> Dr. Walther Ludwig: Kindheit während der NS-Zeit

Dr. Walther Ludwig: Kindheit während der NS-Zeit

Dieser Eintrag stammt von Dr. Walther Ludwig (*1929 ) aus Hamburg , November 2007 :

"Hillerbub"

In einem Brief vom Frühjahr 1933 schreibt meine Mutter ihrer Mutter nach Düsseldorf, auf der Straße marschierten die Lieder singenden Hitlerjungen mit Fahnen durch die Straßen und ich marschiere den Flur auf und ab und erkläre, auch ein "Hillerbub" werden zu wollen. Ich erinnere mich weder an diese Äußerung noch an die mit ihr verbundenen Gefühle. Wie sehr Kinder schon vor dem Krieg durch Kriegsspielzeug konditioniert wurden und wie das "Heil Hitler_" selbst in Kinderbriefe eindrang, zeigt folgender Brief von mir an meine Großmutter in Düsseldorf, datiert Stuttgart, den 29. Dezember 1937: "Liebe Oma_ Vielen Dank für den schönen Tank und die Trümer [sic]. So einen schönen Tank habe ich noch nie gehabt, aber schon oft gewünscht. Der hat ja Licht. Ich habe mich sehr darüber gefreut und spiele oft damit. Von der Tante Kläre habe ich einen Geländebaukasten (Kampffeld) bekommen, da sind Schützengräben und Unterstände zum zusammensetzen drin. Von meinen Eltern habe ich einen Laubsägekasten und einen Anzug bekommen. Mit meiner Laubsäge habe ich schon einen Minenwerfer, einen Soldat und einen Maulesel ausgesägt. Mein Anzug hat richtige Knigerbocker. Recht viel Glück & Segen wünsche ich Dir zum Neuen Jahr. Mögest Du es recht gesund anfangen. Viele herz. Grüße & Küsse. Heil Hitler_ Dein Enkel Walther."

Im nachhinein ist man geneigt anzunehmen, dass die Erwachsenen in den dreißiger Jahren schon vor dem Krieg erkannt haben müssten, dass Hitlers Politik zum Krieg trieb. Das war aber leider nur teilweise der Fall. Ich erinnere mich, dass meine Mutter im Herbst 1938 äußerst besorgt war, dass es bald zum Krieg käme. Ich tröstete sie und sagte, mein (Grundschul-)Lehrer Otto Pfizenmayer, den ich sehr schätzte, weil er einen so guten heimatgeschichtlichen Unterricht gab (er verfasste 1936 das von mir aufbewahrte Buch "Unser schönes Stuttgart"), habe gesagt, "der Führer" werde einen Krieg sicher verhindern, da er selbst im Weltkrieg Soldat gewesen sei und wisse, wie schrecklich ein Krieg sei. Pfizenmayer war "Pege" (Pg.), wie man die Parteigenossen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei abgekürzt nannte, und glaubte, davon bin ich überzeugt, tatsächlich, was er uns sagte . Meine Mutter blieb skeptisch. Sie wusste es besser.

Nach dem "Anschluss Österreichs" im März 1938 fand eine Volksabstimmung statt, die das "Ja" zu der Vereinigung des Deutschen Reiches mit Deutsch-Österreich (dies war der damalige offizielle Name des Staates) mit einem "Ja" zur Politik des "Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler" verband. Es war das einzige Mal, dass Hitler in einer Abstimmung 99% der Stimmen erhielt. In Stuttgart standen vor den Wahllokalen SA-Männer, die den herauskommenden Wählern eine Anstecknadel mit dem Wort "Ja" gaben. Später hörte ich, dass eine uns weitläufig bekannte ältere Dame diese Anstecknadel abwies, da sie nicht mit Ja gestimmt hätte. Man ließ sie laufen; sie war offenbar im Kopf nicht mehr ganz in Ordnung

Der gelbe Stern

Dass den jüdischen Deutschen schweres Unrecht getan wurde, erfuhr ich früh von meinen Eltern. Ein befreundeter Kollege meines Vaters, der Englischlehrer Bihl emigrierte mit Familie in die USA, weil er eine jüdische Frau hatte. Persönlich kannte ich keine Juden, unter meinen Spielkameraden, in meiner Grundschul- und in meiner Gymnasialklasse waren keine (1935-1937 war ich in der Ev. Falkertschule, die seit 1938 nicht mehr konfessionell bestimmt war, ab April 1939 im Eberhard-Ludwigs-Gymnasium), und dass die guten Ärzte meiner Kindheit Dr. Einstein und Dr. Nastkolb Juden waren, wusste ich damals nicht. An die Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäfte in den frühen dreißiger Jahren erinnere ich mich nicht. Am Morgen des 9. (oder 10.?) November 1938 sah ich auf dem Schulweg in der Schloßstraße ein Cafe, dessen Scheiben eingeschlagen waren, Glas lag zersplittert auf dem Gehweg, die Atmosphäre war gedrückt.

