> Dr. Walther Ludwig: Jugendjahre während des Krieges

Dr. Walther Ludwig: Jugendjahre während des Krieges

Dieser Eintrag stammt von Dr. Walther Ludwig (*1929 ) aus Hamburg , November 2007 :

  • Kindheit während der NS-Zeit

Im Jungvolk - ein Furz und seine Folgen

Im Sommer 1939 wurde ich "Pimpf" im "Deutschen Jungvolk" wie so gut wie alle meine Altersgenossen. Die Hitlerjugend war seit kurzem die obligatorische deutsche Staatsjugendorganisation. Während zuvor der Eintritt in sie eine mehr oder weniger freiwillige Entscheidung war, war nun jeder deutsche Junge und jedes deutsche Mädchen von seinem zehnten theoretisch bis zu seinem achtzehnten Jahr verpflichtet, Mitglied in ihr zu sein. Die Hitlerjugendpflicht entsprach nun der Schulpflicht, und meine Mutter musste wie an den Lehrer in der Schule, so an den sogenannten Fähnleinführer eine Entschuldigung wegen Krankheit für mich schreiben, wenn ich an dem jeden Mittwoch- und Samstag-Nachmittag stattfindenden "Dienst" nicht teilnehmen konnte (bzw. wollte), und so eine Entschuldigung konnte man nicht allzu oft abgeben, wenn man nicht auffallen und Unannehmlichkeiten bekommen wollte.

Im Herbst 1939 klagte uns jungen "Pimpfen" gegenüber nach einem frustrierenden "Ordnungsdienst" (Exerzierübungen wie Stillgestanden, Rechts um etc.) ein Fähnleinführer, dass in der Zeit, als die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend freiwillig war, ein ganz anderer Schwung vorhanden gewesen sei, wogegen wir jetzt ein lahmer Haufen seien. Es gab eine Sommer- und eine Winteruniform, die die Eltern einem kaufen mussten: Braunhemd und kurze Hose bzw. schwarze Wollbluse und schwarze lange Hosen; auf dem Ärmel war das Abzeichen des Deutschen Jungvolks aufgenäht; zum Hemd gehörte ein schwarzes Halstuch, das durch einen Lederknoten zusammengehalten wurde. Ich bemerkte erst lange nach dem Krieg , dass viele dieser Kleidungsstücke der Pfadfinderuniform entlehnt waren. Schick und geschätzt war das sogenannte Fahrtenmesser, ein an einer Schlaufe am Gürtel zu tragendes, in einer Scheide steckendes festes Messer von etwa 15 cm Klingenlänge.

Die Mitgliedschaft im Jungvolk und in der Hitlerjugend, in die die 14jährigen einzutreten hatten, war also nach 1939 kein Indiz mehr, wie einer dachte: Die "Hitlerjungen" konnten gläubige Anhänger des Führers, aber auch innerlich gegen das Regime sein. Ich wage keine Schätzung über die Prozentzahlen. Das heute verbreitete Bild des Hitlerjungen als eines fanatisch gläubigen Hitleranhängers, der am Ende des Kriegs nichts lieber tat, als eine Panzerfaust zu schultern, ist irreführend, auch wenn die überzeugten Gegner des Regimes sicher in der Minderzahl waren und von diesen sich fast alle auf ihre innere Ablehnung beschränkten. Man verbreitet heute in Filmen gelegentlich die Vorstellung, man habe die Jungvolk- oder Hitlerjugend-Uniform auch außerhalb der Dienstzeiten getragen (in einem Film spielten die Kinder auf der Straße in Jungvolkuniformen). Dies war, soweit meine Erfahrungen reichen, nicht der Fall. Man zog sich um, weil man zum "Dienst" in Uniform erscheinen musste, und zog sie danach wieder aus. In die Schule oder zum Spielen gingen wir nie in Uniform, sondern immer in Zivil. Auch erschien keiner meiner Lehrer zum Schulunterricht in einer SA-Uniform.

Kurze Zeit war ich im allgemeinen "Jungvolk". Dort passierte etwas Kurioses. Bei einem sogenannten "Heimabend" stank es plötzlich sehr und der "Fähnleinführer", der sich in seiner Unterrichtung über die politische Lage gestört fühlte, fragte uns, wer den Furz gelassen hätte. Keiner meldete sich trotz der Drohung, dass alle, wenn sich keiner meldet, zur Strafe "Ordnungsdienst", eine Art Exerzieren, machen müssten. Das half aber nichts und nach der entsprechenden Ankündigung entließ er uns, sagte aber, ich solle noch da bleiben. Ich fragte warum, und er sagte, ich sei bei seiner Frage rot geworden und er vermute, dass ich der Stinker gewesen sei. Ich konnte das verneinen und erklärte ihm, meine Gesichtsrötung sei dadurch gekommen, dass ich mir innerlich sagte, dass sich jemand melden müsste, um die Bestrafung aller abzuwenden, und dass ich mit mir gerungen hätte, dies deshalb zu tun, ohne selbst der Übeltäter zu sein. Ein solches Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft beeindruckte den Fähnleinführer so, dass er mir sagte, jemand mit so einer Einstellung sei geeignet, eine nationalpolitische Erziehungsanstalt zu besuchen, er wolle mich für eine Aufnahme vorschlagen und ich solle darüber mit meinen Eltern sprechen. Diese Schulen, abgekürzt Napola genannt, wurden als nationalsozialistische Alternative zu dem bisherigen Schulsystem aufgebaut. Nach Beratung mit meinen Eltern erklärte ich ihm bei unserem nächsten Treffen, ich wolle lieber auf dem altsprachlichen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium bleiben.

