> Dr. Siegfried G. Lion: Unsere Flucht aus Vollmarstein (Kreis Sensburg) in Ostpreußen

Dr. Siegfried G. Lion: Unsere Flucht aus Vollmarstein (Kreis Sensburg) in Ostpreußen

Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried G. Lion aus Wienhausen, Dezember 2011:

Dieser Bericht stammt von Helga, geschrieben 1983:

Der Winter 1944/45 war zuerst nicht sehr hart. Etwas Schnee lag auf den Feldern. Meine Schwester Herta war schon lange mit ihren drei kleinen Kindern und Emmi mit der Eisenbahn in den Westen gefahren und in Sicherheit. Ich hatte meine Ausbildung in Berlin (1943 und 1944) beendet und kam Anfang Dezember 1944 zu meiner Mutter und Schwester Frida-Irene nach Vollmarstein. Wir feierten das letzte Weihnachtsfest in der Heimat. Leisen Geschützdonner von der näher rückenden Front hörte man schon lange, aber da sich überall noch Soldaten aufhielten, ging jeder ruhig seiner Arbeit nach. In unserem Gutshaus wohnten seit etwa einen halben Jahr mehrere Flüchtlingsfamilien - 30 bis 60 Personen - , die aus weiter östlichen und südlichen Gebieten stammten. Außerdem lagen in den letzten Tagen viele verwundete Soldaten in unserem Hause, jeder Raum war voller Menschen.

Nach Anweisungen meiner Mutter machten unsere Leute die Fluchtwagen bereit. Je zwei Familien bekamen einen Wagen mit Pferden zugeteilt, die sie sich so gut es ging einrichten konnten. Die Männer hatten viele Kisten gezimmert, alle schmal und handlich, für ihre Familien und für uns. Jeder durfte seine persönlich wichtigen Sachen, Bücher und Alben, Geschirr, Gläser, das Silber usw. hineinlegen. Vieles von dem, was wertvoll war und was wir gerne mitnehmen wollten, wurde ordentlich eingewickelt und hineingepackt. In der Diele (Halle) vor der zweiten Haustür stapelten sich die fertigen Kisten immer höher. Dann erhielt jeder von uns dreien einen großen und einen kleinen Koffer für Kleidung und etwas Leib- und Bettwäsche. Der kleine Koffer musste besonders sorgfältig gefüllt werden, denn falls wir unterwegs aussteigen müssten, sollte jeder ein Paar Schuhe und nötigste Sachen mitnehmen können. Außerdem hatten wir für Federbetten große Taschen angefertigt. Wir mussten natürlich auch an Futter für die Pferde denken, an Essen für uns und den Franzosen, der unser Kutscher war, und an Platz für sein Gepäck.

Am Nachmittag vor dem Fluchtmorgen beluden wir unseren Wagen. Zuerst wurden zwei maßgerechte Kisten als Sitzbänke hineingestellt, dann die Koffer, die Taschen mit den Federbetten, das Gepäck des Franzosen, Säcke mit Pferdefutter, eine Kanne mit Honig, etwas Schinken und Würste, fertige Butterbrote, die bald hart gefroren und dennoch das beste Essen waren, das man sich denken konnte. Auf die Kisten legten wir Matratzen und eine Pelzdecke, und zum Schluss wurde ein Teppich über Rundbögen befestigt. Aber die vielen Kisten mit unseren Büchern, den Gläsern und den anderen schönen Dingen mussten in der Diele stehen bleiben, weil der Wagen schon vorher überladen war. Meine Mutter und ich schliefen etwas die letzte Nacht, meine Schwester hielt Telefonwache mit einigen Offizieren.

In der Nacht zum 25. Januar kam der erwartete Anruf, der Befehl zur Flucht. Die Sowjetpanzer standen schon in Nikolaiken, 12 km von uns entfernt, wurden dort durch gesprengte Brücken noch etwas aufgehalten. Meine Schwester weckte uns, ging zu unseren Flüchtlingen im Hause und zu den Familien in unseren Leutehäusern. Sie sollten die Pferde füttern und sich mit ihren Fluchwagen auf dem Hof versammeln.

