> Erich Stubel: Kindheit in Ostpreußen 1939-1944

Erich Stubel: Kindheit in Ostpreußen 1939-1944

Dieser Eintrag stammt von Erich Stubel (*1930) in Zusammenarbeit mit Horst Ahrens, Hamburg, August 2012:

Mit 9 Jahren kam ich nach Gumbinnen. Bis Puspern waren es 12 km, davon 10 km Asphaltchaussee ( frühere "Reichsstraße 1"). Zur Bahnstation Groß Baitschen hatte ich von Puspern ca. 5 km fahren müssen. Meine Eltern hatten mich deshalb bei entfernten Verwandten in Gumbinnen untergebracht, die keine Kinder hatten und in der Kasernenstraße wohnten. Mein Schulweg zur Volksschule in der Meelbeckstraße war ca. 1 km, fast so wie in Puspern. Onkel Gustav Mickoleit, geboren 1893, und seine ca. 5 Jahre jüngere Frau nahmen mich wie ihr eigenes Kind auf. Allerdings ohne elterliche Verantwortung bzw. Strenge. Ich wurde früh selbstständig und hatte die Freiheit genossen. Wenn mir etwas nicht passte - was zwar selten vorkam - konnte ich mit dem Fahrrad nach Puspern fahren und wurde dort verwöhnt. Mein Vater war im Januar 1940 eingezogen worden und kam nur an wenigen Urlaubstagen nach Hause.

Die Anforderungen in der Stadtschule waren zwar gestiegen, sie bereiteten mir aber keine Probleme. Meine Zeugnisse waren gut bis sehr gut, sie ersparten mir die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule. Als Zehnjähriger wurde ich zwangsweise Mitglied bei den Pimpfen in Gumbinnen, fand die nationalsozialistische Schulung und auch das Marschieren sowie die Geländespiele langweilig. Ich zeigte keinerlei Ehrgeiz und machte einfach nur mit.

Interessant war der Unterricht in der Mittelschule, den ich mit überwiegend guten Noten bewältigte. Ich wurde von unserem Klassenlehrer Paul Becker ( Fächer: Deutsch, Geschichte, Musik ) zum Klassensprecher ernannt. Warum, weiß ich nicht ( ein wenig später befreite er mich vom Musikunterricht - ich war in diesem Fach ein hoffnungsloser Fall ). Obwohl ich zu den Kleinsten und Schwächsten gehörte, wurde ich von den anderen Klassenkameraden voll respektiert. Vielleicht auch deshalb, weil wir zu Dritt aus einem Dorf kamen, Günter Sch., der Sohn des Schlossermeisters, der die Brennerei in Puspern betrieb, und Heinz P., der Sohn des Obermelkers und Zuchtleiters der Pusperner Bullenzucht. Beide waren größer und kräftiger, konnten fest zupacken und schrieben gern mal bei mir ab.

Am 1.3.1941 bekam ich auf Bezugschein ein neues Fahrrad. Den Fahrradbrief - auf meinen Namen ausgestellt - hatte meine Mutter mit meinen Zeugnissen gerettet. Ebenfalls 1941 hatten wir von Februar bis Ende Juni auf unserem Hof Einquartierung. Wir waren etwa 10 km von der russischen Grenze entfernt. Ja, der Hof war zeitweise derart voll geparkt, dass die Fahrzeuge umgesetzt werden mussten, damit Großvater mit dem Pferd und Wagen auf's Feld fahren konnte. Als ich im Frühjahr einmal von Gumbinnen nach Hause kam, wollten mich die Posten mit den Worten "hier wohnt nur ein kleines Mädchen" nicht auf den Hof lassen. In der alten Schule war eine Kompanie Luftnachrichten einquartiert.

