> Erika Herzog: Kindheit und Alltag in Dresden während des Ersten Weltkriegs

Erika Herzog: Kindheit und Alltag in Dresden während des Ersten Weltkriegs

Dieser Eintrag stammt von Erika Herzog (*1909) aus Wuppertal, 31.05.2002:

Meine Kindheit empfand ich als sehr schön. Obwohl meine Familie nicht viel besaß, erinnere ich mich trotzdem gerne daran. Es war ´ne besondere Atmosphäre im königlichen Dresden. Wir wohnten in der Pirnaischen Straße in der Altstadt. Nicht weit von uns weg lag das Zinzendorf Palais; gegenüber das Georg Palais. Da residierte oft die Schwester von unserem König, die Mathilde. Man sagte, dass die immer gerne ein bissel viel trank. Die Herrschaften fuhren unweit von dem Haus, wo wir wohnten, in großen Droschken vorbei. Sie saßen sich gegenüber, und wir konnten von unserer Wohnung darauf hinunter schauen. Beim Geburtstag des Kaisers oder des Königs von Sachsen wurden in den Schulen Feiern abgehalten. Da gingen die Schüler in Marine-Kleidung, die Mädchen mit blauen Röcken und blauen Matrosenblusen und die Jungen mit blauen Hosen und blauen Matrosenhemden. Auf dem Truppenübungsplatz in Dresden-Neustadt fand an diesen Tagen eine große Parade des Militärs statt. Die Bevölkerung schaute zu. Ich kann mich noch entsinnen, dass mich meine Mutter im Sportkinderwagen mitnahm. Da wir uns nicht in die große Menschenmenge mischen konnten, standen wir abseits und schauten von etwas weiter weg zu. Ich sah nur die Spitzen der Helme, die man Pickelhauben nannte, in der Sonne blitzen. Dies hat mir damals so gefallen, dass ich heute noch daran denke und ein Bild davon vor meinen Augen sehe.

Unsere Mutter war ja zu Hause und ging mit uns und den Müttern von Schulfreundinnen in den Großen Garten, wo Spielplätze waren. Der Große Garten gehörte früher zum königlichen Hof, wurde aber später für alle freigegeben. Dort gab es mehrere Wirtschaften, in denen oft Konzerte stattfanden. Wir mußten aber rechnen und konnten uns eine Einkehr nicht leisten. Die Mütter saßen auf den Bänken und hörten der Musik zu, die aus den Lokalen herüberdrang und wir spielten. Auch die adligen Damen zogen durch den Großen Garten im Wagen, manche auch zu Fuß, mit großen Hüten und schönen Schirmen. Wenn wir dorthin gingen, mußten wir ja die Strasse entlang, wo der Reitweg war. Da kamen uns die Herrschaften manchmal entgegen und meine Mutter sagte: "So, nun macht schön einen Knicks". Wir mußten stehen bleiben bis die Herren oder Damen dann mal huldvoll herunterguckten. Manche taten es und andere nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg waren sie alle weg. In so einer Zeit bin ich groß geworden.

Auf der einen Seite war der Prunk und auf der anderen Seite war die Armut. Als Kind spürt man diese Unterschiede nicht so. Das muß eben so sein und damals kannte man es auch nicht anders. Ich mußte immer die Kleider meiner acht Jahre älteren Schwester auftragen, die meine Mutter für mich änderte. Da war ich manchmal sehr traurig. Es war eine harte Zeit, aber wir Kinder kannten es nicht anders. Wir waren dennoch lustig und spielten auf den Straßen, denn selten kam ein Fuhrwerk daher. Von Mai bis September liefen wir alle barfuß. Da wurde gespart. Wir kriegten Sandalen, Holzsandalen, die waren in der Mitte geteilt, damit die Sohlen beweglich waren. Beide Teile waren mit Metallscharnieren verbunden. Wenn man lief, dann hingen die Scharniere immer an den Fußsohlen fest, die bald blutig waren.