Trotz der Angst vor den Russen war die Trennung von Vollmarstein so furchtbar, so unfassbar, unglaublich, unwirklich, dass wir wie im Traum das Haus verließen. Wir gingen durch ein Spalier von Soldaten und Offizieren. Sie starrten uns an, und in ihren ernsten Gesichtern sahen wir tiefe Erschütterung, ehrfürchtiges Mitleid mit einer Familie, deren Welt jetzt zusammenbrach, die Flucht, Verfolgung, Angst und Elend und vermutlich Marter und den Tod vor sich hatte. Es war ein Aufbruch in grauenvolle Ungewissheit.

Als es hell wurde, fuhren wir los bei Schneetreiben und 10 Grad Kälte. Zu unserem Treck gehörten außer den Vollmarsteiner Wagen die der Güter Kuppenhof und Hoverbeck und die Wagen des Dorfes Hoverbeck. Unser Fluchtweg war festgelegt. Wir sollten durch unseren Wald fahren und über Kuppenhof weiter nach Norden Richtung Heiligelinde und Rößel, also Sensburg umfahren.

Kurz vor der Abzweigung zum Wald bemerkte meine Mutter, dass wir den Kanister mit Petroleum für die Wagenlampen in der Diele bei den übrigen Kisten vergessen hatten. Meine Schwester ging zurück, um ihn zu holen. Auf unserem Hof war schon ein großes Durcheinander und Geschrei. Die Kühe brüllten, die Schweine wurden abgestochen, das Geflügel gejagt und eingefangen, Auch im Hause erschrak sie sehr, alle Schränke waren geöffnet und durchsucht - ein Chaos -. Der Kanister stand nicht mehr da, so ging sie langsam die Freitreppe hinunter, nahm nochmals schmerzlichen Abschied - für immer.

Gleich hinter unserem Wald war unser Wagen in einem verschneiten Hohlweg stecken geblieben - dann rissen die Sielen - einer der Männer musste zurück, fand aber nur noch schlechte Geschirre und Riemen. Nachdem der Wagen freigeschaufelt und in Ordnung gebracht war, ging es weiter, jetzt aber über die kahl gewehten Felder. Auf Kuppenhofer Gelände trafen wir mit dem Hoverbecker Treck zusammen. Eine Nachbarin fuhr mit ihren Söhnen in einem Kutschwagen mit wenig Gepäck. Ihre ganze Habe befand sich auf einem Leiterwagen. Im tiefen Schnee aber war dieser Gepäckwagen zusammengebrochen und lag im Graben. Unser erstes Quartier hatten wir bei Kreisjägermeister Schwarz. Dort hofften die Leute noch, dass die Russen zurückgeschlagen würden, und hatten nichts für ihre Flucht vorbereitet. Wir ließen einen Marmeladeneimer voller Eier da zurück, weil sie gefroren und geplatzt waren.

Die erste Nacht unserer Flucht schliefen wir, wenn auch sehr beengt, weil alle anderen Räume schon belegt waren, so doch im Hause von Bekannten und hatten ein Dach über dem Kopf. Wir saßen abends noch lange zusammen mit Familie Schwarz, einem Nachbarehepaar und mehreren Offizieren. Es war ein letztes Abschiedsbeisammensein in der Heimat, wir sangen: "Land der dunklen Wälder" und andere Heimatlieder.

Viele Soldaten und Offiziere waren auch in diesem Ort versammelt. Sie sprachen von dem geplanten Durchbruch der 4. Armee zwischen Elbing und Danzig, der auch vorübergehend gelang und unzähligen Menschen die Flucht in den Westen ermöglichte. Später war auch dieser Weg endgültig versperrt, Militär und Bevölkerung befanden sich im Kessel. Am nächsten Morgen, dem 26.01., war es kälter geworden. Starke Schneestürme behinderten die Sicht. Wir trafen mit den Sensburgern zusammen. In der grimmigen Kälte gingen sie zu Fuß mit beladenen Handwagen, Rodelschlitten, Kinderwagen und Fahrrädern. Meine Schwester sah ihren früheren Lehrer Dr. Liedke und half ihm, einige Kilometer weit, seinen Schlitten zu ziehen. Dann musste sie zurückbleiben, weil die Fußgänger schneller voran kamen als die Fluchtwagen. Viele Sensburger waren zu Hause geblieben, wollten lieber von den Sowjets "überrollt" werden als im knietiefen Schnee in Hunger und Kälte vielleicht auf den Landstrassen umkommen.

Wir fuhren zur nächsten Station nach Heiligelinde, wo wir auf einem freien Platz vor der berühmten Kirche übernachteten. Die Flüchtlingstrecks mussten auf Nebenstrassen und verschneiten Feld- und Waldwegen fahren, denn die Hauptstrassen waren voller Militär oder auch schon von Russen befahren.

