> Dr. Hellmut Räuber: Der Griff nach der Jugend im Dritten Reich

Dr. Hellmut Räuber: Der Griff nach der Jugend im Dritten Reich

Dieser Eintrag von Dr. Hellmut Räuber (*1925) aus Leipzig von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

Genau so wie die Nazis das ganze zivile Leben durchsetzt und gleichgeschaltet hatten, unterwarfen sie auch die Jugend ihrem Zwangsystem. Kinderschar - Jungvolk - Hitlerjugend - Parteigenosse (PG), so sollte die Stufenleiter zum ergebenen Volksgenossen werden. In diese Reihenfolge wurde man im wahrsten Sinne des Wortes gepresst, auch wenn die Organisationen in einigen Fällen andere Namen hatten. Zum Beispiel waren auch SA- und SS-Leute treue Parteigenossen. Immer galt das Wort: "Meine Ehre ist die Treue".

Noch suchten meine Eltern danach, mich aus diesem Zwangssystem herauszuhalten. Sie meldeten mich als Mitglied des VdA an, einer Organisation, die sich um die deutschen Bürger im Ausland bemühte (Verein für das Deutschtum im Ausland). Deren Mitglieder fielen nicht durch braune oder schwarze Uniformen auf, hatten keine sichtbaren Dienstabzeichen und trugen natürlich auch nicht den Totenkopf an ihren Mützen wie die SS. Somit marschierte ich bei einem Aufmarsch mit einem weißen Hemd mit blauer Armbinde in der Kolonne. Noch heute sehe ich mich in diesem Aufzug in einem Fackelzug marschieren, der abends durch unser Wohngebiet zog.

Doch bereits kurze Zeit später überzeugte der Sohn unseres Fotografen die Eltern davon, dass ich auf diese Weise im NS-Staat keine Perspektive haben würde. Also wurde ich Mitglied des Jungvolkes. Ich wurde "Pimpf" und bekam eine schwarze Hose mit Koppel. Nach meiner Probezeit durfte ich an meinem braunen Hemd ein rotes Abzeichen mit weißer Siegrune (germanisches Siegeszeichen) annähen lassen. Als das meine Mutter aber falsch befestigte, schämte ich mich und forderte eine schnelle Veränderung. Von diesem Zeitpunkt an mussten wir jeden Sonnabend - am Staatsjugendtag - auf einem Schmuckplatz im nahen Marienbrunn in unserer braun-schwarzen Uniform exerzieren (Kriegsvorbereitung). Am den Mittwoch-Nachmittagen wurden wir dann in Heimabenden politisch ausgerichtet und über nationalsozialistisches Gedankengut informiert. Derartige Veranstaltungen wurden für Mädchen und Jungen durchgeführt.

"Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde" forderte der Führer (1937)

Wie freute ich mich, dass mich Mutter beim Jungvolk angemeldet hatte. Nur widerwillig hatte sie mir die "Siegrune" ans Braunhemd angenäht. Nun wurde alles nach dem Vorbild der mittelalterlichen Landsknechte vorbereitet und durchgeführt. Das macht sich besonders bei den sommerlichen "Großfahrten" bemerkbar. Der Tornister, den jeder Pimpf besaß, musste vorschriftsmäßig gepackt werden. An ihm war auf dem Rücken das Kochgeschirr angeschnallt. Die Zeltbahn wurde vorschriftsmäßig gefaltet und gerollt und mit Lederriemen am Rande des Tornisters angebracht. Ihre Enden mussten genau mit dessen Rand abschließen. Bei Appellen wurde immer wieder auf Exaktheit geprüft. Bald hatten wir von diesem sturen Drill alle die Nase voll. Doch im Lager unterlagen wir weiteren Schikanen.

Zu Beginn unserer Großfahrt auf dem Zeltplatz angekommen, wurden mit den eigenen Zeltplanen spitze Zelte zusammen geknöpft und aufgebaut. Das Innere dieser primitiven Unterkünfte wurde mit Stroh ausgepolstert. Frühmorgens hingen dann immer Strohhalme an unseren Uniformen. Diese mussten ausgebürstet werden und lagen dann auf dem Zeltplatz herum. Also war das Strohaufklauben dann nach der obligatorischen Morgengymnastik eine wenig angenehme Beschäftigung.

Der Tagesablauf wurde mit Fanfarensignalen geregelt. Zum Mittagessen wurden wir zum Beispiel mit der Melodie: "Kartoffelsupp´, Kartoffelsupp´, Kartoffelsupp´, - und sonntags Möhr´n" zur Gulaschkanone gerufen. Dort wurde der "Fraß" in unsere gut ausgespülten Kochgeschirre eingefüllt. Zum Essen saß die ganze Zeltbesatzung in einem Kreis. Nach einem deftigen Tischspruch, zum Beispiel: "Es isst der Mensch, es frisst das Pferd, doch heute ist es umgekehrt" und einem kräftigen "Gut Fraß!" konnten wir dann endlich unseren Hunger stillen.