Die entwürdigenden gelben Sterne sind mir in Erinnerung, auch der Umstand, dass auf Parkbänken Plaketten genagelt waren, die besagten, dass es Juden verboten sei, hier zu sitzen. In der Straßenbahn durften sie sich nicht auf einen der Sitze setzen. Beides empfand ich als gemeines Unrecht. Einmal saß ich in einer Straßenbahn in der Stuttgarter Schloßstraße, neben mir stand eine ältere Dame, die einen Stern am Mantel hatte. Ich bot ihr meinen Platz an. Es war damals üblich, dass Kinder älteren Damen und Herren ihren Platz in der Straßenbahn freimachten, und ich wollte durch diese Geste zeigen, dass ich selbstverständlich auch ihr meinen Platz anbot, und ihr damit meine Sympathie bezeugen. Sie wehrte ab und wagte nicht, sich zu setzen. So blieb der Platz einige Zeit frei (es setzte sich auch kein anderer der stehenden Fahrgäste), bis nach einer Haltestation ein Fahrgast hereinkam, der von nichts wusste, und erfreut den freien Platz einnahm. Judendeportationen sah ich nicht, aber man hörte davon, und auch, dass die Juden ins "Kazet" (KZ = Konzentrationslager) kamen, und man konnte sich vorstellen, dass dort Furchtbares mit ihnen geschah. Später, als ich selbst "Feindsender" hörte (1944/45), erfuhr ich mehr von diesen Zwangslagern. Der volle Umfang der systematisch durchgeführten Ermordung der Juden wurde bekanntlich erst nach Kriegsende deutlich. Geahnt und vermutet hatte man jedoch, dass sie in diesen Lagern misshandelt wurden und dass viele dort umkamen.

"Red net z viel, sonscht kommscht nach Dachau"

Eine damalige schwäbische Redensart. Was einem in dem "Konzentrationslager Dachau" genau passierte, wusste man nicht, aber dass alles dort sehr schlimm war, hatte sich rasch herumgesprochen. Dass man nicht offen seine politische Meinung sagen durfte, wenn diese von der herrschenden abwich, wurde einem, sobald man politisch denken konnte, klar, und zu dem "Deutschen Gruß" gesellte sich der "Deutsche Blick", der Blick zurück über die Schulter, um zu sehen, ob jemand das Gespräch, das man führte, belauschen konnte. Professionelle Überwacher (Gestapo und andere Beamte in Zivil) und private Denunzianten, die einen aus Überzeugung anzeigten, waren überall. Die Meinungsdiktatur bedrückte mich, sobald ich alt genug war, um sie zu bemerken, und es ist erstaunlich, dass man dennoch oft rasch mit Menschen ins Gespräch kam, die man bald als Nicht-Nazi erkannte. Freilich war es eine Minderheit, und man musste zunächst immer vom Gegenteil ausgehen. "Der isch au net dafür" war eine elliptische schwäbische Ausdrucksweise, um anzudeuten, dass eine Person regimekritisch eingestellt war und dass man mit ihr reden konnte. Jemanden, der in ein Konzentrationslager kam oder in einem gewesen war, habe ich bis 1945 ebensowenig kennen gelernt wie jemand, der aktive Widerstandshandlungen gegen die Regierung unternahm bzw. an ihnen beteiligt war.

"Heute wird geflaggt"

Aus den 30er Jahren erinnere ich mich, dass es relativ häufig nationalsozialistische Feiertage gab (ich weiß nicht mehr genau welche, u.a. waren es wohl "der Tag der Machtergreifung" am 31. Januar, "Führers Geburtstag" am 20. April und "der Tag der Bewegung" am 9. November), an denen auch an Privathäusern Hakenkreuzfahnen zu sehen waren, die auf Fahnenhalter gesteckt wurden oder aus den Fenstern heraushingen.

