> Else Freifrau von Salmuth: Revolutionäre Kämpfe in Berlin-Lichtenberg am 8. März 1919

Freifrau von Salmuth: Revolutionäre Kämpfe in Berlin-Lichtenberg am 8. März 1919

Erlebnisbericht von Else Freifrau von Salmuth aus Berlin, Auszug aus: "Meine persönlichen Erlebnisse bei den Lichtenberger Unruhen vom 3. bis 10. März 1919. Niedergeschrieben für unsere Freunde und Bekannten" (DHM-Bestand; Inv.-Nr.: Do 56/2130), verfasst um 1925:


Sonnabend früh gegen 9 Uhr plötzlich wieder wilde Schießerei auf der Frankfurter Allee vom Eisenbahnverbinder her. Das Volk lief und flüchtete wie toll. Besonders viele Frauen und Kinder. Sobald das Schießen verstummte, waren alle wieder da wie aus der Erde hervor gezaubert. Die Neugierde lockte sie hin. Das Gesindel auf den Straßen wurde immer schlimmer, man sah so recht, daß es Spartakusleute waren. Anständige Gesichter waren nicht viele zu sehen. An allen Straßenecken bildeten sich Gruppen, Radler und Autos sausten vorbei, einzelne finstere Gestalten lungerten an den Ecken herum, gaben Apachenpfiffe. Dazwischen Soldaten und Matrosen in Uniformen.

Wir waren völlig abgeschnitten, wie auf einer Insel, rings umgeben von Spartakusleuten, die große Barrikaden um Lichtenberg herum gebaut hatten, gegen die Regierungstruppen. Mehrmals des Vormittags riefen uns die Mädchen in großer Erregung ans Fenster. Ich hatte sie ruhig sogar noch Fenster putzen lassen in der sicheren Annahme, daß uns nichts passierte und in der Absicht, sie zu zerstreuen und abzulenken.

Das Volk schien unruhig zu laufen. Wiederholter Kanonendonner ertönte dumpf. Wir sahen alles vom Erkerplatz aus. Wir deuteten es uns als gutes Zeichen und freuten uns noch immer über die nahenden Truppen. Mittags wurde das Straßengewühl schlimmer. An den Häusern der Frankfurter Allee sahen wir dichte Menschenmassen, in den Hauseingängen und auf allen Balkons. Inzwischen traf bei meinem Mann die unangenehme Nachricht ein, daß die Regierungstruppen noch fern seien, an Hilfe für uns nicht zu denken sei. Alle Fenster waren mit Menschen besetzt, die herausgafften, in der Richtung der Schießerei. Auch aus den gegenüberliegenden Häusern der Alfredstraße blickten Neugierige, vielleicht auch Spartakisten heraus. Dort sollte ein berüchtigter Spartakusmann wohnen, der uns schon lange beobachtete. [...]

Gegen 2 Uhr aßen wir am Sonnabend zu Mittag. Plötzlich begann von der Hofseite unseres Hauses eine kurze Schießerei. Die Mädchen stürzten erregt ins Zimmer und riefen, daß unsere Küche vom Hof aus beschossen würde. Alle Mann auf Posten! An den Fenstern der Hinterhäuser sahen wir einige höhnisch lächelnde Frauenköpfe und einen Mann. Aus welcher Richtung wir beschossen wurden, war nicht festzustellen. Man hörte nur das Knallen, sah aber nicht das Aufschlagen der Kugeln. Das Ganze dauerte etwa 5 Minuten. Das Volk auf der Frankfurter Allee sammelte sich immer mehr an zu einer schwarzen Masse. Es kam eine unheimliche Bewegung in die Leute. Radler rasten dahin, Autos sausten wieder vorbei. Dann kam die telephonische Nachricht, daß die Post gestürmt würde. Gleichzeitig hob ein lautes Krachen von gebündelten Handgranaten, Maschinengewehren und Minenwerfern in unserer nächsten Nähe an. Es war das Ärgste, was wir bisher erlebt hatten. Die Post liegt in der Magdalenenstraße, einer Parallelstraße der Alfredstraße. Der Rückausgang der Post mündet in unsere Alfredstraße dem Präsidium gegenüber. Die Post hatte 50 Mann Besatzung und viel Munition und 4 Maschinengewehre erhalten.

Plötzlich wurde mein Mann verzweifelt um Hilfe angeklingelt, von einem blutjungen Leutnant auf der Post, der die Nerven verloren hatte. Mein Mann bemühte sich sofort, bei der Division noch Truppen heranzurufen. Leider vergeblich! Es hieß, man hätte nicht genug Truppen. Ich riet ihm, Flieger alarmieren zu lassen. Das tat er. Man antwortete auf seinen telephonischen Anruf, daß diese in Potsdam seien und nicht so schnell herankommen könnten. Er bemühte sich noch weiter bei anderen militärischen Stellen, denn noch einige Male flehte ihn der Leutnant um Hilfe an. Plötzlich Schluß des Telephongespräches! Noch ein furchtbares Krachen von Minen und gebündelten Handgranaten. Die Post war gefallen! Wildes Geschrei drang zu uns herüber. Es waren furchtbare Minuten, die wir durchlebten. Man wußte, daß die Besatzung der Post verloren sei, gefangen oder gar sofort niedergemetzelt würde.