Die Offiziere wohnten in den drei Zimmern des Dachgeschosses und der ehemalige Klassenraum wurde zur Kompanie-Geschäftsstelle. Die Soldaten schliefen in der Scheune, sie hatten sich zum Teil seidene Steppdecken aus Frankreich mitgebracht. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, sie bauten die Fernmeldeverbindungen für den Aufmarsch nach Russland. Auf dem Hof waren außer Werkzeugwagen zwei voll motorisierte Küchenwagen aufgefahren, die von morgens bis spät in die Nacht warmes Essen und Getränke für die Soldaten bereit hielten. Für unseren jungen Hofhund, seine Hütte war in die Scheune eingebaut und dort angekettet war, begann ein aufregendes Leben. Er witterte den Küchengeruch und oft flog ihm ein Fleischbrocken zu. Als uns ein junger Küchensoldat fragte, ob er mit dem Hund in seiner freien Zeit spazieren gehren dürfte, waren wir einverstanden. Ebenfalles einverstanden war meine Mutter mit dem Vorschlag des Küchenfeldwebels, unsere ca. 2-jährige Stärke, die hinter der Scheune weidete, dem Militär zu verkaufen. Wir bekamen die Bescheinigung für das Ablieferungssoll und die Soldaten aßen Steaks. Die Abfalltonnen mit den Küchenabfällen mussten täglich von uns geleert werden, Futter für die Schweine, sie nahmen tüchtig zu. Probleme breitete bereits das Abwasser von den Kompanie-Küchen. Als meine Mutter das Thema in der Kompanie-Geschäftsstelle ansprach, erschien zwei Tage später eine Gruppe Pioniere und legte einen neuen Abfluss bis in den Garten.

Kurz vor Beginn des Krieges gegen Russland rückten die Soldaten in einer Nacht ab. Mein Großvater konnte noch auf den Berg Telefonmasten hinweisen, der an der Hofeinfahrt lagerte. Im Morgengrauen trugen dann die letzten Soldaten die Masten in die Scheune. Die Luftnachrichten-Kompanie hatte fast 4 Monate in unserem Haus und unserer Scheune gelebt. Daran erinnert wurden wir noch bis in den Winter. Unser Hund heulte nachts fürchterlich, er sehnte sich nach dem jungen Soldaten, der ihn fast täglich von seinem Angekettetsein befreit und mit Leckerbissen verwöhnt hatte. Auch bekamen wir im Laufe des Sommers von der Wehrkreisverwaltung eine Abrechnung über die Einquartierung. Eine Summe, über die meine Mutter nie mit uns Kindern sprach.

Rechtzeitig zur Ernte bekamen wir Jonas, einen jungen Litauer, der gebrochen deutsch sprach. Er hatte sich bei uns sehr wohl gefühlt, konnte kräftig zupacken, aber er erlag der Werbung der Nationalsozialisten: Er meldete sich freiwillig zur Waffen-SS. Im nächsten Sommer wurde uns ein französischer Krieggefangener, Henri Cormont, zugeteilt, der mit mehreren anderen französischen Kriegsgefangenen zum Gut Puspern gekommen war. Er war Mitte Dreißig, sprach kaum deutsch und musste als ehemaliger Fabrikarbeiter aus Paris erst mit der Landwirtschaft vertraut gemacht werden. Er freute sich über das schöne Einzelzimmer im Dachgeschoss bei uns und aß bei uns mit am Tisch. Er hielt engen Kotakt zu seinen französischen Kameraden, die geschlossen im massiven Hühnerstall des Gutes wohnten, der schon im Ersten Weltkrieg als Gefangenenunterkunft gebaut worden war. Die Franzosen wurden nicht bewacht und betrachteten es als großen Glücksfall, dass sie sich selbst beköstigen konnten. Die Naturalien lieferte das Gut.

Vom Sommer 1942 bis Ende 1943 wohnten in dem Klassenraum Tante Minna K. mit ihren Kindern Gisela, geb. 1937, und Friedhelm, geb. 1940. Ihr Mann war als Schlosser in Oberhausen dienstverpflichtet. Meine Mutter und Tante Minna waren Cousinen. Sie war in den zwanziger Jahren ins Ruhrgebiet gefahren und hatte dort geheiratet. Wegen der kriegsbedingten schlechteren Lebensverhältnisse und auch wegen der Bombenbedrohungen kamen sie ins friedliche Ostpreußen. Sie fanden bei uns Familienanschluss, und wir hatten als Selbstversorger ihre Lebensmittelkarten. Einen Teil der Brot- und Kuchenkarten nahm ich mit nach Gumbinnen, so konnte ich mit Freunden ins Cafe gehen.

