Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried G. Lion aus Wienhausen, Dezember 2011:
Dies ist ein Auszug aus den Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters Ernst Wedemann (1867-1958), Pfarrer in Kairo von 1893-1903 (geschrieben 1948-1953):
Der 31. Oktober brachte der Stadt Jerusalem die festlich bewegte Stunde. Wir Orientpfarrer hatten das Glück, die Vorgänge vor und in der Kirche aus allernächster Nähe zu beobachten. Man hatte uns die Aufgabe gestellt, beim Einzug in die zu weihende Kirche die Spitze zu bilden. Jedem war eins der kirchlichen Geräte, der "Vasa sacar", in die Hand gegeben, die dann von uns auf den Altar hingestellt werden sollten. Vor der noch geschlossenen Tür der Kirche versammelten sich allerlei interessante Leute zum Empfang des Kaiserpaares, die natürlich alle in unserer unmittelbaren Nähe standen. Man sah viel Galauniformen der Ritter des Johanniterordens, Damen der deutschen Kolonie, kleine Mädchen mit Blumensträußchen. Uns Pfarrer interessierte es besonders, als der bekannte Hofprediger des Kaisers Dr. Dryander erschien und sich zu uns stellte. Der viel geplagte Mann war wohl mit dem Memorieren seiner Ansprache noch nicht ganz fertig geworden. Er zog sein Konzept aus der Talartasche und las es noch einmal aufmerksam durch. Zwischendurch rückte die Marinekapelle der kaiserlichen Jacht an, um beim Gottesdienst mitzuwirken.
Pünktlich erschien das Kaiserpaar, wurde begrüßt, nahm huldvoll die Blumensträußchen aus den Händen der Kinder. Die Tür der Kirche tat sich auf, wir Pfarrer zogen als die ersten hinein, danach Dryander mit dem Pastor Loci, Pfarrer Hoppe, das Kaiserpaar, hinter ihm ein großer Strom von Festteilnehmern, der in wenigen Minuten die Kirche bis auf den letzten Platz füllte. Wir Pfarrer hatten Aufstellung genommen in der Rundung der Apsis um den Altar herum. Das hatte den großen Vorteil, dass wir alles gut sehen konnten, aber den Nachteil, dass wir die ganze Feier über stehen mussten. Der Kaiser saß mir schräg gegenüber. Freund Keller bewies durch das Vorspiel während des Einzuges, dass er seiner Aufgabe voll und ganz gewachsen war. Wir benutzen die Zeit, in der die Gemeinde die Plätze einnimmt, um einige Worte über den Bau der Erlöserkirche zu sagen.
Die Kirche steht mitten in der Stadt, nicht weit von der Grabeskirche. Sie ist errichtet auf den Grundmauern einer alten Marienkirche aus katholischer Zeit, der "Maria latina marjo". Dies Gebundensein an den alten Grundplan hat zur Folge gehabt, dass die Erlöserkirche als evangelische Predigtkirche etwas zu groß und die Akustik der Kirche schlecht ist. Man hat diesem Mangel dadurch abzuhelfen versucht, dass man in halber Höhe durch die Kirche hindurch Netze gespannt hat, welche den Ton festhalten sollen, damit er nicht in den hohen Gewölben verhallt. Die Erlöserkirche ist also zweifellos ein repräsentativer Bau von großer architektonischer Schönheit, aber wie gesagt, für die sonntäglichen Gottesdienste einer verhältnismäßig kleinen evangelischen Gemeinde zu groß und ungemütlich. Damals freilich, als eine gewaltige Gemeinde sie füllte, machte sie einen gewaltigen Eindruck. Dr. Dryander hielt nun die Weiherede und vollzog die Weihe der neuen Kirche. Ich erinnere mich, dass das, was Dryander sagte, sehr gediegen und eindrucksvoll war.
Nach der Weihe und der Eingangsliturgie hielt Pfarrer Hoppe die Festpredigt. Er hatte seine Gedanken in 3 Gruppen eingeteilt. Als er mit dem ersten Teil fertig war, hätte er schließen müssen. Die Umgebung des Kaisers wurde unruhig, ein Hofmann zeigte dem Prediger die Uhr. Der Kaiser liebte kurze, kräftige, inhaltreiche Predigten von etwa 20 höchstens 30 Minuten. Aber in diesem Fall hat er sich in das Unvermeidliche geduldig gefügt. Nach der Predigt und einem nachfolgenden Liedervers stand der Kaiser auf, trat vor die Altarstufen zu einem bereitgestellten Pult und verlas eine sehr eindrucksvolle Kundgebung an die evangelische Christenheit, sich in all ihrem Handeln unter den Willen Gottes und seines Sohnes Jesu Christi zu stellen. Nach diesem schönen und mannhaften Bekenntnis zum christlichen Glauben, der allein der Welt Heil bringen kann, war nun die rechte Stelle für das gewaltigste Lied, das der Christenheit geschenkt worden ist. Die Antwort der versammelten Gemeinde konnte nicht anders lauten als "Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen". Und wie wurde dies Lied in jener unvergesslichen Stunde gesungen! Ohne Aufforderung stand die ganze Gemeinde auf, die Türen der Kirche wurden geöffnet, damit auch die draußen Stehenden an diesem Höhepunkt der Feier teilnehmen konnten, die Glocken im Turm stimmten mit ihrem volltönenden Geläut mit ein, Freund Keller zog alle Register der starken Orgel, die Marinekapelle des Kaisers, die neben der Orgel stand, begleitete den Gesang mit ganzer Lungenkraft, die Gemeinde, mitgerissen, sang aus voller Kraft mit. Nie wieder habe ich in meinem Leben die Macht dieses Lutherliedes so empfunden wie bei jener Feier in Jerusalem. Die Einheimischen draußen sagten nachher, so etwas Schönes und Gewaltiges hätten sie noch nie in ihrem Leben gehört. Der Gesang wäre weithin über die Stadt Jerusalem zu hören gewesen und hätte Staunen und Bewunderung erweckt.