Aus dem Hinterausgang der Post winkte ein Soldat zu unserem Präsidium herüber. Er flüchtete zu uns über die Straße und berichtete uns folgendes: Die Post hätte kapituliert, und alle Munition nebst 4 Maschinengewehren wären den Spartakisten in die Hände gefallen. Der Leutnant sei verwundet, 6 Soldaten tot, viele verwundet, die anderen würden jetzt gefangengenommen. Der Leutnant hätte unvorsichtigerweise Verwundete abtransportieren lassen, dabei seien die Spartakisten in die Tür gestürmt und somit in die Post gelangt. Leider hätte man die 4 Maschinengewehre nicht mehr zerstört!

Unsere Beamten, die teilweise gerade versammelt waren, erblaßten. "Dann sind wir verloren", riefen sie, "denn gegen solche Übermacht sind wir nicht imstande uns zu halten. Die Spartakusleute werden jetzt die ganze Munition der Post gegen das Präsidium verwenden!"

Und richtig! Kaum dauerte es 20 Minuten, da ging von den Dächern der gegenüberliegenden Häuser und von den seitlich gelegenen Häusern der Frankfurter Allee und vom Wagner-Platz her ein wildes Schießen auf unser Präsidium los. Ueberall waren die Maschinengewehre in Stellung gebracht. Zu sehen war nichts. Mein Mann lief durch alle Etagen, um Befehle zu geben, mein Sohn Curt begleitete ihn als sein Adjutant.

Und nun ging die Hölle los! Die Kugeln sausten nur so um uns herum und prallten mit lautem Getöse an den Häusern und am Präsidium ab. Die Handgranaten krachten nur so. Nach 10 Minuten wurde das Feuer wilder. Von den gegenüberliegenden Dächern bewarf man uns jetzt mit gebündelten Handgranaten, da einfache nicht auszureichen schienen. Ich rannte zu den vor Angst halbtoten Mädchen, um sie etwas zu beruhigen, und fand das Stubenmädchen laut weinend, zitternd, mit den Füßen strampelnd vor. Das arme Ding klammerte sich förmlich an mich und die Köchin und bat mich flehentlich, nicht in die Büros zu gehen, sondern bei ihr zu bleiben. Aber ich mußte fort, zu Mann und Sohn hinüber, um nach ihnen zu sehen, die in größter Gefahr waren. [...]

Ich hielt die Sache für verloren. Mein Mann und die Beamten auch. So hielt ich es auch für unrecht, noch mehr brave Schutzleute unnötig zu opfern. 3 waren schwer verwundet, einer tot. Ich wurde aus dem Zimmer geschickt, mein Mann beriet sich mit einem Polizei-Offizier. Zurückgerufen, bat mich dann mein Mann, ihm doch schnell eine lange Stange und ein weißes Tuch zu geben. Ich rannte nun in die Küche, holte einen großen Besen, da ich nichts anderes in der Eile fand, und ein Küchentuch. Jede Sekunde war kostbar und konnte Menschenleben retten.

Mein Mann und unsere gesamte Besatzung schrieen nun förmlich aus den Fenstern: "Aufhören, nicht mehr schießen". Endlich hörte man auf. Dann ein lautes Brüllen und wie die wilden Tiere stürzte eine Horde von 400-500 Mann auf unser Präsidium zu und einige stürzten durch den Torweg die Treppe herauf, den Beamten entgegen. [...]

Ich mußte wissen, was mit meinem Mann geschah, und es bot sich mir ein nervenerschütternder Anblick. An 20 Beamte, mein Mann in der Mitte, alle ohne Kopfbedeckung, umringt von schreienden, drohenden Spartakusleuten, die mit Stöcken und Kolben auf sie einhieben. Etwas weiter weg, die ganze Straße bis zur Frankfurter Allee schwarz voll brüllender, johlender Volksmenge. Mir fiel die Christusszene ein: "Kreuziget ihn! Kreuziget ihn!" Es war furchtbar. "Stellt die Schweine doch gleich an die Wand und schießt die Hunde tot. Ihr Schweine, Ihr Hunde!" brüllte alles durcheinander. Mein Mann, der sonst so frische Farbe hat, war still und totenbleich, die anderen auch. Plötzlich holte ein Mann zum Schlage aus auf den Kopf eines etwas korpulenten Beamten. Es war dieser der eine Wachtmeister, den diese Bestien später zu Tode geprügelt und getreten haben.

Ich sah noch, daß man alle abführte, unter Brüllen und Johlen des Volkes. Ein Segen, daß ich nicht hinuntergelaufen war. Man hatte, wie ich richtig vermutete, meinen Mann nicht als Präsidenten erkannt. Wäre ich hinuntergelaufen, hätte ich ihn verraten. So ahnte die Bande nicht, welchen Fang sie gemacht. Meinem Mann konnte ich nicht mehr helfen, dieses Bewußtsein war trostlos. Da kam mir der Gedanke an Curt. Ihn zu retten, zu erhalten war jetzt meine Aufgabe.

lo