Dr. Siegfried Träger: Kriegsende 1945 im Egerland: Ein verhängnisvoller Militärunfall

    Dieser Eintrag stammt von Dr. Siegfried Träger (*1939 ) aus Frankfurt, Dezember 2008 :

    Es war ein ganz normaler Nachmittag im sechsten, also letzten Jahr des 2. Weltkrieges. Mit Ausnahme einiger Tieffliegerangriffe, die kaum Schäden verursachten, war Liebauthal im Kreis Falkenau vom Krieg fast unbehelligt geblieben, und das, obwohl sich in Teilen der großen Textilfabrik eine von Deutschland hierher ausgelagerte Kugellagerfabrik befand. An eben jenen Nachmittag aber musste etwas Schreckliches geschehen sein. Laut weinend lief eine Frau, die Hände ins Haar verkrallt, an den Mietskasernen entlang und schrie "Blut überall, der arme Mann, Blut überall, der arme Mann". Was war geschehen? Hatte vielleicht ein Fabrikunglück die Frau derart außer Fassung gebracht? Womit ich auch immer beschäftigt war, ich ließ es liegen und machte mich hinauf zur Ortsstraße, woher die Frau gerannt gekommen war.

    Die Szene, die sich mir auf dem Weg dorthin bot, war in der Tat erregend: Am obersten Absatz einer Treppe, die hinunter zur Fabrik führte, hantierten ein paar Männer mit einer Tragbahre, auf der sie offenbar versuchten, einen Soldat in deutscher Uniform in den Sanitätsraum der Fabrik zu transportieren. Gellende Schreie ausstoßend aber sprang der Soldat immer wieder von der Bahre auf, während Blut über das angstverzerrte, bleiche Gesicht floss. Nur mit viel Mühe schafften es die Helfer endlich, den Tobenden zu bändigen.

    Nur Augenblicke später und ein paar Meter weiter erkannte ich die Ursache des blutigen Dramas: Dort wo die Ortsstraße nach steilem Gefälle eine Rechtskurve einschlug, häufte sich ein Berg deformierter Eisenteile auf. In dem Gewirr sah ich zuerst einen umgekippten Panzerspähwagen. Das war ein Kettenfahrzeug mit lenkbaren Rädern vor dem Führerhaus. Jetzt lag der Koloss unbeweglich da, als habe ihn ein Feind im Kampf gefällt. Fast den gesamten Kurvenbereich aber nahm eine Lafette mit Vollgummibereifung ein, daneben kieloben liegend ein riesiges Geschütz.

    Zahlreiche Gaffer umringten bereits die Unfallstelle. Aus ihren Gesprächen schnappte ich auf, wie es zu diesem Desaster gekommen sein soll. Aufgeregt erzählte man sich, die Bremsen des Panzerspähwagens hätten versagt, und beim Absturz der Kanone von der Lafette habe das Rohr dem Begleitsoldaten ein Loch in den Kopf geschlagen. Das musste der arme Mensch gewesen sein, den man soeben blutüberströmt und schreiend an mir vorbei getragen hatte - und der, wie am nächsten Tag zu hören war, an seinen Verletzungen noch im Sanitätsraum gestorben sein soll.

    Dass dieser Unfall knapp vor Kriegsschluss beinahe mehr als ein Leben gefordert hätte, erfuhr ich erst Jahrzehnte später, bei dieser Gelegenheit allerdings auch die Vorgeschichte und den Ablauf des Unfalls. Mitgeteilt hat sie mir Josef "Peppi" Kindler, der das Geschehen von aller Anfang bis zum bitteren Ende gewissermaßen als blinder Passagier wirklich miterlebt hatte. Peppi, den es wie mich nach der Vertreibung 1946 nach Krofdorf bei Gießen verschlug und seinerzeit im Gegensatz zu mir bereits ein Schulbub, erinnerte sich:

    "Im Schabener Wald lagen deutsche Soldaten und bei der Försterei auf einer Wiese nahe der Straße nach Königsberg stand eine Kanone auf einem fahrbaren Untersatz". Diese Kanone sollte die bereits vom Westen her anrückende amerikanische Panzerarmee abwehren. Doch bald erkannte man: Mit einer einzigen Kanone würde wohl kein Panzer mehr aufzuhalten sein, und so entschied man, das Geschütz aus Liebauthal in Richtung Osten abzuziehen.

    Dazu bereitgestellt als Zugmaschine wurde ein Panzerspähwagen. Peppi, der mit ein paar anderen Buben die Aktion verfolgte, erinnerte sich, dass das Fahrzeug trotz Auf-wand aller Kraft die schwere Fracht nicht von der Stelle brachte, weil seine Ketten einfach durchdrehten. Zu tief nämlich waren inzwischen die Räder der Lafette unter der Last des Geschützes in den weichen Wiesengrund gesunken. Um die Bodenhaftung des Kettenfahrzeuges zu verbessern, belud man es mit Munitionskisten. Das half, und die Lafette samt Kanone ward auf die Straße bugsiert.

    Einige der Buben, die das Werk aufmerksam verfolgt hatten, kletterten jetzt unbekümmert auf die Zugmaschine, Peppi wählte als Sitz das rechte Schutzblech vorne. Bald rollte das Gespann, zunächst gemächlich, die steile Lenkenstraße abwärts ins Herz der Kolonie hinein. Doch bald bemerkte Peppi, "dass etwas nicht in Ordnung war, dass wir immer schneller wurden". Es sah ganz so aus, als hielten die Bremsen der Zugmaschine dem Druck der angehängten Last nicht stand.

    In der Rechtskurve dann geschah es: Die Kanone neigte sich nach links, kippte um und stürzte mitsamt dem Kanonier auf die Fahrbahn. Im Gefolge davon legte sich die Zugmaschine gleichfalls auf die Seite, und der blinde Passagier auf dem Schutzblech schleuderte von seinem ungesicherten Sitz herunter. Peppi erinnerte sich: "Ich lag auf dem Bauch, auf Rücken lag ein Blech und auf das musste etwas Schweres gefallen sein, denn ich konnte mich nicht rühren". Es war ein gefährliches Gewicht, das den Buben niederdrückte, eine Granate nämlich aus einer der Munitionskisten, die dem Panzerspähwagen als Ballast aufgebürdet worden waren. Erst nachdem jemand das schwere Objekt mitsamt dem Blech vom Körper des Abgestürzten entfernt hatte, konnte der sich wieder aufrichten. Völlig unbeschädigt, wie sich schnell herausstellte. Ein Glück für ihn und ganz Liebauthal war, dass weder die Granate noch ein anderes Geschoss bei der Havarie explodierten.

    Schon am folgenden Tag waren alle Unfallspuren beseitigt. Wenig später rollten amerikanische Tanks, begleitet von Infanteristen, in Liebauthal ein. Aus mehreren Fenstern der Mietskasernen hingen weiße Betttücher als Zeichen der Unterwerfung und dass man die Hoffnung auf den immer wieder versprochenen "Endsieg" ein für allemal aufgegeben hat. Für viele Liebauthaler aber war der Einzug der Amerikaner und damit das Kriegsende durchaus ein freudiges Ereignis. Was ihnen knapp ein Jahr später blühte, nämlich der Verlust ihrer Egerländer Heimat, das freilich ahnten sie zu dieser Zeit noch nicht.

lo