> Dr. Siegfried G. Lion: Über die Entstehung der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo

Dr. Siegfried G. Lion: Über die Entstehung der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo

Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried G. Lion aus Wienhausen, Dezember 2011:

Dieser Text ist ein Auszug aus den Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters Ernst Wedemann (1867-1958), Pfarrer in Kairo von 1893-1903 (geschrieben 1948-1953):

Eine evangelische Gemeinde im Ausland entsteht wie eine Frucht, die aus einem Samenkorn heranreift, also aus kleinen Anfängen. So ist auch die Evangelische Gemeinde Kairo entstanden. Ihre Entstehungsgeschichte ist sehr interessant. Diese Geschichte hängt eng zusammen mit der Missionsgeschichte. In Süddeutschland nahe der Schweizer Grenze gab es eine Anstalt zur Ausbildung von Evangelistenpredigern und Arbeitern im Reich Gottes. Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde diese Anstalt, die den Namen Crischona hatte, von einem ehrwürdigen und reich gesegneten Manne namens "Vater Spitteler" geleitet. Spitteler hatte davon gehört, dass in Nord-Afrika in der gewaltigen Bergwelt von Abessinien eine uralte christliche Kirche sich befinde, die aber seit mehr als tausendzweihundert Jahren von der Christenheit durch die Mohammedaner getrennt wie eine einsame Insel im großen Ozean der moslemischen Völkerwelt ihr Dasein fristen musste. Durch ihre Isolierung war sie erstarrt und ohne geistliches Leben.

Dieser alten verknöcherten christlichen Kirche wollte Spitteler das Evangelium bringen. Zur Erfüllung dieses Planes hatte er einen ganz eigenartigen Weg ersonnen, er wollte die abessinische Kirche mit der lebendigen Kirche des Evangeliums in Deutschland verbinden durch eine Strasse, aber eine Straße eigner Art, eine lebendige Straße. Crischona sollte mit Abessinien verbunden werden durch eine lange Kette von Stationen. In jeder Station war ein Crischona-Bruder, der die Aufgabe hatte, die Brüder, welche auf der Reise nach Abessinien waren, geistlich und leiblich zu stärken, für sie zu sorgen. Der alte Spitteler nannte diese Straße, die "Apostelstrasse" weil er meinte, die Apostel hätten es auch so gemacht, als sie im Gehorsam gegen den Missionsbefehl ihres Meisters in die Welt hinauszogen, um alle Völker zu seinen Jüngern zu machen. Eine der vielen Stationen auf dem weiten Weg von Crischona nach Abessinien sollte nun auch Kairo sein. Von hier sollte die Reise den Nil aufwärts nach Abessinien fortgesetzt werden.

So wurde denn um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Kairo eine Station der Apostelstraße eingerichtet und mit einem Prediger namens Stamm besetzt. Jede Station sollte ein Brennpunkt geistlichen Lebens werden. Da war es denn eine natürliche Folge, dass Brüder die wenigen deutschen Landsleute, die als Kaufleute, Handwerker, Ärzte u.d.gl. dort wohnten, seelsorgerisch betreuten, und ihnen Andachten in deutscher Sprache hielten. Das war der Anfang der Evangelischen Deutschen Gemeinde in Kairo. Als Deutschland allmählich unter der genialen Leitung v. Bismarck zu einer bedeutenden Macht in Europa wurde, wuchs auch die Zahl der Deutschen im Auslande. Als es in Kairo bekannt wurde, dass zur Einweihung des Suez-Kanals der preußische Kronprinz nach Kairo kommen würde, da entstand der Plan, eine Deutsche Evangelische Gemeinde zu begründen und ihr eine Kirche zu bauen. Als der damals herrschende Khediv davon hörte, schenkte er den Deutschen in dem nach seinem Namen genanten Stadtteil Ismaelijeh in sehr guter Lage ein großes Grundstück unter der einzigen Bedingung, dass in etwa zwei Jahren die geplanten Gebäude darauf errichtet würden.

Als nun Kronprinz Friedrich-Wilhelm im Jahre 1869 zu den Einweihungsfeierlichkeiten in Ägypten eintraf, hat er den Grundstein zu der kleinen evangelischen Kirche gelegt, in der ich später 10 Jahre hindurch die Gottesdienste der Gemeinde gehalten habe. Die Gemeinde wurde konstituiert, stellte sich unter den Oberkirchenrat in Berlin und begann mit dem Bau der Kirche. In weiser Voraussicht der kommenden Entwicklung wurden neben der Kirche ein Pfarrhaus und Räume für eine zu begründende deutsche Schule errichtet. Als die Gebäude unter Dach waren, schickte der Oberkirchenrat den ersten deutschen Pfarrer nach Kairo, einen Thüringer, Dr. Trautvetter, den späteren Generalsuperintendent von Schwarzburg - Rudolfstadt. Er hatte die deutsche Schule eingerichtet und eröffnet. Im rechten Winkel zur Kirche stand ein recht stattliches Gebäude, dessen untere Räume als Klassenzimmer dienen sollten, während im ersten Stockwerk die eine Hälfte zur Pfarrwohnung, die andere zu Lehrerwohnungen bestimmt war. Der als Schulhof ausersehene Platz wurde mit mehreren Dattelpalmen bepflanzt, um die Kirche herum wurde ein schöner Garten angelegt mit vielen Sträuchern, Blumenbeeten und seltenen Bäumen. Darunter befanden sich eine Sagopalme mit ganz glattem Stamm und ein echter Gummibaum, den ein alter Freund der Gemeinde, der weltberühmte Afrika-Forscher Prof. Dr. Schweinfurth geschenkt hatte. Auch zu meiner Zeit hat Schweinfurth mehrmals die Wintermonate in Kairo zugebracht. Die Stunden, die wir miteinander verlebten, gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.