Im Sängerfähnlein

Auf Rat meines gymnasialen Musiklehrers Herrn Pfohl meldete ich mich wenig später aus dem allgemeinen Jungvolk ab und für das "Sängerfähnlein" an. Es war ein dem Jungvolk eingegliederter Knabenchor, der unter der Leitung des Musiklehrers des benachbarten Dillmann-Realgymnasiums stand, bis dieser Chorleiter zur Wehrmacht eingezogen wurde. Danach wurden die Chöre von wechselnden Personen dirigiert. Wir sangen mehrheitlich Volkslieder, dazu auch nationalsozialistische Lieder und traten in Konzerten, auch für das Radio auf. Der verhasste Ordnungsdienst war klein geschrieben, aber auch noch vorhanden. Gelegentlich gab es auch langweilige politische Schulungsabende. In einem wurde ich in der letzten Reihe beim Skatspielen erwischt, was den Redner sehr erboste und mir einen Eintrag in meiner Personalakte eintrug. Befördert wurde ich deshalb und wohl auch, weil ich nicht stramm genug war, nie, nicht einmal zum sogenannten Horden- oder Rottenführer, was ein Winkel am Ärmel angezeigt hätte.

In der Gebirgsgefolgschaft

1943 war nach der Organisationsstruktur der Hitlerjugend die Zeit im Deutschen Jungvolk und im Sängerfähnlein für mich zu Ende und die Aufnahme in die eigentliche Hitlerjugend fällig. Ich meldete mich für die "Gebirgsgefolgschaft" an, da ich durch meinen Vater ein begeisterter Bergsteiger und Kletterer geworden war. Die Gebirgsgefolgschaft der Hitlerjugend in Stuttgart war die umgewandelte Jugendgruppe der Sektion Schwaben des Deutsch-Österreichischen bzw. Deutschen Alpenvereins. Hier langweilten gelegentlich auch politische Schulungsabende, und das Strammstehen und Marschieren musste man auch üben, erfreulicherweise aber gab es eine Kletterausbildung und man sang tirolische Gebirgslieder ("wo der Eisack rauscht heraus"). Samstags fuhr man gerne in die Besigheimer Felsengärten (am Neckar 20 Kilometer nördlich von Stuttgart gelegen), wo man am Seil klettern und Abseilen übte (wenn man die Felsengärten heute besucht, findet man immer junge Leute, die das gleiche tun), einmal, 1943, machte ich eine mehrwöchige Tour in Vorarlberg und den Lechtaler Alpen mit, die sehr anstrengend war, aber großen Spaß machte. Nach dem Aufstieg zur Valesinspitze las ich stolz im Gipfelbuch eine Strophe, an die ich mich noch heute erinnere: "Wer gar die Valesin erklommen, der ist fürwahr ein ganzer Mann, dem mag das Leben grob auch kommen, er findet immer Griffe dran."

Als ich 1943 nach Biberach und 1944 nach Tübingen kam, war es mit dem Klettern zu Ende. Die mehrmaligen Wechsel hatten aber den Vorteil, dass meine Teilnahme an den Zusammenkünften der Hitlerjugend weniger regelmäßig werden konnte. Ganz konnte man sich der Fron nicht entziehen. Gesungen habe ich und geklettert bin ich gern, alles übrige war mir wie einigen anderen Freunden ziemlich lästig, und ich suchte mich nach Möglichkeit zu drücken. Meiner mehr auf das Lesen von Büchern und auf andere Formen der Selbstbeschäftigung ausgerichteten Art lag das gruppenweise Kommandiert werden und Strammstehen nicht so sehr.

Sirenen, Bomben und Feuerpatschen

Die schweren Bombardierungen von Stuttgart habe ich nur 1943 erlebt, da ich im Herbst 1943 mit meiner Schule nach Biberach evakuiert wurde und ab Herbst 1944 auf eigenen Wunsch das Uhland-Gymnasium in Tübingen besuchte (ich wollte, falls ich in diesem Krieg umkommen sollte, wenigstens einmal in Tübingen gewesen sein, das mir mein Vater aus seiner Studentenzeit in den Jahren 1909-1914 mit glühenden Farben geschildert hatte).

Die westdeutschen Städte litten schon früher unter den Bombenangriffen. Eine Schwester meiner Mutter wurde ich Düsseldorf mit ihrem Mann 1942 "ausgebombt", wie man damals sagte, d.h. ihre Wohnung wurde in einem Bombenangriff zerstört. Lina und Jan Deussen kamen dann nach Stuttgart und wohnten längere Zeit bei uns. Sie hatten Bezugscheine für eine neue Wohnungseinrichtung und kauften sie in Stuttgart, da ein solcher Einkauf in Düsseldorf damals kaum mehr möglich war.