Meine Eltern und ich wohnten in einem 1927 gebauten Haus, das im Erdgeschoss und seinen drei Stockwerken acht Wohnungen hatte. Es gehörte ebenso wie die anderen Häuser des Blocks dem württembergischen Staat und wurde vom "Staatsrentamt" verwaltet. Die Wohnungen, die um die 100 Reichsmark Monatsmiete kosteten, hatten 4-5 Zimmer mit gusseisernen Öfen, einer großen Küche mit Gasherd, Holzfeuerstelle und Speisekammer, Bad, Toilette, einer großen Diele, einem langen Flur und einer Veranda; im Dachgeschoss waren außerdem für jede Wohnung zwei Kammern, von denen eine für das "Dienstmädchen" bestimmt war (bis Kriegsbeginn hatten alle Familien solche Dienstmädchen), die andere als Abstellkammer diente. Mein Vater hatte dort außerdem noch ein zusätzliches Zimmer ohne Schrägen als ruhiges Arbeitszimmer für sich gemietet. Auf dem darüber liegenden Speicher war jeder Wohnung ein Verschlag zugeteilt, in dem auch Gegenstände aufbewahrt werden konnten, im Souterrain und dem darunter liegenden Keller zwei Räume (im Souterrain einer mit zementiertem Boden für Kohlen und darunter einer mit Naturboden für Kartoffeln und andere Nahrungsmittel), dazu kamen der gemeinsame Waschraum für die große Wäsche und das gemeinsame Bügelzimmer (diese Zimmer waren jeweils an bestimmten Tagen für eine der acht Hausfrauen - keine der Ehefrauen war berufstätig - zur Benützung reserviert).

Vor dem Haus war eine öffentliche Grünanlage, hinter ihm ein mit Rasen und Bäumen bepflanzter Hof mit einer Teppichstange zum Ausklopfen der Teppiche und zahlreichen Holzpfosten, um daran die Seile zum Trocknen der Wäsche zu befestigen. Die Verschläge auf dem Speicher wurden zu Kriegsbeginn wegen Feuergefahr bei Fliegerangriffen beseitigt, die Kammern im Dachgeschoss wurden nach dem Krieg von den Wohnungen getrennt und zu eigenen Wohnungen gemacht. Die Wohnungsinhaber mussten nach dem Krieg im Zeichen der Wohnraumbewirtschaftung oft ein Zimmer untervermieten, wie dies auch bei uns der Fall war.

Die Mieter des Hauses waren bis zum Krieg ausschließlich höhere Beamte, vom Studienrat bis zum Landgerichtsdirektor (in einem Nebenhaus wohnten drei Präsidenten und ein Professor der Technischen Hochschule, in einem anderen Haus des Blocks Beamte des gehobenen Dienstes). Die Mieter des Hauses, in dem wir wohnten, waren bis auf eine katholische Familie alle evangelisch, die Haushaltsvorstände waren bis auf zwei alle Mitglieder der NSDAP; ein Kriminalrat trug ein Abzeichen der SS am Revers, stellte das jedoch nach Kriegsende in Abrede. Keiner von ihnen war der Partei vor dem 31. Januar 1933 beigetreten (dann wäre das am Revers getragene Parteiabzeichen von einem goldenen Lorbeerkranz umgeben gewesen, wie es bei einem meiner Lehrer im Eberhard-Ludwigs-Gymnasium der Fall war, dem "alten Kämpfer" Studienrat Bosch, der uns in der 2. Gymnasialklasse in Latein unterrichtete). Die relativ hohe Prozentzahl der Parteimitglieder in meinem Wohnhaus hat damit zu tun, dass alle Mieter höhere Beamte waren, für deren Laufbahn die Mitgliedschaft in der Partei von erheblicher Bedeutung war. Mein Vater, seit 1921 Studienrat und kein Parteigenosse, wurde bis 1945 nicht zum Oberstudienrat befördert. Wir wohnten im dritten Stock ebenso wie der kinderreiche Katholik, der wie mein Vater nicht in der Partei war.

Wenn geflaggt wurde, hingen aber aus jeder der acht Wohnungen Fahnen heraus. Wir hatten eine etwa 100 x 60 cm große Hakenkreuzfahne und eine ebenso große schwarz-weiß-rote Fahne. Ich erinnere mich, dass meine Mutter einmal zu mir sagte, dass man flaggen müsste, weil das Nichtflaggen registriert werde, wir aber die kleinste Hakenkreuzfahne hätten und dazu die nicht immer auch vorhandene staatliche schwarz-weiß-rote. In der Tat hing aus der Nebenwohnung eine mehr als doppelt so große Hakenkreuzfahne.