Die Straße in welcher unsere Kirche lag, hieß Sharia-Maghrabi. In der Nähe befand sich der Opernplatz mit dem berühmten Ezbikieh-Garten, in welchem die Flora des Orients fast vollständig vertreten war. Am Rande des Opernplatzes standen das Opernhaus, ein großes Hotel, Hotel Continental, und besonders schöne Miethäuser. Die Kosten für den Kirchenbau konnten natürlich von der kleinen evangelischen Gemeinde nicht aufgebracht werden. Zum Ruhm der Hohenzollern kann gesagt werden, dass König Wilhelm der Gemeinde mit einer großen Beihilfe unter die Arme gegriffen hat. Er hat meines Wissens etwa 3.000 Mark beigesteuert. Natürlich trat auch der große treue Helfer der Diaspora auf den Plan, der Gustav-Adolf-Verein, der fortlaufend eine Beihilfe zur Aufbringung des Pfarrgehaltes gezahlt hat. Ich kam als der vierte Pfarrer nach Kairo. Meine Vorgänger waren: Dr. Trautvetter, Martin Graeber, Friedrich Boit. Mein Vorgänger, Pfarrer Boit, ging als Botschafts-Pfarrer nach Lissabon.

Die Gemeinde, der ich zu dienen hatte, bestand zum größten Teil natürlich aus Deutschen, Beamten des Generalkonsulates und des Konsulates, Kaufleuten, großen und kleinen Ärzten, Hoteliers, Kellnern, Handwerkern usw. Zu diesen ständigen Gemeindegliedern kam im Winter hinzu eine recht große Kurgemeinde und Reisende aller Art. Die ständige, also in Kairo ansässige Gemeinde zählte etwa 600 Seelen. Alle evangelischen Deutsch sprechenden Leute gehörten ihr an, also in großer Mehrheit Deutsche, danach Deutsch-Schweizer, vereinzelt Österreicher, Holländer und Balten. Lose an unsere Gemeinde angeschlossen waren die Evangelischen mit französischer Muttersprache, also französische Schweizer und Franzosen. Da ihre Zahl etwa 100 Seelen betrug, hatten sie darum gebeten, dass monatlich ein Gottesdienst in französischer Sprache von den Geistlichen gehalten werden möchte. Das hatte die Gemeinde ihnen zugestanden. Dafür musste der Kairener Pfarrer die französische Sprache beherrschen. Wie weit reichte denn das Gebiet seiner Gemeinde? Es gab in ganz Ägypten nur zwei deutsche Pfarrer, einen in Alexandrien, den zweiten in Kairo. Ägypten musste also unter diese verteilt werden. Das Delta von der ersten Nilsperre, barrage du Nil in Kalioub, an fiel sinngemäß dem Pfarrer in Alexandrien zu, dgl. Port-Said am Suez-Kanal. So hatte der Kairener Pfarrer die Städte Ismailija und Suez am Kanal, dann von Kairo nach Süden das gewaltige Gebiet bis Assuan. Ich habe im Laufe der Zeit feststellen können, dass es ganz zerstreut im Lande in den kleinen Städten, ja Dörfern mehr deutsch sprechende Evangelische gab, als man vermuten konnte. Ich habe manche sehr interessante Fahrt ins Innere des Landes machen können zu Trauungen, Taufen und dgl. Die Zahl der Evangelischen fiel statistisch nicht ins Gewicht, aber es waren doch eben auch Seelen, die versorgt werden wollten.

Unser Kirchlein war sauber und schmuck. Ich habe Photographien von der Kirche im Weihnachtsschmuck mitgebracht, die leider auch den Russen zum Opfer gefallen sind. Da standen im Altarraum 2 Weihnachtsbäume, die auf einem Dampfer vom Karst bei Triest nach Ägypten gebracht worden waren, schöne Bäume. Watte auf den Bäumen stellte den Schnee dar, der in Ägypten ganz unbekannt ist. Bei dem langen Transport wurden die Bäume natürlich etwas trocken. Zu Weihnachten wollte die Gemeinde doch aber auch reichen Kerzenschmuck auf den Bäumen haben. Um einen Brand zu verhüten, musste daher hinter den Bäumen unser treuer Türhüter, Poab Daoud, mit seinem kohlschwarzen Nubiergesicht Wache stehen. Man sieht sein Gesicht, einen Stab in der der Hand, an dem Stab befestigt ein Schwamm, zu seinen Füssen einen Eimer mit Wasser. Ein oder zwei Mal hat er die Feier vor einer Störung durch Brand bewahren können. Bei besonderen Anlässen wurde der Raum um Altar und Kanzel in einen Garten verwandelt durch Pflanzen und Bäume und Blumen aller Art. Auf einer Empore stand zur Begleitung der Choräle ein Harmonium, das ich später durch ein sehr klangvolles Orgel-Pedal-Harmonium ersetzt habe, mit dessen Hilfe wir schöne musikalische Feierstunden mit Gesang, Geige und Violoncello veranstalten konnten.

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