Dieser Eintrag stammt von Dorothea Günther (*1914) aus Berlin, Juni 2010:
/lemo/bestand/objekt/guenther12 Die Herbstferien verbrachten meine Schwester Hilde und ich gern bei den Verwandten in Guben, die eine Drogerie und Samenhandlung besaßen. Wir durften allein dorthin reisen, in der vierten Klasse im Abteil für Reisende mit Traglasten. Am Bahnhof wurden wir von den Vettern mit einem Handwagen abgeholt. Wenn die erste Scheu überwunden war, begann eine wunderschöne Zeit, denn wir hatten hier die Freiheit, zu tun und zu essen, was wir wollten. Wir tobten durch Haus und Speicher und durften naschen: Bonbons, Schokolade, Pfefferminz, Erdnüsse, an allem konnten wir uns im Laden bedienen, ohne zu fragen. Besonders gern half ich meiner Tante Röschen beim Verkaufen. Abends ging es ans Geld zählen. Im Herbst 1923 wurden täglich Milliarden eingenommen, dann sogar Billionen. Wir Kinder konnten mühelos mit diesen heute unvorstellbaren Summen umgehen. Entsprechende Geldscheine gab es bald nicht mehr, sondern aus alten Hunderter- und Tausenderscheinen wurden durch einen roten Aufdruck Millionen- und Milliardenscheine gemacht. Das Geld wurde nach dem Zählen gebündelt und in großen Taschen zur Bank gebracht.
Zu Hause machte uns die Hyperinflation das Leben schwer. Mein Vater, Gewerbeoberlehrer von Beruf, erhielt in dieser Zeit seine Gehaltszahlung täglich. Wenn er mittags mit einer Aktentasche voller Geldscheine nach Hause kam, lief Mutter sofort zum Kaufmann. Oft kam sie enttäuscht wieder, weil der Ladenbesitzer vor ihrer Nase die Rollläden heruntergelassen hatte: Mittagspause! Die nutzte er dann, um die Preisschilder zu ändern. Wären in dieser Zeit nicht ab und zu Lebensmittelpakete aus Guben gekommen, hätte es schlimm ausgesehen mit der Versorgung der fünfköpfigen Familie.
Tante Berta, eines der sechs Geschwister meiner Mutter, hatte in dieser Zeit ein schreckliches Erlebnis. Sie war ein herzensguter, hilfsbereiter Mensch, allerdings nicht mit geistigen Gaben oder praktischen Fähigkeiten gesegnet. Zu allem Übel war sie unverheiratet und damit gesellschaftlich nicht angesehen. Ihre Gutmütigkeit wurde von den Mitmenschen oft schamlos ausgenutzt. Berta hatte ihr Erbteil angelegt, indem sie den Geschwistern Geld lieh in Form von Hypotheken auf ihren Anteil an den Immobilien der Familie. Außerdem hatte sie Kriegsanleihen gezeichnet und Aktien gekauft. Diese Geldanlagen waren bereits kurz nach dem Krieg verloren, aber der Höhepunkt der Nackenschläge traf Berta, als Emma, eine der Schwestern, ihr das Geld für die Hypotheken ohne Vorankündigung im Jahr 1923 zurückzahlte. Weinend rannte Berta mit den Geldscheinen hinunter in den Laden zu ihrem Bruder Wilhelm. Und der verkaufte ihr für das Geld einen Salzhering. Dieser Hering wurde zu einer Legende in der Familiengeschichte.