Im Jahr 1943 griffen die Bombardierungen dann auch nach Süddeutschland über. In dem Haus des Staatsrentamtes, in dem wir im 3. Stock zur Miete wohnten, wohnte im 2. Stock Oberbaurat Schott, während des Krieges ein Hauptmann der Luftwaffe. Er trat nun in einer blauen Uniform auf und hatte in einem Tal bei Lauffen am Neckar etwa 30 km nördlich von Stuttgart ein potemkinsches Stuttgart aufgebaut, in der Nacht beleuchtete Häuserattrappen, und war überzeugt, dass die alliierten Bomber Stuttgart nicht finden und ihre Bombenlast über dem vorgeblichen Stuttgart abwerfen würden. Er sagte uns das jedenfalls und wurde erst durch den ersten Angriff auf Stuttgart widerlegt. Er geschah am Tage und richtete nach späteren Begriffen relativ kleine, damals aber als sehr schlimm betrachtete Zerstörungen an.

Die auf- und abschwellenden Sirenentöne hatten schon oft Luftalarm angezeigt. Nachts rissen sie uns aus dem Schlaf. Wir schafften dann jedes mal mehrere Koffer in den Keller, immer auch zwei Spankörbe, in die mein Vater die Bücher getan hatte, die er für seinen Unterricht am Eberhard Ludwigs-Gymnasium in Deutsch, Lateinisch und Griechisch für unerlässlich hielt. Nach der "Entwarnung" durch den gleichbleibenden Sirenenton trugen wir dann alles wieder acht Treppen hoch bis zu unserem 3. Stock. Evakuiert hatten wir vorsorglich alle unsere "Ahnenbilder", Ölbildnisse und Miniaturen meiner Ur- und Urur- und Urururgroßeltern, und einige alte Möbel, die seit Ende des 18. Jahrhunderts im Besitz meiner Familie gewesen waren. Sie befanden sich seit 1943 bei Verwandten im Dachboden des Gutshofs von Bad Boll an der Schwäbischen Alb. (Von dort kamen die Bilder und Möbel nach dem Krieg wohlbehalten wieder zu uns zurück. Allerdings waren die Urgroßeltern "verwanzt", d.h. Wanzen hatten sich in der Rückseite des alten Leinen der Ölbildnisse eingenistet. Sie hielten sich tagsüber ruhig und suchten mich nachts heim, da ich unter diesen Bildern schlief. Es brauchte einige Zeit bis meine Mutter und ich die Herkunft der kleinen schwarzen Tiere eruiert und sie dann mit Spray beseitigt hatten.)

Wenn wir in den Keller eilten (seine überirdischen Fenster waren durch neu angebrachte metallene Fensterläden verschlossen worden), trafen wir dort alle Bewohner des Hauses, d.h. acht Familien. Man zog sich warm an, saß auf Stühlen, und versuchte nach einigen Gesprächen weiterzuschlafen. Wenn die Entwarnung nach 12 Uhr nachts erfolgte, fielen für die Schulkinder die ersten 2 Schulstunden morgens aus, weshalb eine Entwarnung um 23.45 Uhr sehr enttäuschte.

Als die nächtlichen Angriffe begonnen hatten (ich erlebte in Stuttgart etwa drei schwere), und man die Flakgeschütze ebenso wie die einschlagenden Bomben hörte, von denen das Haus erzitterte, begannen einzelne Frauen laut zu beten, andere wimmerten bei jedem Einschlag. Ich war gerade 14 Jahre und verhielt mich bewusst still. Ich hatte in dieser Zeit nach einer stark christlichen Phase bis zum 12./13. Lebensjahr mich im 13./14. Lebensjahr vom christlichen Glauben entfernt und für eine philosophische, stark stoisch geprägte, deistische Religiosität mit einem fatalistischen Charakter entschieden, so dass ich mir sagte, dass da mit Beten nichts zu machen war und wir nichts anderes tun konnten, als zu hoffen und abzuwarten.

Sobald wir die Entwarnungssirenen hörten, eilten wir nach oben, um zu sehen, was von unserem Haus noch stand. Bei den großen Angriffen, bei denen Bomben in unmittelbarer Nähe des Hauses einschlugen, waren durch den Luftdruck der Detonationen alle Fenstergläser zerbrochen (ein Glaser, der seine Arbeitsstätte unter freiem Himmel in unserem Hinterhof eingerichtet hatte, setzte in den nächsten Tagen zuerst durchsichtiges Glas, später, nach erneutem Zerbrechen, unzerbrechliches Maschendrahtglas ein). Einmal waren auch alle Ziegel vom Dach geweht. Durch die Dachsparren sah man den blutroten Himmel, in dem die Funken sprühten, die auch auf die Dachbalken und den Dachboden fielen, und die brennenden Häuser in der Nähe, von denen die Funken kamen. Ich übernahm als 14jähriger wie andere die Brandwache, d.h. ich hatte eine sogenannte Feuerpatsche in der Hand (es war ein Besen, an dessen unteres Ende Aufwischtücher genäht worden waren) und einen Wassereimer neben mir. Sobald ein Funken auf den mir zugewiesenen Bereich des Daches oder Dachbodens fiel, löschte ich ihn mit einem Hieb der nassen Feuerpatsche. Ohne diese noch stundenlang dauernde Abwehrtätigkeit hätte der Dachstuhl Feuer gefangen und das Haus wäre wie andere abgebrannt. Nachher waren wir völlig übermüdet, und stanken wie geräuchert.