Damit sich die nachfolgenden Sowjets schlechter orientieren konnten, waren Ortsnamen und Wegweiser von den Strassen entfernt worden. Im Ostpreußischen Kessel wurden die Trecks hin und her geleitet. Wir waren von unseren anderen Vollmarsteiner Wagen bald getrennt und wussten nicht, in welchem Ort wir uns befanden, kannten nicht das Datum und den Wochentag. Die Essenvorräte waren nach einigen Wochen verbraucht, Brot und Wurst hatten wir unserem Franzosen gegeben, aßen selbst nur etwas Honig und Schnee. Gegen die Kälte, bis zu -25 Grad, und das Schneetreiben bedeckten wir unsere Pferde mit Steppdecken, konnten ihnen aber nur wenig Futter geben. Viele Leute gingen zu Fuß, einige mit Handwagen und Schlitten. Oft sahen wir tote Pferde am Straßenrand und auch tote Menschen. Man vergrub sie in einer flachen Mulde oder im Schnee, oder man nahm seine lieben Toten tagelang und wochenlang im Treckwagen mit. Kinderwagen standen am Straßenrand. Ich konnte nicht mehr hinein sehen, wusste, dass ein erfrorenes, totes Kindchen darin lag. Meine Schwester und ich gingen weite Strecken zu Fuß, um unsere Pferde zu entlasten und versuchten auf vereisten Strassen den Wagen zu halten. Unsere Mutter wurde krank, kriegte hohes Fieber. Oft wurde verzweifelt, aber vergeblich nach einem Arzt gerufen. Wie gerne hätte man geholfen, aber es gab keine Hilfe. Gräuelnachrichten verbreiteten sich von näher rückenden Sowjetpanzern und überrollten Trecks. In Unruhe und Angst trieben wir die Pferde weiter.

Eines Nachts, als wir mit vielen anderen Wagen vor einer kleinen Stadt auf dem Marktplatz (Viehmarkt) standen, hörte man plötzlich lautes Krachen - Splittern - Schreien. Die russischen Panzer hatten die Stadt am anderen Ende erreicht. Verzweifelt versuchten die Trecks, die in den Strassen Schutz vor dem Schneesturm gesucht hatten, zu fliehen. In panischer Angst rasten sie los, verkeilten sich ineinander, verstopften die Strassen. Die Panzer überfuhren sie und wurden dadurch etwas aufgehalten. Wie sollten wir und die vielen anderen Wagen durch das schmale Tor den Platz verlassen können? Wir saßen in einer Falle. In fassungsloser Angst sah ich die Menschen aus der Stadt drängen und hetzen. Aber die vermutete Panik trat nicht ein. Zwei alte Männer beleuchteten das Tor und leiteten einen Wagen nach dem anderen zur Strasse hinaus. Die Minuten des Wartens, bis auch wir dran waren, wurden zur Ewigkeit. Dann durften wir fahren, und auf der Strasse ging's in scharfem Trab mit den schwerfälligen Fuhrwerken voran. Auch dieses Mal hatten wir unsere Rettung der Umsicht meiner Mutter zu verdanken, nicht in die Stadt hineinzufahren.

In einer anderen Nacht hörte man ein fernes unheimliches Rauschen. Es war immer näher kommendes Pferdegetrappel. "Rückt die Rote Armee jetzt beritten an?" Dann sahen wir die vielen wunderschönen Trakehner ruhig durch den Schnee an den stehenden Treckwagen vorbeiziehen, von einigen Männern geleitet. Nachts gingen sie ungesehen und ungestört von russischen Flugzeugen. Am Tage wurden wir öfters von den Bordwaffen der Flieger beschossen. Dann hielten die Gespanne an, und fast alle Leute suchten irgendwo Deckung. Nur wenige, wie auch wir drei, blieben bei Wagen und Pferden, denn falls nur eins unserer Pferde oder der Wagen getroffen wäre, hatten wir nicht weiter flüchten können. Für meine Mutter wäre die Flucht zu Fuß unmöglich gewesen. Soldaten sagten: "Beeilt euch, zieht über das zugefrorene Haff auf die Nehrung, bevor das Eis schmilzt!"

