> Edith Ruhöfer: Kinderlandverschickung in den Schwarzwald

Edith Ruhöfer: Kinderlandverschickung in den Schwarzwald

Dieser Eintrag von Edith Ruhöfer, geb. Mentges (*1930) aus Duisburg (ruhoeferetti@arcor.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

Nach Beginn des Krieges wurde fast täglich der Ernstfall geprobt. Wenn die Sirene heulte, mussten die Leute in den Keller. Ein gepackter Koffer mit den wichtigsten Papieren und Sachen sollte immer bereit stehen. Erst bei Entwarnung durften sie den Keller verlassen. Damit auch die Vorschriften eingehalten wurden, gab es jeweils für ein paar Häuserreihen einen Blockwart, Leute, die meistens wie 'scharfe Hunde' waren, weil sie mit den 'Wölfen' heulen wollten. Dann begannen die Angriffe. Erst ein oder zwei in der Woche, später Tag und Nacht. Schon bei den ersten Bombenangriffen wurde die Schule zerstört. Immer häufiger mussten die Schutzräume aufgesucht werden. Die Sirene weckte die Bewohner schon mit dem ersten Ton. Später wurde sie manchmal nicht gehört, weil die Menschen übermüdet waren.

Mich schickte man für 6 Wochen in die Kinderlandverschickung. Mutter bestand darauf, weil ich Untergewicht hatte. Ich sollte mein Bäuchlein mal so richtig voll bekommen. Ein wenig Angst um die Familie nahm ich aber mit - weil ich inzwischen wusste, was diese Angriffe anrichten konnten. Außerdem gab es noch einen Grund zur Sorge, der aber mein Geheimnis war: Mutti hatte einen dicken Bauch und das hieß, dass sie ein Baby bekommen würde. Das durfte man aber in meinem Alter (9 Jahre) seinerzeit noch nicht wissen. Ich aber wusste es aus dem Doktor-Buch, das im Wäscheschrank unter der Bettwäsche lag. Aufklärung durch die Eltern fand damals nicht statt. Erst ein paar Tage war ich auf dem Land, als ich einen Brief bekam, in dem stand, dass ich ein Schwesterchen bekommen habe - eine Ursula. Jetzt wusste ich auch, weshalb Vater immer gesungen hatte: "Ich wünsch mir eine kleine Ursula …"

Wieder eine Zeit zuhause bei der Familie und dem kleinen Schwesterchen, ging wieder ein Transport, dieses Mal in den Schwarzwald zur Bühler Höhe ins Kurhaus Plättig. Dorthin fuhr man mit dem Schiff den Rhein aufwärts. Das war für uns Kinder ein ganz großes Erlebnis. Auf dem Schiff waren Matrosen in weißen Uniformen mit blauen Bändern an den Mützen. Jeden Abend legte das Schiff irgendwo an, wo die Kinder von Leuten abgeholt wurden, bei denen sie übernachteten. An der Anlegestelle in Germersheim wurde ich von einer Frau abgeholt, die in Begleitung ihrer Tochter war. Die Tochter hieß Zita. Sie war drei Jahre älter als ich. Das wusste ich aber damals nicht. In der BDM-Uniform erschien sie mir sehr erwachsen. Die Freundschaft mit Zita besteht heute noch.

Das Lagerleben war wunderbar, zumal alle Kinder mit dem Glauben an den Führer infiziert waren und ihr Sinnen und Trachten ganz auf ihn ausgerichtet war, also: gehorchen im Sinne des Führers. Morgens wurde als Erstes die Fahne gehisst. Alle standen im Halbkreis, in Uniform natürlich, mit erhobenem Arm. Und während die Fahne hochgezogen wurde, sangen sie: "… denn die Fahne ist mehr als die Freiheit und der Tod …". Am Abend wurde sie wieder eingeholt mit dem Lied: "Wir holen die Fahne nieder, sie geht mit uns zur Ruh, und morgen weht sie wieder neuen Kämpfen zu …"

