> Edith Ruhöfer: Kriegsende 1945 in Ravensburg

Edith Ruhöfer: Kriegsende 1945 in Ravensburg

Dieser Eintrag von Edith Ruhöfer, geb. Mentges (*1930) aus Duisburg (ruhoeferetti@arcor.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

Bei drei schweren Luftangriffen auf Duisburg im Oktober 1944 starben mehr als 2500 Menschen. Das war zuviel für meinen Vater. Er bestand darauf, dass seine Familie mit dem nächsten Transport in die Evakuierung nach Biberach fuhr. Vater ließ nicht locker und so machten Mutter, ich, die ältere Schwester und die beiden Kleinen sich auf den Weg nach Biberach. Am Tage war es immer gefährlich mit dem Zug zu fahren, wegen der Tiefflieger, die überraschend aus den Wolken geschossen kamen mit einem unheimlich heulenden Ton, doch dieses Mal blieben sie aus. So kamen wir wohlbehalten in Biberach an, wo uns eine Wohnung zugeteilt wurde.

Erst ein paar Tage wohnten wir dort, als es an der Tür klingelte. Mutter öffnete. "Von ihrem Sohn", sagte eine Männerstimme. "Lebt er?", fragte die Mutter, während sie gebannt auf einen weißen Zettel blickte. Der junge Soldat hatte genickt und verlegen mit dem Zeigefinger an den Rand seines Käppis getippt, bevor er sichtlich gerührt über die Freude, die seine Botschaft bereitet hatte, verschwand.

"Er lebt! Er lebt!", rief Mutter immer wieder. "Er ist nur verwundet und liegt in einem Lazarett in Ravensburg - in Ravensburg - gar nicht weit von hier lebt Günter!" Dabei weinte sie. Bruder Günter war mit achtzehn zur Waffen SS gegangen. Schon lange waren Briefe an ihn ohne Antwort geblieben. Aber Mutter hatte ihm unentwegt alles berichtet, so auch von der Evakuierung. Zwar war schon hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen worden, dass der Krieg bald zu Ende wäre, aber keiner wusste was Genaueres. Da klopfte doch eines Tages tatsächlich dieser junge Soldat an die Tür unseres neuen Zuhauses, und überreichte einen Zettel - ein Wunder!

Nichts auf der Welt hätte Mutter davon abhalten können, ihn dort zu suchen, auch nicht das Näherrücken der Front, die schon zu hören war. Hals über Kopf wurden die Rucksäcke gepackt, und große, kleine und noch kleinere Füße machten sich auf den langen Weg zu Fuß von Biberach nach Ravensburg, darauf vertrauend, gelegentlich von einem Fahrzeug mitgenommen zu werden. Und so war es dann auch. Ein Bauer hatte Erbarmen und nahm uns auf seinem Pferdefuhrwerk mit. Doch plötzlich stürzte ein Tiefflieger aus den Wolken. "Runter vom Wagen!", rief der Bauer. Die in Panik geratenen Pferde bäumten sich auf und stoben los, noch bevor alle vom Wagen gesprungen waren. Durch den plötzlichen Ruck fielen wir auf den Weg. Mutter hatte Mühe, die Kleinen in ein Kornfeld zu ziehen. Kugeln peitschten den Sand auf. Der schwarze Vogel kam zurück, stürzte sich aufheulend auf die am Boden liegenden und verschwand wieder. Dann war es still, beklemmend still ...

"Die schießen auf alles, was sich bewegt", rief der Bauer. "Gehen Sie zu dem Hof dort drüben und warten Sie, bis es dunkel ist." Die Bäuerin hatte den Angriff beobachtet und ließ uns ins Haus. Als es dunkel geworden war, ging es weiter in Richtung Ravensburg. Das Grollen der Front im Rücken, ein glutroter Himmel über dem angestrebten Ziel ließ glauben, auf dem Weg in die Hölle zu sein.

Auf der dunklen Landstraße lag ein erschossenes Pferd in seinem getrockneten Blut. Das Weiß seiner Augen leuchtete gespenstisch in der Dunkelheit. Die Kleinen schrien vor Angst. Ihre Schreie zerrissen die Stille in einer Feuerpause. Ein Trupp Soldaten mit Panzerfäusten auf den Schultern tauchte aus dem Dunkel auf - lautlos. Ihre Stiefel waren mit Lappen umwickelt. "Sie sind hier in Frontnähe, verhalten Sie sich ruhig!" Leise, aber bestimmt war die Aufforderung. Dann hatte die Nacht den Trupp verschluckt. Die Kleinen hingen an der Mutter und an der Schwester. Einsamkeit herrschte wieder. Klein wie eine Ameise und schutzlos fühlte ich mich . Sogar der Schutz meiner Mutter hatte an Bedeutung verloren vor der unendlichen Weite der Landstraße unter dem blutroten Himmel ... Dieses Gefühl, bei Nacht auf einer Landstraße, kein Haus, kein Leben nur Felder und Himmel - und diese Angst. Es lässt sich nicht beschreiben. Ich fühlte mich so winzig klein, allein in dieser großen, weiten, gefährlichen Welt.

Vielleicht hatte Mutter auch diese Angst gespürt und ein Gebet zum Himmel geschickt, denn irgendwann tauchte aus der Dunkelheit ein Lastwagen auf, dessen Fahrer sie alle mitnahm. Es war ein Verwundetentransporter auf dem Weg zu einem Lazarett in die Stadt unter dem roten Himmel. Der Lastwagen fuhr ohne Licht. Niemand sprach ein Wort. Nur das leise Summen der Motoren und das verhaltene Stöhnen der Verwundeten waren zu hören.

Es war schon hell geworden, als Ravensburg zu sehen war. Vor der Stadt brannten die Munitionsdepots. In einem Auffanglager, einer großen Halle mit ein paar hundert dreistöckigen Betten, belegt von Männern, Frauen und Kindern, fanden wir Unterkunft. In dem Chaos der Stadt, zwischen den vielen Verwundeten fanden wir auch Bruder Günter.

In den nächsten Tagen war die Artillerie nur noch selten zu hören. Ravensburg wurde kampflos übergeben. Jubelnd empfingen die Menschen die französischen Befreier, bewarfen sie mit Blumen. Wie ausgelassene Kinder gebärdeten sich auch die Soldaten, sprangen von ihren Panzern, umarmten Leute, die ihnen Blumen an die Stahlhelme steckten. Es gab keinen Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern. Es gab nur überglückliche Menschen ...


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