Meine Mutter erlitt am anderen Morgen so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Sie wollte partout nicht mehr in Stuttgart bleiben, mein Vater konnte sie nicht zurückhalten, sie nahm mich mit sich, und wir fuhren in eine Kleinstadt in Nordwürttemberg (Künzelsau), wo wir früher zur Sommerfrische gewesen waren. Die Wirtsleute in dem uns bekannten Hotel waren so freundlich, dass sie uns ihre Betten zum Ausschlafen gaben. Erst nach einigen Tagen kehrte meine Mutter mit mir nach Stuttgart zurück. Als verantwortlich für das Unglück betrachtete sie Hitler.

Ein Propagandamarsch ins zurückgebliebene Warthausen

Aus meiner Biberacher Zeit, im Spätherbst 1943 oder Frühjahr 1944, erinnere ich mich noch an eine besondere Aktion. Der NSDAP-Kreisleiter von Biberach befahl den Formationen der SA und der Hitlerjugend von Biberach an einem Sonntag einen Propagandamarsch in das 4 Kilometer entfernte katholische Pfarrdorf Warthausen, das nicht genug vom richtigen Geist hatte (auf Schloss Warthausen hatte einst Wieland Sophie de la Roche besucht - ich schrieb darüber meinen ersten gedruckten Aufsatz in der Donau-Bodensee-Zeitung, Kreisausgabe Biberach, am 29. April 1944). Wir marschierten bei nasskaltem Wetter uniformiert in langer Kolonne, vorne die SA, hinten die Hitlerjugend. Herr Breimer, mein Quartierwirt, war als Mitglied der SA auch dabei (ich glaube, er war bei der Motorrad-SA, jetzt aber ohne Motorrad). In Warthausen mussten wir uns auf dem Dorfplatz in Formationen aufstellen. Dort war auch die kleine Warthausener SA-Truppe und Hitlerjugend angetreten. Der Kreisleiter hielt in der SA-Uniform eines sogenannten "Goldfasans" eine Propagandarede, mit der er sich an uns und an alle Warthausener richtete. Diese aber hielten sich offenkundig zurück und zeigten sich fast nicht auf der Straße und an den Fenstern. Nach der Rede und dem Absingen der gehörigen Lieder marschierten wir wieder nach Biberach zurück. Herr Breimer meinte beim Mittagessen, daß der Marsch zwar anstrengend gewesen sei, aber sich gelohnt habe, auch wenn die Warthausener sich leider kaum gezeigt hätten.

Der 20. Juli 1944

Am 20. Juli 1944 waren meine Mutter und ich zu einer Sommerfrische auf einem Gutshof im Mumpfental in der Nähe von Biberach. Als wir von dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler durch das Radio erfuhren, waren wir beide sehr unglücklich und niedergeschlagen und bedauerten sehr, dass diese Chance auf ein Ende des Krieges und der Hitlerherrschaft vereitelt worden war. Mit anderen sprachen wir nicht über unsere Empfindungen. Wir sahen keine Möglichkeit für Privatpersonen, das Kriegsende herbeizuführen bzw. die Regierung zu beseitigen. Wenn dies unserem Militär nicht gelang, konnte es nur dem alliierten Militär gelingen.

Wissenschaftlicher Nachwuchs für die Erfindung der Wunderwaffen?

Ich war damals vor allem naturwissenschaftlich interessiert, besonders an geologischer Paläontologie und systematischer Botanik (es waren die Fächer, für die man selbst eine Sammlung von Versteinerungen und gepressten Pflanzen anlegen konnte), und entsprechend gut in den naturwissenschaftlichen Schulfächern. Das war im Tübinger Uhland-Gymnasium auch Studienrat Dr. German, der ein guter Fachlehrer für Mathematik, Chemie und Physik und zugleich ein überzeugter Parteigenosse war, aufgefallen, und er rief mich eines Tages im Spätherbst 1944 nach einer Physikstunde zu sich und sagte mir, dass eine neue Schule errichtet würde, in der man sich ganz auf die Naturwissenschaften und die Mathematik konzentrieren werde (an Sprachen würde nur Englisch unterrichtet), um einen wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden, der sich an den künftigen militärtechnischen Entwicklungen beteiligen könne. Er wisse, dass ich naturwissenschaftlich gut sei, hätte den Auftrag, einen geeigneten Schüler für diese Schule zu nominieren, und würde mich gerne dafür melden. Ich antwortete ich danke ihm und wolle es mir überlegen, sagte ihm dann aber beim nächsten Mal, dass ich zwar naturwissenschaftlich sehr interessiert sei, aber doch auch sehr an der Geschichte, und dass ich die Ausbildung in den alten Sprachen nicht zugunsten einer einseitig naturwissenschaftlichen Ausbildung unterbrechen wolle. Er akzeptierte meine Ablehnung seines Angebots mit Bedauern.

"Warum wollen Sie nicht zur Waffen-SS?"