Die Freilufttoiletten waren als Donnerbalken konstruiert und von hinten gut einzusehen. Wer sich tagsüber als "Feigling" zeigte oder eine nicht geduldete Meinung äußerte, wurde in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Ihm wurde die Hose herunter gezogen und das blanke Hinterteil mit schwarzer Schuhcreme eingeschmiert. Anschließend wurde ihm dann der Po, mit der Bürste, mit dem wir unser Koppel wienern mussten, auf Hochglanz poliert. Am nächsten Morgen musste er dann unter dem Gejohle der "Kameraden" die schwarze, tief eingefressene Schicht von seinem Po an der offenen und für alle einsehbaren Wasserstelle mit kaltem Wasser abbürsten. Dabei wurde die Haut zunehmend rot.


Landsknechte

Die raue, landsknechtsmäßige Behandlung wurde von den vorgesetzten Führern gezielt eingesetzt. Das zeigten auch die Lieder, die wir einübten. Beim Marschieren in Kolonnen zogen wir hinter den schwarzen Landsknechtstrommeln durch die Leipzigs Straßen. Dumpf hallte ihr Klang von den Häusern zurück: Bumm, -, bumm -, bumm bumm, bumm. Und bei großen Aufmärschen wurde dann der Spektakel durch den hellen Klang der Fanfarenzüge ergänzt. Selbstverständlich waren die Trommel und die Fahnen, schwarz gefärbt und mit dem Zeichen des Jungvolkes, der "Siegrune" geziert.

Wir sangen dann auch Landsknecht-Lieder, zum Beispiel von "Frundsbergs rauhem Haufen" und von der Glocke, die vom Bernhardsturm "stürmte" und vom "Urhorn, das nach Blut lechzte und wimmerte, dass Gott genade." Doch es gab auch ganz aktuelle Lieder wie: "Es zittern die morschen Knochen, der Welt vor dem großen Krieg. Wir haben den Schrecken gebrochen, für uns war´s ein großer Sieg. Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt." Eigentlich hieß es ja: "und heute da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Aber niemand störte sich an unserer "Umdichtung" zum Kampflied.


Verein Dampfcasino (1942)

Zunächst aber konnte ich mich der Begeisterung bestimmter Bevölkerungsschichten nicht ganz entziehen. Um in meiner Schulklasse bestehen zu können und weil ich beabsichtigte, Medizin zu studieren, me1dete ich mich zu einem "Feldscher-Kurs" (Feldscher; Begriff der Landsknecht-Sprache = Sanitäter). Das war nur bei einem Lehrgang der HJ möglich, brachte mir aber ein Abzeichen an der Uniform ein, das recht dekorativ aussah und Achtung abnötigte.

Unser HJ-Führer wollte mit seinem Feldscher-Jungzug Aufmerksamkeit bei den Fabrikanten erregen, die als Mitglieder dem Verein "Dampfcasino" angehörten und auch im Krieg ein sorgenfreies Leben führten. So zogen wir an einem sonnigen Tag singend durch die Straßen des Leipziger Ostens. Wir stimmten mit Begeisterung das Lettow-Vorbeck-Lied an: "Wie oft sind wir geschritten, auf schmalem Negerpfad. Wohl durch der Steppen Mitten, wenn früh der Morgen naht. Wie lauschten wir dem Sange, dem weit vertrauten Klange der Träger und Askari, heia, heia Saffarie. Romantik pur, obwohl bei diesem grausamen Kolonialkrieg ganze Negerstämme in die Wüste vertrieben wurden, um dort mit Frauen und Kindern jämmerlich zu verdursten.

Im Festsaal des Casinos saß man wie in Friedenszeiten bei Braten, Wein und Schnaps zusammen, während die Bevölkerung bereits darbte. Das sah ich mit sehr kritischen Augen Doch Zeit zur Überlegung blieb nicht, wir mussten auch hier unter anderem das "Lettow-Vorbeck-Lied" vortragen. Nach dieser "kulturellen" Vorbereitung baten die älteren Herren ihre jungen Begleiterinnen zum Tanz. Wie es weiter ging? Das Fragen war für mich überflüssig, da ich erfuhr, wie mein "Kamerad" vor dem Zimmer des schmucken HJ-Zugführers als dessen Adjutant Wache schob, damit dieser nicht bei seinen sexuellen Eskapaden mit den jungen Damen seines Standes überrascht wurde.

Uns Jungen, die nicht zu den "privilegierten Familien" gehörten, standen aber solche "Vergnügungen" nicht zu. Wir durften zwar noch bis 1942 die Tanzstunde besuchen. Einem Klavierspieler war genehmigt worden, mit den entsprechenden Tanzmelodien unsere ersten Schritte auf dem Parkett zu bekleiden. Unsere Tanzstundendamen durften uns Kuchen anbieten, den sie aus Mehl zubereitet hatten, das sie auf ihre Lebensmittelkarten bezogen hatten.

lo