> Erich Stubel: Flucht und Verteibung aus Ostpreußen und Hinterpommern 1944-1946

Erich Stubel: Flucht und Verteibung aus Ostpreußen und Hinterpommern 1944-1946

Dieser Eintrag stammt von Erich Stubel (*1930) in Zusammenarbeit mit Horst Ahrens Hamburg, August 2012:

Ich verbrachte meine Kindheit in Gumbinnen / Ostpreußen. Dort wurde es im Herbst 1944 kritisch. Auch wir bereiteten uns nun auf die Flucht vor. Der Fluchtwagen war bereits beladen, und am 21.10.1944, im Morgengrauen, spannte Großvater den Fuchs und den Schimmel an. Großmutter und Schwester stiegen auf den Wagen, meine Mutter, Henri und ich schoben unsere Fahrräder hinterher. Wir fuhren nach Pabbeln, Richtung Norden, das hatten uns die Soldaten empfohlen. Um die Mittagszeit, etwa nordwestlich vom Gumbinnen, stauten sich die Flüchtlingsfahzeuge an einer Kreuzung. Ein Leutnant der Fallschirmjäger, im kurzärmeligen Hemd, regelte den Verkehr. Es fuhren Fallschirmjäger in einem Kübelwagen mit einem gefangenen Russen vorbei. Die Sonne schien - wir fühlten uns in Sicherheit.

Die ersten beiden Tage war von einer Organisation zur Lenkung oder Betreuung der Flüchtlinge nichts zu sehen. Erst ab den dritten Tag bekamen wir Quartiere zugewiesen. In Locken, Kreis Osterode, bezogenen wir auf einem kleinen Hof Winterquartier. Die Frau, der Mann war Soldat, empfing uns nicht gerade freundlich. Mit ihren ca. 10- und 8-jährigen Söhnen sprach sie nur masurisch ( war das polnisch? ). Ihre größte Sorge war, dass für ihr Pferd und ihre beiden Kühe das Winterfutter nicht reichen würde, wenn unsere beiden Pferde blieben.

Ungefähr Mitte November hatte meine Mutter erfahren, dass Flüchtlingstransporte nach Pommern und Sachsen gehen sollten. Wir entschlossen uns, nach Pommern zu fahren. Henri kam in eine Sammelstelle für französische Kriegsgefangene. Die beiden Pferde übernahm die Wehrmacht, unsere Wagenladung konnten wir mitnehmen, es blieb nur der leere Leiterwagen stehen. Anfang Dezember wurden wir auf der Bahnstation Hagenow/Pommern ausgeladen. Wir sollten zu dem Hof von Frau St., die einen Kastenwagen geschickt hatte. Der Wagen musste zweimal fahren, wir hatten außer unseren Betten, auch Säcke mit Getreide, Steintöpfe mit Schmalzfleisch, gefüllte Weckgläser, Geräuchertes, ja sogar die Pferdegeschirre und die Fahrräder mitgebracht.

Frau St. und ihre ca. 35-jährige Tochter begrüßten uns herzlich und führte uns in ein großes möbliertes Zimmer. Wir wohnten jetzt auf einem großen Bauernhof von ca. 50 ha, vier weitere Höfe dieser Größe waren nebenan. Wir freuten uns, waren wir doch dem gefährdeten Ostpreußen und dem armseligen Masuren entronnen. Größer war die Freude noch, als mein Vater Mitte Dezember für drei Wochen aus der Nähe von Goldap in Urlaub kam. Wir lebten fast wie in Puspern, nur räumlich etwas beengt. Am 11. Januar 1945 teilte Vater uns mit, dass er gut bei seiner alten Einheit angekommen sei. Es sollte sein letzter Brief sein, der uns erreichte. Am 13. Januar begann an der gesamten Ostfront die russische Winteroffensive.

In Pommern hatten wir es gut bei Frau St. Sie trug noch immer Trauerkleidung, ihr einziger Sohn war im Sommer 1944 in Italien gefallen. Ihre ganze Liebe galt nun einer knapp 3-jährigen Warmblutstute, die ihr Sohn als Fohlen gekauft hatte. Sie wurde bei gutem Wetter von einem französischen Kriegsgefangnen auf der Weide hinter dem Hof an einer langen Leine bewegt, durfte weder geritten noch angespannt werden. Ihre Tochter, Frau W., war zu uns sehr nett. Sie hatte ungefähr 12 Jahre in Berlin gelebt und war mit einem Architekten verheiratet, der jetzt Soldat an der Westfront war. Sie hatten keine Kinder und war zur Unterstützung ihrer Mutter in der Landwirtschaft aus der Dienstverpflichtung in der Industrie gelöst worden. Sie versorgte uns mit Zeitungen, lieh uns Bücher und berichtete auch über die Radiomeldungen. Ja, sie meldete mich, mit meiner Mutter bei der Mittelschule in Kolberg an. Ab Anfang Februar war ich Fahrschüler. Ich hatte es nicht weit bis zum Bahnhof Hagenow, länger war der Schulweg in Kolberg. In Gumbinnen war ich mit einem guten Zeugnis in die 4. Klasse versetzt worden. Nach einem Probemonat sollte entschieden werden, ob ich dem Unterricht in der 4. Klasse folgen könnte. Schon nach einigen Tagen merkte ich, dass ich im Englischen, in Mathematik und Physik große Lücken hatte.