Von einer russischen Zeltbahn, die mein Vater anlässlich eines Urlaubes nach Hause gebracht hatte, sollte ich eine Windjacke bekommen. Ich ging zu Meister B. und ließ mir aber einen langen Regenmantel machen. Ab Frühjahr 1944 fuhr ich fast täglich mit meinem Fahrrad von Puspern nach Gumbinnen zur Schule. Ich hatte es gut bei Mickoleits, nur das Mittagessen schmeckte mir eine Zeit lang nicht. Mein Onkel war bei der Viehverwertungsgesellschaft anstellt und hatte viel mit Schlachthöfen und Molkereien zu tun, was dazu führte, dass reichlich und sehr fett gekocht wurde. Er kam um 12.00 Uhr zum Mittagessen, ich hatte meistens bis 13.30 Uhr Schule und bekam mein Essen aufgewärmt, wobei besonders der Rindertalg durchschmeckte. Ich aß mit langen Zähnen und meldete mich für den nächsten Tag nach Puspern ab. Wenn meine Mutter auf dem Feld war, machte mir meine Großmutter in der Küche etwas, worauf ich Appetit hatte. Ich war ein verwöhntes Kind, aber so lange meine Zeugnisse gut waren, hatte ich Narrenfreiheit. Auch schwänzte ich den Dienst beim Jungvolk und wenn dann bei meinem Onkel nachgefragt wurde, hieß es nur "der Erich ist im Ernteeinsatz". Der hatte Vorrang im Sommer 1944.

Als in den letzten Kriegsjahren die Friseure angewiesen wurden, den Jungs nur noch "Streichholzlänge" zu schneiden, schien es vorbei mit meinem Faconschnitt. Ich sprach daher mit Henri, der mich zu den Franzosen einlud. Vorher ging ich noch in unsere Räucherkammer, nahm eine Wurst mit und der Faconschnitt, um den mich meine Klassenkameraden beneideten, war gesichert. In den folgenden Sommermonaten genügte dafür auch ein Gang durch den Hühnerstall, um von dort einige Eier als "Bezahlung" mitzunehmen.

Auch wurden wir von der Schule verpflichtet, kriegswichtige Altmaterialien (Spinnstoffe, Knochen, Papier und Metalle ) zu sammeln. Wir überlegten in der Klassengemeinschaft - ein paar Zeitungen und leere Zahnpastatuben brachte nichts - und Lumpen und Knochen zu sammeln, war unter unserer Würde. Mein Vorschlag wurde begeistert angenommen. Ich ließ Henri den "Fuchs" anspannen, da lag noch hinter der Scheune ein Haufen Knochen von den Soldatenküchen und ein Berg leerer Konservendosen. Als der Wagen voll war, fuhr Henri ihn zur Sammelstelle nach Gumbinnen. Dort warteten schon ein paar Klassenkameraden. Sie luden ab. Wir wurden Schulsieger und erhielten im Herbst Buchprämien - eine zweite Fuhre Konservendosen lagerten noch hinter der Scheune - für nächstes Jahr!

Im Herbst 1944 wurde es kritisch, Kanonendonner war zu hören, Flüchtlingswagen aus dem Baltikum zogen durchs Dorf, die Grenzkreise wurden evakuiert. Auch wir bereiteten uns auf die Flucht vor. Wir bekamen von dem Gut Alt-Grünwalde ein zweites Pferd, eine ältere große Schimmelstute. Als am 20. Oktober die Russen über Trakenen bis nach Nemmersdorf vorgedrungen waren, wollten auch wir losfahren, aber ein Funkwagen der Wehrmacht fuhr nachmittags auf unseren Hof. Die Soldaten rieten uns, bis zum nächsten Morgen zu bleiben, sie blieben ja auch. Der Fluchtwagen war bereits beladen, es musste nur angespannt werden. Zwar wurden noch in den Abendstunden Hühner geschlachtet und gebraten. Ich fand den Betrieb im Funkwagen interessanter, unterhielt mich mit den Soldaten und trank mit ihnen mannhaft mit, als eine Flasche Schnaps geleert wurde - mein erster Schwips.


  • Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen und Hinterpommern 1944-1946
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