Etwa zur gleichen Zeit, ich besuchte damals die Klasse 6 des Uhlands-Gymnasiums in Tübingen (in dieser Klasse wurde man erstmals gesiezt), wurden eines Tages zwei Stunden der vormittäglichen Unterrichtszeit zwei uniformierten Angehörigen der Waffen-SS zur Verfügung gestellt, die zunächst in einem Propagandavortrag dafür warben, dass wir uns zum späteren Eintritt in die Waffen-SS melden sollten, und die dann jeden Schüler einzeln zum Katheder vortreten ließen, um möglichst seine ,freiwillige' Meldung in eine Kladde einzutragen.

Angesichts der allgemeinen Wehrpflicht war es selbstverständlich, dass man nach einer - eventuell abgekürzten - Schulzeit in der deutschen Wehrmacht Dienst tun musste (und anderenfalls verhaftet und sogar erschossen werden konnte). Es setzte jedoch eine Willenserklärung voraus, wenn man statt dessen der Waffen-SS beitrat. Man wurde zur Wehrmacht, aber nicht so ohne weiteres zur Waffen-SS einberufen. Wie viele meiner Klasse hatte ich mich bereits früher als "Kriegsfreiwilliger und Reserveoffiziersbewerber" zur Wehrmacht gemeldet. Das hört sich heute ziemlich kriegs- und militärbegeistert an. Es war es nicht notwendigerweise. Denn es bedeutete nicht, dass man früher als sonst und als andere des gleichen Jahrgangs eingezogen wurde, sondern dass man die Waffengattung wählen konnte, in die man kommen wollte, und eine längere Ausbildungszeit hatte, während man sonst zu einer beliebigen Einheit, und d.h. meist zur Infanterie einberufen und nach kurzer Ausbildungszeit an die Front geschickt wurde. Ich hatte mich wegen meiner Liebe zum Bergsteigen zu den Gebirgsjägern gemeldet.

Als ich nun vor den SS-Offizier und seinen schreibbereiten Unteroffizier treten musste, war mir völlig klar, dass ich natürlich nicht zur Waffen-SS wollte (ich wusste wie viele andere, dass die gefürchtete SS und ihre jüngere Variante, die Waffen-SS, willenlose Werkzeuge bzw. überaus willige und brutale Helfer und Exekutoren der Hitlerschen Diktatur waren), aber die Ablehnung ohne Begründung gerade heraus zu sagen, konnte nur zu unangenehmen weiteren Fragen führen. Diesen Grund der Ablehnung, nach dem man natürlich gefragt wurde, konnte man nicht sagen. Ich legte mir also eine Ausrede zurecht und sagte auf die Frage, ob ich mich zur Waffen-SS melden wolle, das sei mir leider nicht möglich, da ich in der Tradition meines Vaters, der als Leutnant im Ersten Weltkrieg gedient habe, meinen Dienst in der Wehrmacht ableisten wollte und mich schon zu den Gebirgsjägern gemeldet habe. Der SS-Offizier erklärte mir darauf, diese Meldung könne er leicht rückgängig machen und ich könne auch in der Waffen-SS der militärischen Tradition meines Vaters folgen. Meine Antwort war, dass ich von meinem Vorsatz jedoch nicht abweichen wolle. Als die beiden SS-Leute erkannten, dass sie mich nicht zu einer Meldung zur Waffen-SS bringen konnten, entließen sie mich und riefen nach dem nächsten Schüler. Wie viele in diesen Einzelgesprächen damals ihre Zustimmung erklärten oder absagten, weiß ich nicht (man sprach aus Vorsicht nachher nicht viel darüber). Die beiden Angehörigen der Waffen-SS packten am Ende der Stunde ihre Sachen zusammen und verließen den Raum. Ich atmete auf. [...]

"Die vom Jahrgang 29 dürfen dableiben"

Anfang April erhielt ich, damals Schüler der Klasse 6 des Uhland-Gymnasiums in Tübingen, zu meiner Überraschung einen brieflichen Einberufungsbefehl zur 7. Volksinfanterie-Division nach Neu-Ulm (ich höre zur Zeit dieser Niederschrift, dass es eine Volksinfanterie-Division nicht gegeben habe, dass es wohl eine Volksgrenadier-Division gewesen und die niedere Nummer auch zweifelhaft sei, kann mich aber nur an den mir fest eingeprägten den Begriff "7. Volksinfanterie-Division" aus dem Einberufungsbefehl, den ich natürlich nicht mehr habe, erinnern; vielleicht war der Schreiber dieses Befehls, der auf einem Formular mit einer Schreibmaschine geschrieben war, nicht richtig informiert oder hatte sich verschrieben, was zu der Endkriegszeit passen würde). Am 7. April 1945 suchte ich deswegen den Hauptmann d. R. Hermann Storz, der im Wehrkreiskommando in Tübingen Dienst tat, auf. Er war als Lehrer am Ev.-theol. Seminar in Urach einberufen worden und wurde nach dem Krieg dort "Ephorus", d.h. Direktor [...] Storz war ein Studienfreund und Bundesbruder meines Vaters aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, und mein Vater hatte mir geraten, ihn im Notfall aufzusuchen. Ich wollte ihn nun doch noch fragen, ob ich diesem Einberufungsbefehl wirklich Folge leisten müsse oder ob es da nicht einen Ausweg gebe. Nachdem ich mich in der Kaserne nach seinem Dienstzimmer durchgefragt hatte und ihm an seinem Schreibtisch unter vier Augen gegenübersaß und meinen Einberufungsbefehl gezeigt hatte, sagte er mir, dass der Jahrgang 1929 in der Tat einberufen würde, und zwar nicht zum Volkssturm oder zum Arbeitsdienst, sondern gleich zum Heer. Es gebe keine andere Möglichkeit, als diesem Einberufungsbefehl Folge zu leisten. Ich schrieb also einen Abschiedsbrief an meine Eltern nach Biberach, wo mein Vater die evakuierten Restklassen des Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums zusammen mit anderen Lehrern unterrichtete, setzte mich gott- und schicksalsergeben in den Zug nach Ulm, der damals erstaunlicherweise noch fuhr, und ging zu Fuß zu der bezeichneten Kaserne auf der anderen Donauseite.

