> Dr. Hellmut Räuber: Kinderleichen 1945

Dr. Hellmut Räuber: Kinderleichen 1945

Dieser Eintrag von Dr. Hellmut Räuber (*1925) aus Leipzig von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

Egon Erwin Kisch, der "Rasende Reporter", betitelte den Bericht von einem Besuch im Prager kriminaltechnologischen Institut mit der reißerischer Überschrift: "In jedem Schubfach eine Leiche". Dieser Titel wurde also schon vergeben, so dass seine Nutzung ein Plagiat wäre. Aber sie würde auch auf das Kieler Institut zutreffen, in dem ich meinen Einsatz absolvieren musste, um meine Genehmigung zum Medizinstudium zu erhalten. Ersetzen wir also "Schubfach" durch "Behälter". Und damit sind wir also bei den Tatsachen. Denn in einem Behälter im Leichenraum steckten - gut gekühlt - immer einige Leichen kleiner Kinder, meist von neugeborenen Wesen. Woher kamen diese?

Man muss sich in die Zeit kurz nach der totalen Kapitulation der deutschen Armee versetzen. Viele Menschen waren aus den Ostgebieten des "Deutschen Reiches" geflohen. Oft im letzten Augenblick vor den von der NS-Propaganda als Bestien bezeichneten Rotarmisten. Ich habe noch ein Propagandabild der Goebbelsschen Ära vor meinen inneren Augen. Es hing auf Sylt in unserer Unterkunft dicht neben den Spinden, in denen die Mäuse nach der letzten organischen Nahrung suchten. Es zeigte einen zähnefletschenden asiatischen Typ mit dem Sowjetstern an der Kappe, zwischen seinen Zähnen ein bluttriefendes Messer. So stürzte er sich auf ein Mädchen, das sich zitternd seinen Griffen entziehen wollte.

Dazu kam, dass sich von der Front her Meldungen verbreiteten, die von Gräueltaten berichten. Wenn auch vieles übertrieben war, die Meldungen erfüllten ihren Zweck. Die Menschen flohen in Scharen aus ihren Höfen. 2,5 Millionen Menschen flohen über die Ostsee. Die deutsche Kriegsmarine setzte 1 000 Handels- und Kriegsschiffe ein. Über 200 Schiffe sanken durch Minen und Angriffe und rissen 40 000 Menschen in den Tod. Andere hatten das Glück, die schützenden Häfen im deutschen Reichsgebiet zu erreichen Viele Schiffe setzten die Flüchtlinge in Kiel an Land ab. Sie hatten aber keine Verpflegung gebunkert. Unter ihnen befanden sich auch schwangere Frauen. Sie litten wie alle anderen "Fahrgäste" unter Hunger. Teilweise hatten sie auf der Fahrt unter den primitivsten Bedingungen entbundenen. Die ausgemergelten Brüste gaben kaum noch Milch. Das Hafenbecken war nahe. Und der Tod der Kleinen verlief im Wasser schmerzlos. Wer konnte den Frauen diese Lösung verübeln?

Doch die Behörden waren auch nach der Kapitulation von einem angeborenen Ordnungssinn durchdrungen. Als die Leichen wieder an die Wasseroberfläche des Hafenbeckens kamen, wurden sie aufgefischt und nicht vergraben, sondern ordnungsgemäß aufbewahrt - bis sie in der Gerichtsmedizin seziert werden konnten und die kleinen Lungen der Schwimmprobe unterzogen worden waren. Damit man sehen konnte, ob sie geatmet hatten. Dann endlich wurden die Säuglingsleichen in einem Eimer verstaut und entsorgt. Ich musste dort mit tätig sein und kann bis heute die Situation nicht vergessen. Aber zerschnittene Säuglinge?

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