Es war einfach schön, vor allem hat mir die Gemeinschaft gefallen. Und dann der Schwarzwald, das Kapellchen hinter dem Kurhaus, der kleine Steilhang - die Abkürzung von Bühl hinauf zur Höhe, über Wurzeln, durch Gestrüpp, manchmal auf allen Vieren, das alles war so wunderbar und hat sich mir stark eingeprägt ... Wenn ich heute daran denke, spüre ich meine Schritte - bergauf und bergab, rieche den Duft des Waldes und höre das Knirschen meiner Sohlen auf dem Kiesweg zum Hotel. Schon als Kind waren in mir Empfindungen für alles Schöne in der Natur sehr ausgeprägt. Einmal hat das ganze Lager im Schnee eine Nachtwanderung zum nahe gelegenen Jungenlager gemacht, denen wir dann ein Ständchen brachten. Da flogen die Fenster auf und zum Dank brach ein Pfeifkonzert los, das sich in den dunklen Baumkronen verfing. Geschriebene Grüße um Steine gewickelt flogen in die Fenster. Es war ein wunderbares Erlebnis.

Das Kurhaus hatte einen großen Saal mit Parkettboden, auf dem es sich herrlich Spitzentanzen ließ - himmlisch für mich. Nur der Verschleiß der vielen Pantoffeln brachte meine Mutter echt in Schwulitäten, weil sie nicht wusste, wo sie die alle herholen sollte, es gab ja nichts. Auch die Weihnachtszeit ist unvergesslich. Für die Kinder, deren Väter im Krieg waren, wurde Spielzeug hergestellt. Ganz besonders ist mir das Schmirgeln der Bauklötze noch in Erinnerung. 90 Mädels, so viele waren wir, schmirgelnd und singend an Tischen. Das kann man nicht vergessen. Vor allem auch den Duft des Holzes nicht, der durch das ganze Haus zog. Als dann Weihnachten war und die Päckchen von zuhause geöffnet wurden, flossen Freudentränen, und Heimweh kam auf.

Natürlich hatte das Haus auch ein Krankenzimmer. Bei so vielen übermütigen Wilden kam es oft zu kleinen Unfällen, und daneben mussten auch andere Wehwehchen behandelt werden, so dass das Zimmer nie unbewohnt war. Ich hatte freiwillig die Versorgung der Kranken übernommen. Zu jeder Malzeit brachte ich auf einem Tablett das Essen zu den Kranken. Wenn ich dann endlich selber zum Essen kam, waren die anderen schon fertig. Das machte mir aber gar nichts aus. Eine Art Belohnung, so sah sie es, bekäme sie dann irgendwann vielleicht vom lieben Gott einmal dafür. Die Zeugnisse standen an. Am Kopf der Zeugnisse waren vier Fächer: Ordnung, Disziplin, Einsatzbereitschaft und Kameradschaft. Das war in einem Lager sehr wichtig. Die Benotung der Fächer Einsatzbereitschaft und Kameradschaft erfolgte im Kreise aller. Es wurde gefragt: "Was glaubt ihr, hat die oder die in dem oder dem Fach verdient?" Dann galt die Frage meinem Zeugnis, und die Mädels riefen: "Sehr gut, sehr gut …"

Es ist kaum zu beschreiben, wie glücklich ich war. Ich hatte das doch alles gerne getan, es hatte mich stolz gemacht, helfen zu dürfen, und nie hatte ich gedacht, dass dies etwas Besonderes sei, und dafür auch noch in der Form belohnt zu werden, das konnte ich kaum verstehen. Aber ich war ganz stolz. So brachte ich ein Zeugnis nach Hause mit vielen guten Noten. Die beiden Fächer oben stärkten mein Selbstbewusstsein, das bei mir kaum vorhanden war …

Ein halbes glückliches Jahr war dann beendet. Meine Mutter hatte inzwischen noch ein Baby bekommen, wieder ein Mädchen. Und als Schutz vor den Bombenangriffen gab es nicht mehr nur die Luftschutzkeller, es gab jetzt Luftschutzbunker - hohe eckige Betonklötze, mit lauter kleinen runden Luftlöchern, die auch heute noch - so, als wären sie sich ihrer Unüberwindlichkeit bewusst - ihr Umfeld beherrschen. Viele Menschen konnten dort Zuflucht finden. Auch in der Unterführung unter dem Bahngelände, dem so genannten gelben Bogen, hatte man die Stollen, die rechts und links hinter der Mauer verliefen, zum Schutz vor den Bomben für die Menschen zugänglich gemacht. Für meine Familie war die Unterführung am nächsten und sichersten.


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