Zu Mittag aß ich im Bahnhofsrestaurant, es gab täglich Kartoffelbrei mit Röstzwiebeln und einem Bratklops, der nach nichts schmeckte. Als ich es mit meinen Lebensmittelkarten in einer anderen Gaststätte versuchte, war das Essen dort auch nicht besser. Hier wurde mir deutlich, dass wir uns im 6. Kriegsjahr befanden. Auch fuhren die Züge nicht mehr pünktlich und waren oft überfüllt. Zur Klassengemeinschaft fand ich kaum Kontakt und die Lehrer waren das letzte Aufgebot. Nach ca. 10 Tagen gab ich auf, ich meldete mich nicht ab, sondern fuhr einfach nicht mehr hin. Als wir Ende Februar 1945 mit der Bahn weiter ins Reich fahren/flüchten wollten, erklärte uns der Stationsbeamte, dass die Strecke über die Oder gesperrt sei. Der Russe war an der Oder bis Stettin vorgedrungen, ganz Hinterpommern war abgeschnitten. Das Chaos bahnte sich an.

Am 4. März wurde ich in der Hagenower Kirche konfirmiert. Den Termin hatte der Pastor aus dem Nachbardorf am Tage vorher bekannt gegeben. Auch Flüchtlinge sollten dabei sein. In unserer Familie gab es eine Diskussion über den plötzlichen Termin und darüber, was ich anziehen sollte. Den dunkelblauen Stoff für den Konfirmationsanzug hatten wir aus Puspern mitgebracht, aber nähen konnte so schnell niemand. So ging es auch ohne Anzug. Auch die anderen Konfirmanden waren nicht entsprechend angezogen.

Der Pfarrer hatte die Einsegnung fast beendet, als plötzlich Gewehrschüsse knallten und einige Kirchenfenster splitterten. Alles duckte sich, und als es ein wenig ruhiger wurde, löste sich die Konfirmationsfeier auf. Wir schlichen aus der Kirche und gingen gebückt zwischen den Kartoffelmieten, die hinter den Bauernhäusern lagen, und zum Hof von St. Dort hatte Frau St. das Mittagessen vorbereitet, uns war der Appetit vergangen. Auch saß am Tisch ein älteres Ehepaar, das am Vorabend ihre Pferde auf dem Hof ausgespannt und übernachtet hatte. Es waren Flüchtlinge aus dem Warthegau, die vor dem Krieg mit Russland als Volksdeutsche aus Lettland umgesiedelt worden waren. Plötzlich standen drei Russen im Zimmer, ihre Maschinenpistolen im Anschlag. Einer blieb bei uns, die anderen beiden durchsuchten das Haus und den Dachboden, wo bald ein Knacken und Brechen zu hören war. Frau St. sah ihre Tochter an und sagte leise: "Die Kisten". Kurz darauf kamen die beiden Russen runter, sprachen aufgeregt mit dem dritten und verschwanden dann wieder. Der Volksdeutsche konnte russisch, hatte aber zunächst geschwiegen, dann sagte er später nur: "Die wollen das melden, es gibt ein Nachspiel, wir müssen schnell weg." Wir saßen alle wie gelähmt. Frau W. wollte zu ihrer Cousine, die in der Nachbarschaft wohnte. Was war geschehen? Die Russen hatten zwei große Kisten aufgebrochen, die vor einem Jahr von Verwandten aus Berlin ins ruhige Pommern geschickt worden waren. St. wusste nicht, dass sie SS- und Parteiuniformen enthielten. Als der Volksdeutsche seine Pferde anspannte, bat ihn meine Mutter, die Großeltern und meine Schwester Elfriede mitzunehmen. Er war einverstanden. Wir verluden unser Handgepäck und schoben unsere Fahrräder hinterher. Auf Feldwegen erreichten wir am späten Nachmittag Robe, etwa 4 km von Hagenow entfernt. Dort erfuhren wir, dass der Pfarrer und sein Kutscher aus dem Nachbardorf, kurz hinter Hagenow von den Russen erschossen worden seien. Die Pferde seien mit dem Landauer ( Kutschwagen ) und den beiden Toten ins Dorf zurückgekommen. Was aus Frau St. und ihrer Tochter nach dem "Besuch" der Russen geschehen ist, habe ich nicht erfahren.

