> Dorothea Günther: Deutsch-Französischer Jugendaustausch 1929

Dorothea Günther: Deutsch-Französischer Jugendaustausch 1929

Dieser Eintrag stammt von Dorothea Günther (*1914) aus Berlin, Juni 2010:

/lemo/bestand/objekt/guenther01 Meine Eltern waren politisch interessiert und bestrebt, uns Kindern so gute Chancen wie möglich zu eröffnen. So durfte ich im Sommer 1929 am ersten deutsch-französischen Jugendaustausch der "Deutschen Liga für Menschenrechte" teilnehmen. Für sechs Wochen ging es nach Frankreich. Vier Schüler aus meiner Schule waren mit dabei, geleitet wurde die Gruppe von unserem Direktor und meiner Französischlehrerin. Die Reise nach Paris zog sich zwei Tage und eine Nacht hin. Wir Schüler waren völlig unvorbereitet auf die französischen Sitten und Gebräuche.

Als ich endlich erschöpft und total übermüdet auf dem Bahnhof die Gastfamilie begrüßte, wurde ich sogleich zärtlich umarmt und mit einem Schwall unverständlicher Worte überschüttet. Leider fehlten mir die Vokabeln für den Alltag völlig. Auf der Taxifahrt über Neuilly nach Courbevoie wurde mir entsetzlich übel. Ich versuchte, der Familie klar zu machen, dass mir schlecht war, aber Mme. Fleury, die Gastmutter, verstand "mal au coeur". Und da war es schon geschehen, ich übergab mich heftig. Einen peinlicheren Auftakt konnte ich mir nicht vorstellen. Ich schämte mich schrecklich und wäre am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren. Außerdem war ich entsetzt, als ich mitbekam, dass ich mit der Tochter der Familie, Simone, in einem Bett schlafen sollte. Es war zwar ein französisches Bett, aber trotzdem sehr gewöhnungsbedürftig. In der Wohnung gab es kein Bad, die Gemeinschaftstoilette befand sich auf dem Flur. Zwar bemühten sich die Eltern, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, aber mit Simone verstand ich mich nicht besonders. Oft zankten wir uns, weil sie recht bequem war und versuchte, Arbeiten, die sie erledigen sollte, auf mich abzuschieben.

/lemo/bestand/objekt/guenther02 M. Fleury war ein überzeugter Sozialist. Er versuchte, politische Gespräche mit mir zu führen, was aber scheiterte, und zwar nicht nur wegen meines mangelnden Wortschatzes, sondern auch, weil ich politisch recht ahnungslos war und noch nicht mal die politische Einstellung meiner Eltern kannte. Unser Direx kümmerte sich wenig um uns. Der französische Außenminister Aristide Briand gab uns zu Ehren im Ministerium am Quai d'Orsai einen Abschiedsempfang. Von seiner Rede über Völkerverständigung bekam ich wenig mit, aber wir waren begeistert von dem wunderbaren Kalten Buffet, das im Garten des Ministeriums für uns aufgebaut war. Immerhin sprach ich fließend französisch, als ich schließlich, zusammen mit Simone, nach Berlin zurückkehrte. Unsere Familie bemühte sich eifrig um ihr Wohlergehen. Sie ließ sich gern mit Pflaumenkuchen und Bier verwöhnen. Zur Schule zu gehen und Deutsch zu lernen hatte sie keine Lust, sie blieb zu Hause und mein kleiner Bruder Rudi wurde ihr Spielkamerad. Mir blieb vor allem der Abschiedsempfang der französischen Schülergruppe im Außenministerium in der Wilhelmstraße in Erinnerung. Diesmal sprach Außenminister Severing und ich bekam ein wenig mehr mit von der Rede. Mehr als die Worte des Außenministers begeisterte uns wiederum das Kalte Buffet, es servierten Diener in weißer Galauniform mit Handschuhen.

Bei einem Tanzvergnügen hatte Simone einen jungen Juden, Herrn Katz, kennen gelernt. Wir gingen anschließend einige Male zu Dritt spazieren; ich vermute, er suchte Kontakt zu der Französin, um im Fall eines Wahlsieges der NSDAP Deutschland verlassen zu können. Als Simone abgereist war, ging ich weiterhin mit Herrn Katz spazieren, und dabei gelang es ihm, mich aus meinem politischen Dornröschenschlaf zu wecken. Er sah dem aufkommenden Nationalsozialismus mit Grauen entgegen und machte sich keine Illusionen darüber, welches Schicksal die Juden erleiden würden. Ich meinte, er übertriebe mit seinem Hass auf die Nazis, denn ich war davon geprägt, dass sich alle Parteien auf den Wahlplakaten gegenseitig verunglimpften und den Teufel an die Wand malten.

In dieser Zeit begann sich das geistige Klima in unserer Klasse zu wandeln. Ab und zu gab es im Geschichts- und im Deutschunterricht erregte Diskussionen, denn Margot Schäfer, eine Jüdin, war neu in unsere Klasse gekommen. Mich beeindruckte zunächst nur ihr Aussehen: dunkelbraunes, lockiges Haar, schwarze Augen, die bei aufregenden Diskussionen nur so sprühten. Bis dahin waren wir eine Schar von Backfischen gewesen, unpolitisch, friedlich und unkritisch. Brav um gute Noten bemüht, nahmen wir unseren Lehrern alles ab. Wenn uns beispielsweise der Geschichtslehrer Ursachen und Anlass des Ersten Weltkrieges erklärte, nahmen wir ihm alles ohne nachzufragen ab. Nicht so Margot Schäfer. Sie gehörte einem jüdischen Jugendbund an und war politisch geschult. Sie legte dar, dass historische Tatsachen gegen die Auffassung des Lehrers sprächen. Er war empört über so viel Aufsässigkeit. Von den Schülerinnen widersprach Margot nur Senta Terno, die stark rechts orientiert war. Sie ließ ihrem Antisemitismus freien Lauf. Diese Diskussionen gingen über den Horizont von uns anderen weit hinaus.

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