Am Schlagbaum ging mir plötzlich auf, dass ich gar nicht hätte kommen müssen. Man hatte keine Namensliste der Einberufenen, sondern wartete auf die, die da kommen würden. Aber nun war es schon zu spät, mein Name war registriert, und ich befand mich in der Kaserne, wo mir in einem Raum, in dem sich mehrere zweistöckige Betten befanden, eines zugewiesen wurde. Die nächsten 3 Tage geschah gar nichts. Ich erhielt keine Uniform und auch keinerlei Befehle, aber die Information, in welchem Gebäude ich frühstücken und Essen fassen sollte. Auf dem Zimmer befand sich auch ein alter "Landser" in Uniform (er war wohl um die 50), der nach einem Lazarettaufenthalt gleichfalls zu der neu zu bildenden Einheit geschickt worden war. Ich unterhielt mich mit ihm, und wir machten Ausflüge zu den umliegenden Dörfern und Bauernhöfen, wo wir um etwas Essen bettelten. In einem Hof wurden uns gute Blutwürste mit Brot und Most vorgesetzt, und die Bauersfrau, der wir unsere Geschichten erzählten, hatte offensichtlich Mitleid mit dem Paar des zu alten und zu jungen Soldaten.

Etwa am vierten Tag wurden alle, die sich bis dahin eingefunden hatten (man hatte anscheinend auf sie gewartet), auf den Kasernenhof gerufen, wo wir - insgesamt so etwa 100, teils Junge (aus den Geburtsjahrgängen 1928 und 1929) teils Alte, in Uniform oder in Zivil, solche, die bereits Soldat waren, und solche, die es nun werden sollten - in militärischer Formation drei Reihen tief Aufstellung nehmen mussten. Der Kommandant war ein junger Leutnant, der an seinen rosa Litzen, die man damals kannte, als Angehöriger der Panzertruppe kenntlich, aber nun ohne Panzer war, und statt dessen den merkwürdigen Haufen befehligen musste. Seinen Namen kenne ich nicht. Er sagte zu uns zu unserer Überraschung bald nach der Begrüßung, dass alle, die 1928 geboren oder älter waren, dableiben müssten, dass jedoch die, die 1929 oder danach geboren waren, dableiben "dürfen". Auf Rückfrage "aus dem Glied", was das bedeute, erfuhren wir, dass die Angehörigen des Jahrgangs 1929 tatsächlich nicht Soldat werden mussten, ohne aber zu erfahren, was dann aus uns werden würde. Der Leutnant befahl darauf, dass, wenn es welche gebe, die nicht dabeibleiben wollten, diese drei Schritt vor die angetretene Formation vortreten sollten.

Es bedurfte eines gewissen Mutes, dies zu tun, da wir nicht wussten, was dann folgen würde. Langsam traten einzelne vor, es tröpfelte zuerst, dann kamen mehr. Ich war etwa der dritte oder vierte, der vor die Linie der Angetretenen trat. Es kamen am Ende etwa 25 junge Leute zusammen, die nun vereinzelt vor den übrigen standen. Wir wurden erfreulicherweise zwar nicht angeschnauzt, aber die leise Hoffnung, nun gleich entlassen zu werden, wurde enttäuscht. Der Leutnant bewertete unsere Entscheidung nicht, sondern sagte nur, er müsse uns jetzt an den Bannführer von Ulm, also den obersten Leiter der Hitlerjugend für den Kreis Ulm, überstellen. Zu diesem Zweck mussten wir einen offenen Lastwagen besteigen und wurden in ihm über die Donau gefahren und zum Amtszimmer dieses Bannführers gebracht. Er war ein Mannes im mittleren Alter (er wirkte älter als der Leutnant) und hatte eine braune Uniform mit Hakenkreuzarmbinde an. Als wir dicht gedrängt in seinem Zimmer standen, schrie er uns an, beschimpfte uns und sagte, dass wir uns schämen sollten, der Führer habe uns vertraut, er habe alles für uns getan und alle seine Hoffnungen auf uns gesetzt und wir verrieten ihn nun. Aus der Menge hörte man einen Jungen in breitem Schwäbisch sagen "Mir hebet's au nemme" (für den hochdeutschen Satz: ,wir können da auch nicht mehr helfen'). Diese defätistische Äußerung brachte den Bannführer, dessen Namen mir gleichfalls unbekannt blieb, vollends in Rage, und er fragte, wer dies gesagt habe. Als sich keiner meldete, verfolgte er dies aber nicht weiter, sondern sagte nach einer Weile, dass er alle die, deren Eltern im bereits vom Feind besetzten Gebiet wohnten, in ein Lager im Allgäu schicken müsse, dass dagegen alle die, deren Eltern im unbesetzten Gebiet wohnten, nach Hause gehen könnten. "Der Feind" stand damals bereits, so hörte man, nahe an der Nordseite der Schwäbischen Alb (Tübingen wurde am 19. April besetzt, am 24. April sollte Ulm folgen). Keiner hatte nun, nach eigener Aussage, Eltern im besetzten Gebiet, überprüft wurde das nicht, und so wurden wir schließlich alle entlassen. Eine Rückkehr nach Tübingen war nicht mehr möglich. Da meine Eltern sich zu dieser Zeit tatsächlich in Biberach an der Riß aufhielten, setzte ich mich zu Fuß nach Biberach in Bewegung. Ich ging die etwa 50 km auf Landstraßen und möglichst ohne militärischen Verbänden zu begegnen, da ich mir über ihr Verhalten mir gegenüber sehr unsicher war.