Endlich, in einem Fischerdorf (Passarge) wenige Kilometer östlich von Frauenburg, erreichten wir abends das Frische Haff, mussten aber bis zum Morgen warten, bevor wir den rettenden Weg über das Haff antreten durften. Wir trafen dort Bekannte aus Hoverbeck und nahmen eine Familie mit drei Kindern in unserem Wagen mit.

Auf dem Eise stand Wasser, und auch ein breiter Uferstreifen war aufgetaut. Zu unserem Glück hatte es nachts wieder gefroren, und die Soldaten konnten das offene Wasser am Ufer überbrücken. Männer durften Ostpreußen nicht verlassen, wurden aus den Treckwagen herausgeholt, so auch der Vater unserer mitgenommenen Familie. Als der Morgen dämmerte, fuhren die bange wartenden Menschen mit ihren Gespannen im Abstand von etwa fünfzig Metern auf das Haff. Ängstlich scheuend betraten die Pferde das Eis. Meine Schwester und ich gingen zu Fuß. Die Räder wirbelten das Schmelzwasser auf. Auch unsere neu abgesteckte Marschroute über das Eis war von Kleinbomben der Flieger und eingebrochenen Gespannen schwer beschädigt. Immer wieder gab es Verzögerungen, aber der weite Abstand musste eingehalten werden wegen Einbruchsgefahr. Diese acht Kilometer lange Strecke dauerte viele Stunden. Oft mussten wir halten, weil wieder ein Wagen eingesunken und liegen geblieben war. Die frischen Einbruchstellen wurden umkreist, doch mehrmals ging der vorgeschriebene Weg über einen mit allem Gepäck eingefrorenen Wagen mit Pferdekadavern, über die ein Teppich gelegt worden war. Dann vermochten meine Schwester und ich nur mit großer Überwindung unsere sich aufbäumenden Pferde darüber hinweg zu führen. Die russischen Tiefflieger hatten leichtes Spiel mit uns, konnten ungestört die dunklen Gespanne auf der hellen Eisfläche mit ihren Bordwaffen beschießen. Zum Glück waren sie schlechte Schützen und trafen selten, aber die Angst vor Treffern war immer gegenwärtig und auch die Sorge um unseren jetzt noch schwerer beladenen Wagen. Wir gingen hinterher auf dem nassen, glatten Eis und versuchten ihn am Schleudern zu hindern.

Als wir wieder einmal lange halten mussten, sank die Scholle, auf der unser Gespann stand langsam immer tiefer. Wir starrten in Todesangst auf den Spalt vor unseren Füssen. Später sagte meine Schwester: "Damals habe ich mit meinem Gott ein Abkommen getroffen: Falls wir diese Fahrt überstehen, will ich mich über nichts mehr im Leben beklagen, komme, was da wolle. Ich werde arbeiten, ganz gleich was, und mit allem zufrieden sein." Und dann endlich nach einer halben Ewigkeit zogen die Pferde kräftig an, stiegen auf die erhöhte feste Eisfläche hinauf, es gab einen furchtbaren Ruck, der Wagen gelangte auch auf festes Eis, und es ging wieder weiter. An der rettenden Nehrung mussten wir zuerst weit entlang fahren, bis zu der Brücke, die Soldaten über das offene Wasser am Ufer gebaut hatten. Soldaten halfen uns auch die steile sandige Böschung hinauf. Sie griffen in die Räder und zogen so den Wagen und auch die Pferde nach oben. Und dann war die Fahrt über das Frische Haff überstanden, wir hatten wieder festen Boden unter den Füssen.

Auf der Nehrung ging's gleich weiter nach Westen. Aus der Gegend um Frauenburg wurden wir mit Artillerie beschossen und auch wieder von den Fliegern, die im Tiefflug mit Maschinengewehren auf die Menschen schossen. Es gab kaum Deckung. Eisiger Wind wehte. In der Ostsee lag ein Flugzeugwrack und schaukelte in den Wellen. Jetzt führte unser Weg durch menschenleere Orte - Geisterdörfer. Die Haustüren waren offen, die gesamte Bevölkerung war schon geflüchtet. Bedrückende Stille umgab die endlosen Flüchtlingskolonnen. Dann kamen wir südlich von Danzig bei Praust aus dem ostpreußischen Kessel hinaus.