Auch auf ein Hitlerbild hatten meine Eltern nicht verzichtet (es war eine schwarz-weiße Graphik des Kopfes). Es hing im nur für besondere Anlässe (Besuche und Familienfeiern) benützten "Herrenzimmer", und zwar neben einem Bild, das "der alte Kurs" hieß und wohl von meinem Großvater stammte, der Pfarrer an der Stuttgarter Stiftskirche gewesen war und den Sieg von Sedan als Sechzehnjähriger Seminarist aus Blaubeuren im Ulmer Münster gefeiert hatte. Das Bild zeigte in Kombination nebeneinander Kaiser Wilhelm I., Bismarck und Moltke. Im übrigen hingen in diesem Zimmer nur "Ahnenbilder" aus unserer Familie. Ich habe leider nach dem Krieg meine Eltern nie gefragt, warum sie trotz ihrer Einstellung zu Hitler ein Hitlerbild in ihrer Wohnung aufgehängt hatten. Es scheint, dass es ihnen ratsam schien, in dem offiziellen Besuchszimmer ein "Führerbild" zu zeigen.

"Ein deutscher Junge grüßt mit Heil Hitler"

In Stuttgart war der übliche Gruß "Grüßgott" (wobei einem nicht klar war, ob das bedeuten sollte, dass Gott dich grüßt oder dass du Gott grüßen sollst). Der "Deutsche Gruß", das "Heil Hitler" mit und ohne ausgestreckt erhobener rechter Hand, war in Amtsstellen verbindlich, wurde erwartet, aber nicht immer befolgt. Auch Schreiben an Behörden hatten mit den Worten "Mit deutschem Gruß" bzw. "Heil Hitler_" (anstelle des altmodischen "hochachtungsvoll") zu enden und viele benützten diese Schlussformel auch in Privatbriefen. In Läden beim Einkaufen sagte man als Gruß "Grüßgott". Ich erinnere mich, dass ich als Kind einmal Briefmarken auf unserer Post kaufte (sie zeigten den verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg und kosteten 10 Pf. für eine Postkarte, 12 Pf. für einen Brief). Der Postbeamte am Schalter, den ich mit Grüßgott begrüßte, belehrte mich in unangenehmem Ton "Ein deutscher Junge grüßt mit Heil Hitler", ich ließ mich aus Vorsicht auf keine Diskussion ein.

Die Schulen bzw. die Lehrer in ihnen unterschieden sich. Eigentlich hatten sie ihre Klassen mit "Heil Hitler" zu begrüßen. Im Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart war die große Mehrzahl der Lehrer keine Parteigenossen; einer jedoch war der eben erwähnte "alte Kämpfer". Man konnte in dieser Schule die verschiedensten Variationen des Hitlergrußes hören und sehen. Die Parteigenossen grüßten natürlich stramm, die anderen sprachen den Hitlergruß teilweise so rasch aus, dass er unverständlich wurde, und erhoben ihre Hand nur zu einem Wedeln oder grüßten gelegentlich sogar mit Guten Morgen oder mit Grüß Gott. Es war eine Besonderheit dieser Schule, dass nicht nur der Direktor, Dr. Hermann Binder, kein Parteigenosse war, sondern dass auch zwei aus politischen Gründen an anderen Gymnasien abgesetzte Schuldirektoren an ihr unterrichteten, Dr. Griesinger und Dr. Würthle.

Merkbar anders war nach meiner Erinnerung die politische Atmosphäre im Uhland-Gymnasium Tübingen, in dem ich im Schuljahr 1944/45 Schüler war. Es wurde von dem Oberstudiendirektor Otto Binder geleitet, einem Vetter, wie ich damals hörte, des Hermann Binder, der dem Eberhard-Ludwigs-Gymnasium vorstand. Er gab einen sehr soliden Latein- und Geschichtsunterricht und war laut Gottfried Schwemer (Schulwege: Jubiläumsbuch des Uhland-Gymnasiums, hrsg. vom Uhland-Gymnasium Tübingen, Tübingen 2001, S. 45) "kein Parteimitglied". Das in unserer Klasse übliche Morgenritual war jedoch, dass der Lehrer die Klasse nicht nur mit "Heil Hitler" begrüßte, sondern der Klassenprimus auch mit ausgestreckter Hand den Gruß erwidern und militärisch "melden" mußte, wie viele Schüler anwesend und wie viele entschuldigt oder unentschuldigt abwesend waren, ein Ritus, den ich bis dahin nicht gekannt hatte.

  • Jugendjahre während des Krieges

 

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