüter des täglichen Lebens. Großdeutschland schickte sich eben an, alle seine Ressourcen dem "Endsieg" dienlich zu machen.

Meine Schwester und ich hatten all das Neue, auf uns Einstürmende, noch gar nicht richtig aufnehmen, geschweige denn verarbeiten können, als mein Vater sich mit uns beiden abermals auf den Weg machte, um in der Landeshauptstadt Bregenz nach geeigneten Schul- und Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen. Natürlich steuerten wir, wie das für Siebenbürger Sachsen selbstverständlich war, zunächst das evangelische Pfarramt an, wo wir uns vorstellen und von unserem künftigen Pfarrer hilfreichen Rat erbitten wollten. Wir erfuhren ihn kurz angebunden. Unser Anliegen erschien ihm als Zumutung. "Ich bin doch kein Wohnungsamt, liebe Leute", stellte er ungeduldig fest, beendete alsbald das Gespräch und entließ uns. Glücklicherweise fielen wir in der Pfarramtskanzlei auch noch der Gemeindehelferin in die Hände, die sich uns verständnisvoller annahm.

Meine Schwester kam auf die Mädchenschule und fand gute Aufnahme in einer evangelischen Industriellenfamilie. Mich brachte mein Vater zur damaligen Oberschule für Knaben, deren Direktor, ein Liechtensteiner, von dem man sagte, er sei ein überzeugter Nationalsozialist, mich in eine der vierten Klassen führte. Beim Betreten des Raumes sprangen die Schüler auf und nahmen Haltung an. Er hieß sie, sich setzen, sah in die Runde und wies mir nach kurzer Überlegung einen Platz neben einem Jungen, Kurt, an, der mein Freund wurde und bis zur Matura mein Banknachbar blieb. Auch meine Unterbringung in Bregenz gelang umgehend. Ich kam in das Schülerheim im Kloster Mehrerau. Es sollte die schlimmste Zeit meines Lebens werden.

Mit dem Geist eines Klosters hatte das Heim nichts zu tun, im Gegenteil. Sämtliche Gebäude waren von 1941-1945 zwangsbeschlagnahmt. Wir darin Untergebrachten sahen uns einem für mein Empfinden schrecklichen Drill vom Aufstehen bis zum Schlafengehen ausgesetzt. Zu den Essenszeiten hatten wir anzutreten. Geschlossen rückten wir in den Speisesaal ein, aßen gleichsam auf Befehl und jeder raffte an sich, was er zu erlangen vermochte. Das alles war mir in tiefster Seele zuwider. Ich erfuhr mich als Außenseiter, der sprachlich mit dem Alemannischen schwer zurecht kam und manches andere nicht mitmachen mochte. Ich zählte Tage und Stunden bis zu jenen Wochenenden, an denen die Heimfahrt erlaubt war und konnte mich angesichts des immer wieder nahenden Montags auch in Alberschwende nicht mehr richtig entspannen. Von meines Vaters Bruder Walter, unserem "Nickonkel", der als Landwirt einen ansehnlichen Bauernhof in der Nähe von Überlingen am Bodensee bewirtschaftete, erhielt ich ein gebrauchtes Fahrrad, um die Wegstrecke aus der Mehrerau zur Schule in der Gallusstraße leichter bewältigen zu können. Nach kurzer Zeit waren meine Fahrradschläuche böswillig durchstochen. Heute lässt sich nicht mehr erahnen, welche Schwierigkeiten damals mit jeder Reparatur verbunden waren. Gegen Kriegsende ließ sich kaum noch etwas bekommen, es sei denn durch Beziehungen oder von Verwandten. Meiner Schwester blieb meine Misere nicht verborgen und durch sie auch ihren Quartiergebern nicht. Diese nahmen mich nach den Weihnachtsferien im Januar 1945 schließlich ebenfalls bei sich auf. So geriet ich wieder in geordnete Verhältnisse. Das Schuljahr dauerte nicht mehr lang. Schon im April sahen sich die Schüler nach Hause entlassen, weil die Front heranrückte. Nicht ungern verließen wir Bregenz mit dem Ziel Alberschwende, um bei den Unseren zu sein.

Der Krieg ging zu Ende und mit ihm das "Großdeutsche Reich". Was wir erlebt hatten, entsprach ganz und gar nicht jenen Vorstellungen, mit denen wir wenige Monate zuvor aus der Heimat westwärts gezogen waren. Den gepriesenen Zusammenhalt aller erfuhren wir nicht, vielleicht nicht mehr, wohl noch Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit einzelner. "Deutsches" Empfinden war allgemein geschwunden, im wiedererstehenden Österreich außer Kurs geraten, ja sogar verpönt. Als Widerstandskämpfer wollten auch solche gelten, die im letzten Augenblick noch auf deutsche Soldaten geschossen hatten. Solche "Heldentaten" blieben mir unbegreiflich.

Kurz vor Kriegsende folgten wir einem Aufruf, sich im Dorfzentrum von Alberschwende Lebensmittel abzuholen. Die vorhandenen Lagerbestände sollten vor dem Tag "X", der Besetzung durch fremde Truppen, an die Bevölkerung verteilt werden. Also machten auch wir uns - mein Vater mit seinen beiden Kindern - auf den Weg. Mit vollen Rucksäcken und Tragetaschen samt Kunsthonig in einer Milchkanne befanden wir uns bereits auf dem Heimweg, als französische Tiefflieger über uns hinwegfegten. Ihre Geschossgarben schlugen rechts und links von uns ein, dass die Steine auseinanderspritzten. Ehe wir Kinder uns des Vorgangs bewusst werden konnten, warf mein Vater sowohl meine Schwester als auch mich in den Straßengraben, bevor er selbst hinterhersprang. In wenigen Augenblicken war alles vorbei. Was hätte passieren können! Mit geringen Hautabschürfungen gelangten wir wohlbehalten nach Hause.

In den folgenden Tagen eroberten die Franzosen das "Ländle" Vorarlberg. Als Sturmtruppen setzten sie Marokkaner ein. Mädchen und Frauen mussten vor ihnen auf der Hut sein. "Vae victis" - wehe den Besiegten! Trotz aller traurigen Vorkommnisse befand sich Österreich in einer günstigeren Lage als Deutschland. Die alliierte Viermächtebesetzung endete nach zehnjähriger Dauer mit der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages. Da mein Vater als Tierarzt in Hittisau im mittleren Bregenzerwald dringend gebraucht und offiziell eingesetzt wurde, zogen wir zu fünft mit unserer Omi von Alberschwende nach Langenegg.

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