Dem Leutnant und dem Bannführer verdanke ich, dass ich bei Kriegsende nicht mehr Soldat werden musste, was mir bestenfalls Gefangenschaft, Schlechtestenfalls den Tod gebracht hätte. Von heute aus gesehen, sehe ich, dass beide uns die Möglichkeit boten, der großen Gefahr zu entkommen, beide aber anscheinend zur Wahrung ihres Gesichts (und um einer eventuellen Bestrafung vorzubeugen), die Entscheidung uns überließen. Auch die Rede des Bannführers und seine salomonische Entscheidung scheint mir durch das Bestreben motiviert, nichts zu tun, was ihm selbst bei seinen Vorgesetzten nachträglich hätte schaden können, aber zugleich uns in diesem Rahmen die Möglichkeit zu geben, einem Kriegseinsatz zu diesem Zeitpunkt zu entgehen. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, uns alle dazubehalten und in ein Lager zu weiterer Verwendung zu schicken, selbst nachdem uns der Leutnant hatte gehen lassen.

Vor allem aber bin ich diesem Leutnant dankbar, dass er mir durch seine Alternative die Möglichkeit gab, sozusagen dem drohenden Tod von der Schippe zu springen. Es ist mir unbekannt, wie weit ihm Direktiven für die Alternative, die er uns bot, vorlagen. Vermutlich gab es keine. Immerhin hatte man den Angehörigen des Jahrgangs 1929 einen Einberufungsbefehl zugestellt, plante also, sie in die Wehrmacht zu stecken, und immerhin wurden an anderen Orten auch Angehörige des Jahrgangs 1929, ja sogar des Jahrgangs 1930 in die letzten Gefechte geschickt und "verheizt". Es ist heute zu lesen, dass Hitler bzw. das Oberkommando der Wehrmacht am 5. März 1945 die Einberufung des Jahrgangs 1929 anordnete. Wie konnte es dann zu der ungewöhnlichen Alternative, die der Leutnant uns gab, kommen? War sie von ihm selbst verantwortet oder vielleicht abgesprochen mit seinen unmittelbaren Vorgesetzten innerhalb der Kaserne? Diese bekamen wir nicht zu Gesicht. Ich habe weder den Leutnant noch den Bannführer noch einen der Jungen oder Alten aus der Neu-Ulmer Kaserne je wiedergesehen und auch nie von einem ähnlichen Fall, in dem Angehörige des Jahrgangs 1929 eine solche Entscheidungsfreiheit hatten, gehört. Es war die gleiche Zeit, in der junge Soldaten, die sich von der Front entfernt hatten und wieder aufgegriffen worden waren, standrechtlich erschossen wurden und Durchhalteappelle zur fanatischen Kampfentschlossenheit bis zum letzten Atemzug aufriefen

Erst viele Jahre nach Kriegsende erfuhr ich von einem Gleichaltrigen, einem Pfarrerssohn von Dusslingen bei Tübingen, dass er den gleichen Einberufungsbefehl erhalten hatte, dass jedoch sein Vater von Pontius zu Pilatus gelaufen war und ihm schließlich das Attest eines Arztes hatte besorgen können, das ihm bescheinigte, wegen der Nachwirkungen einer Erkrankung nicht verwendungsfähig zu sein. Dieses Attest wurde der Einberufungsbehörde zugeschickt, die nichts mehr von sich hören ließ. Hauptmann Storz hatte offensichtlich nicht gewagt, mir einen solchen Rat zu geben, und mir war diese Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen (da ich erst wenige Monate in Tübingen war, kannte ich allerdings auch keinen Arzt, an den ich ungefährdet mit einer solchen Bitte hätte herantreten können.)

Eroberung und Befreiung

[...] Am Tag vor dem Einmarsch der französischen Truppen (in den letzten Apriltagen) wurde der Wirt des Gasthofs Zum Pflug von abziehenden Truppen der Waffen-SS standrechtlich aufgehängt, weil er weiße Bettlaken ins Fenster gehängt hatte. Sein Haus stand an einer anderen Straße gleichfalls am Stadtrand. Die entsetzliche Tat hatte sich von Mund zu Mund rasch herumgesprochen.