In der Danziger Bucht in Gotenhafen sahen wir ein Passagierschiff, zu dem verwundete Soldaten getragen und gefahren wurden oder an Krücken gingen. Auch Flüchtlinge warteten auf die Genehmigung, mitgenommen zu werden. Das große Schiff strahlte Ruhe und Rettung aus. Wir wären auch gerne mitgefahren, wollten aber den Platz auf dem Schiff denen überlassen, die keine Gespanne hatten, so zogen wir weiter nach Westen. Auf den Chausseen fuhren die Soldaten, Flüchtlinge mussten sich scharf rechts halten oder herunter von den Strassen und auf Feldern und Äckern fahren. In Pommern stieg die mitgenommene Mutter mit ihren Kindern aus, um mit der Eisenbahn weiterzukommen. So konnten meine Schwester und ich wieder auf den Wagen. Es wurde wieder kälter, Schneestürme fegten über die Strassen, frierend und hungernd verbrachten die erschöpften Menschen oft Tag und Nacht auf ihren Treckwagen.

Die Russen waren mit Panzerverbänden vorgestoßen und hatten Pommern eingekreist. Niemand wusste, wo sie sich befanden. Dreimal waren sie uns wieder ganz nahe, dann fuhren wir von Angst gehetzt über die eisglatten Wege, Pferde und Wagen rutschten aus. Es entstand eine heillose Verwirrung aus Angst vor den alles niederwalzenden Sowjetpanzern. Verwundete Pferde und Kühe und zerbrochene Fuhrwerke lagen am Straßenrand. In den pommerschen Dörfern und Städten und auch später gab es Flüchtlingsbetreuungen, Verteilerstellen, wo wir an manchen Tagen eine warme Suppe und etwas Futter für die Pferde bekommen konnten. Wir schliefen auch manchmal dicht gedrängt in Häusern, in einer Schule, in einem Saal todmüde auf dem Fußboden zusammen mit Soldaten. Damals war mein einziger Wunsch, mit meiner Mutter und Schwester allein sein zu können.

Wir fuhren immer weiter Gespann hinter Gespann. Wenn man sich vom Wagen entfernte, hatte man oft Mühe, ihn wieder zu finden. Man wusste nicht, ob der Treck stehen geblieben oder zügig weiter gefahren war. Einmal suchte ich einen ganzen Tag unser Pferdegespann. Als ich es abends endlich fand, freute sich besonders auch der Franzose. Unser Franzose nickte immer wieder ein auf seinem Platz. Dann nahm ich ihm leise die Zügel aus der Hand. Die Pferde fanden den Weg aber auch allein, sie wankten hinter dem Vorderwagen her. Nachdem wir die Oderbrücke überquert hatten, keine unmittelbare Gefahr vor den Russen bestand und die Sonne wieder wärmer schien, holte ich meine Mundharmonika und die Blockflöte hervor und spielte einige Frühlingslieder. Doch mich sahen nur blasse, graue und traurige Gestalten an, und auch meine eigene innere Leere verhinderte jede Freude.

Die Pferde wurden schwächer und schwächer. Sieben Wochen waren wir unterwegs, jeden Tag und viele Nächte auf den Strassen, mehrmals vor den Sowjetpanzern in Angst vor dem Tode und vor Schlimmerem, immer in Not und Entbehrung, die Schrecken des Krieges vor Augen. Aber wir hatten unser Ziel erreicht, die Flucht war geglückt. Wir kriegten in einen Dorfe bei Bremervörde ein Zimmer für uns drei und einen Stall für die Pferde. Dort erlebten wir die leichten Kämpfe und den Einmarsch der britischen Truppen. Nach den Kriege fuhr ich schon vier Mal für einige Wochen in unsere alte Heimat mit meinen Mann, unserem Sohn, meiner Schwester Herta, deren Tochter und einer Freundin, die früher als junge Ärztin auf den Sensburger Gesundheitsamt gearbeitet hatte.

Von den zehn Vollmarsteiner Gebäuden stehen noch drei und die kleine Schmiede. Unser Wohnhaus hatten die Russen leer geräumt, die Möbel und Einrichtungsgegenstände mit Lastwagen weggefahren, nur das Klavier wurde gleich zerschlagen. Dann steckten sie das Haus an. Die Leute, die dabei waren, erzählten von dem gewaltigen Feuer, das man weithin sehen konnte. Voller Entsetzen standen sie da und sahen, wie das Gutshaus brannte. Unsere Hunde hatten die Soldaten mitgenommen, die Siamkatze war noch den Sommer über in Park zu sehen.

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