Robe war mit Flüchtlingen überfüllt. Wir fanden Unterkunft auf dem Dachboden einer Großbäckerei, deren Besitzer einen Tag vorher geflüchtet war. Ein paar Tage später richtete sich im Wohnhaus des Bäckereibesitzers ein russischer Stab ein, Frauen mussten für sie kochen und die Zimmer aufräumen. Gehungert haben wir nicht. Mehl und Kartoffeln waren reichlich vorhanden und für Frischfleisch sorgten ein paar ältere Männer unter den Flüchtlingen, sie schlachteten Rinder und Schweine, das Vieh war herrenlos.

Den Russen war mit ihrem Vorstoß an die Oder ganz Hinterpommern nahezu kampflos in die Hände gefallen, nur Kolberg wurde noch von deutschen Soldaten verteidigt. Die Russen hatten Hinterpommern erobert, aber die Polen nahmen es in Besitz. Sie bildeten Kommandanturen, betrachteten ganze Dörfer mit Menschen und Vieh als ihr Eigentum und schirmten es gegenüber den einzelnen Russen ab. So auch im etwa 5 km entfernten Glansee. Nach etwa 4 Wochen zogen wir auf Feldwegen dort hin. Großmutter saß in einem Handwagen, den Mutter und Großvater mit Schultergurten zogen. Meine Schwester und ich schoben Fahrräder hinterher. Wir fanden Unterkunft bei Frau D., die mit 3 Kindern in einem Insthaus wohnte. Ihr Mann war noch Soldat, jetzt versorgte sie und ihre erwachsene Tochter den Kuhstall von Frau L. Meine Mutter molk im Stall von B. die Kühe und tränkte die Kälber. Die Milch musste auf der Kommandantur abgeliefert werden. Dort drehten jungen Mädchen, die bei der Arbeit weiße Kittel und Hauben trugen, die Zentrifugen für die Buttererzeugung. Die 16-17 jährigen Jungen waren Gespannführer, die von dem Hof, auf dem alle Pferde untergebracht waren, die Feldbestellung besorgten. Ich war ja noch jünger, mit mehren anderen Jungen hütete ich ab Mai die Kühe. Im Herbst und Winter half ich auch bei den Stallarbeiten aus. Gehungert haben wir nicht in Glansee, unsere Verpflegung bestand vorwiegend aus Kartoffeln und Mehlspeisen, Frischfleisch gab es sehr selten.

Im April 1946 begannen die Vorbereitungen für die Ausreise. Anfang Mai wurden alle Deutschen aus dem von Polen verwalteten Gebiet ausgewiesen. Mit Handgepäck - wir hatten nicht mehr - wurden wir mit den Hiesigen von Glansee ca. 10 km nach Treptow gefahren. Einige junge Mädchen entgingen der Ausreise, indem sie Polen heirateten. Die polnische Bahn brachte uns geschlossen nach Stettin. Nach ein paar Tagen Aufenthalt in einem Quarantänelager fuhren wir mit der Deutschen Bahn bis nach Bad Segeberg. Nach einem kurzen Aufenthalt in dem Lager der britischen Besatzungsmacht kamen wir alle nach Schleswig in die Moltke-Kaserne. Mit insgesamt 33 Personen wohnten wir ab 26.Mai 1946 in einem Kasernenzimmer, es war eine Wolldeckenallee. Wie in allen Kasernen lagen die Waschräume und die Spülklosetts neben den Fluren. Wir waren wieder in Deutschland, konnten uns frei bewegen, wurden gemeinschaftlich verpflegt, wir Flüchtlinge empfanden die Unterbringung gar nicht so er-drückend wie die Pommern, die zum ersten Mal ihre Häuser hatten verlassen müssen. Dennoch wollte ich raus aus der Kaserne, wollte was lernen. Eine Kaufmannslehre in Busdorf, ca. 3 km von Schleswig entfernt, konnte ich nicht beginnen, weil sie nicht mit Familienanschluss verbunden war. Aber ich hatte schon etwas Erfahrung mit der Landwirtschaft, obwohl ich für mein Alter noch klein und schmächtig aussah.

In Schleswig-Holstein fand ich eine Beschäftigung in der Landwirtschaft, später wurde ich Polizist in Hamburg.

lo