Als die Franzosen am nächsten Tag wirklich anrückten (es waren braune marokkanische Soldaten mit weißhäutigen Offizieren), verließ ich mit dem Bauern, seinen drei ledigen Schwestern, die mit ihm den Hof bewohnten, und dem mir rasch lieb gewordenen Hund Barri den Hof am Stadtrand und wir begaben uns in einen ein paar hundert Meter vor der Stadt gelegenen Obstgarten, wo wir in einer Geländewelle Deckung suchten. Es kam dann aber zu keinen Kampfhandlungen mehr, sondern die Panzer rollten ungehindert in die Stadt.

Die Eroberung war für mich mit einem Gefühl der großen Erleichterung und Befreiung verbunden, so dass mich andere Reaktionen, von denen ich erst viel später hörte, überraschten. Der schreckliche Krieg und die drückende und verhasste Hitlerdiktatur waren für mich und absehbar insgesamt zu Ende, eine bessere Friedenszeit konnte man erwarten. Die Eroberung brachte aber zunächst auch mit sich, dass französische Offiziere und Unteroffiziere das Wohnhaus der Familie Hoyler beschlagnahmten, um darin zu wohnen. Wir wurden bei Nachbarn untergebracht. Die Bauern durften nur auf den Hof, um das Vieh zu versorgen. Ich diente als Dolmetscher, da ich in Tübingen als vierte Fremdsprache ein wenig Französisch gelernt hatte. Die Franzosen benahmen sich, vermutlich um ihre Verachtung gegenüber uns zu demonstrieren, sehr unzivilisiert und benützten Taschentücher anstelle von Papier für die Toilette, die danach verstopft war und mühsam gereinigt werden musste. Meine erste Aufgabe bestand darin, ihnen zu erklären, dass Taschentücher für andere Zwecke dienen sollten, und ich hatte damit sogar Erfolg. In den ersten Tagen erfolgten einige Plünderungen, Taschenuhren wurden Passanten gerne abgenommen (so - in einer Unterführung - auch meinem Vater und seinem Freund und Kollegen Dr. Paul Würthle). Einer Frau, die etwa drei Häuser vom Hof Hoyler stadteinwärts wohnte, wurde, so hörten wir, von einem Marokkaner sogar der Ringfinger abgeschnitten, weil er sich anders des Eherings der Frau nicht bemächtigen konnte.

Mein damals 55jähriger Vater, der mit meiner Mutter in der Innenstadt nahe des Marktplatzes ein möbliertes Zimmer bewohnte, wollte den Einmarsch der Franzosen nicht im Keller erleben, wohin sich die übrigen Hausbewohner aus Furcht vor einer Beschießung begaben. Er ging auf den nahen - jetzt völlig leeren - Marktplatz und stand, wie er mir am Tag darauf sagte, als einziger dort. Er rauchte eine Zigarette, als die ersten französischen Panzer auf den Marktplatz rollten. Er sagte mir, die Kanone des vordersten Panzers sei immer hin- und her geschwenkt worden und er habe, als sie auf ihn gerichtet war, kurz beide Hände hochgehoben, worauf der Panzer weiter gerollt sei.

Als ich selbst in den ersten Tagen nach der Eroberung auf dem Marktplatz war, wurden plötzlich alle dort befindlichen jüngeren Männer von französischen Soldaten gezwungen, auf einen offenen Lastwagen zu steigen. Mir war ziemlich unwohl, auf einem Schulhof hatte ich deutsche Kriegsgefangene gesehen. Wohin sollten wir gebracht werden? Man sagte es uns nicht und gab keinerlei Auskunft, aber der Lastwagen fuhr dann zu dem in der Nähe von Biberach gelegenen, etwa 5 km entfernten Lager für britische Zivilinternierte, das dort den Krieg über bestanden hatte. Es war eine Ansammlung von zu diesem Zweck errichteten hölzernen Barackenbauten, die von einem Stacheldrahtzaun umgeben war. Von einer Anhöhe bei Biberach, dem Gigelberg, aus hatte man das Lager, dem sich zu nähern für Deutsche verboten gewesen war, sehen können (als Schüler hatte ich 1943/44 oft dort hinüber gesehen). Die befreiten Internierten sollten jetzt mit Bussen weggefahren werden, vermutlich zu einer Bahnstation, damit sie nach England zurückfahren konnten. Uns wurde in dem Lager gesagt, dass wir den Briten ihr Gepäck zu den Bussen tragen sollten. Ich wurde zwei freundlichen älteren Damen zugeteilt und brachte ihre Koffer, die schon gepackt waren, aus ihrer Unterkunft zum Bus. Sie bedankten sich für meine Hilfe (ich nehme an, sie wussten nicht, wie wir rekrutiert worden waren) und wollten mir dafür eine Schachtel Zigaretten schenken (damals für deutsche Raucher ein sehr gesuchter Gegenstand). Ich lehnte ab und spielte den Kavalier, der diese Hilfe gerne erwiesen habe. Nach Abfahrt der Busse brachte uns der Lastwagen auf den Biberacher Marktplatz zurück, und wir waren wieder frei. Das war ich dann auch immer von nun an.

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