Ich erinnere mich noch an die ersten Autos, die vorne alle eine Kurbel hatten, und die nur die Reichen besaßen. Wenn dann einer daherkam, der Pech hatte und stehen blieb, sagte er: "Kinder kommt, helft uns mal." Wir schoben nun das Auto an und kurbelten, bis es ansprang und weiterfuhr. Manchmal kam der Eiswagen vorbei. Hinten, hüben und drüben, war ein Platz, wo wir aufgesprungen sind, und wir fuhren bis nach Johannstadt und weiter mit. Dann mußten wir aber den ganzen Weg wieder zurücklaufen. Und wenn der Fahrer merkte, dass wir mitfuhren, der Wagen wurde ja früher meist von Pferden gezogen, dann schlug er immer mit der Peitsche nach hinten. Dann sind wir aber schnell abgesprungen! Die Kindheit war in dieser Beziehung unbeschwert. Man konnte auf der Straße mit dem Ball oder dem Reifen spielen oder den Kreisel treiben, man mußte nur aufpassen, wenn ein Pferd vorbeikam. Es gab damals ja auch noch Pferdetränken auf der Strasse, an denen die Fuhrwerke hielten.

Wir hatten nicht viel Spielzeug nur eine Puppenstube, die jedes Jahr vom Vater neu tapeziert wurde und die Mutter nähte neue Kleider für die Puppen. Danach waren wir glückselig. Das einzige, was ich sonst besaß, waren Schlittschuhe. Meine Mutter konnte Schlittschuhfahren. Sie ist mit uns in den Großen Garten zum Neuen Teich gegangen, da brauchte man keinen Eintritt bezahlen. Wir hatten noch Schlittschuhe, die man am Absatz und am Vorderfuß an die normalen Stiefel anschrauben mußte und wenn man ein bißchen gefahren ist oder mal ein kleines Kunststück gewagt hat, da brach der Absatz ab. Am Rand hatte ein Schuhmacher seine Holzhütte und der pochte wieder ein paar Nägel rein. Dann konnte man weiterfahren, bis der Absatz wieder kaputt war und es irgendwann gar nicht mehr ging. Die allerersten Schlittschuhe damals waren noch nicht zum Anschrauben, sondern die wurden nur mit Lederriemen gehalten.

Sonntags standen wir zeitig auf. Im Sommer wanderten meine Eltern mit uns. Um sieben gingen wir schon los, entweder in den Zoo oder wir fuhren in die Umgebung zu den Moritzburger Teichen oder zu den Räcknitz Höhen oder über das Blaue Wunder (Anm. berühmte Brücke über die Elbe) zu den Loschwitzer Höhen durch die Weinberge des Königs. Als wir das Blaue Wunder passierten, mußten wir pro Person fünf Pfennig Brückenzoll bezahlen. Mein Vater hatte wirklich viel Arbeit und mußte oft auch nachts raus, aber sonntags wurde mit uns spazierengegangen. Es gab so viele Felder mit schönen Blumen, Mohnblumen, Kornblumen und Margariten. Bei der Kirschblüte oder -ernte waren an den Wegen Holzbuden aufgestellt, an denen Kirschen für 5 oder 10 Pfennig die Tüte verkauft wurden.

1916 bin ich zur Schule gekommen. Unsere Schulsachen waren sehr einfach. Mein Ranzen zum Beispiel war aus Pappe. Es war ein Jungenranzen. Da der Krieg schon angefangen hatte, wurden drei Schulen zusammengenommen, und man hatte einen weiten Weg. Da wurde in Schichten gearbeitet, früh, über Mittag und nachmittags. Ich mußte von der Pirnaischen Strasse nach der Gutzkowstrasse laufen, die beim Hauptbahnhof lag. Und das im Winter durch den Schnee! Wenn wir zur Schule kamen, hatten wir ganz nasse Strümpfe, nasse Füße sowieso, und wenn wir dann nach Hause kamen, hat uns die Mutter gleich empfangen, die Strümpfe ausgezogen und die Beine in eine Schüssel mit warmem Wasser gesteckt. Damals gab es noch keine festen Sohlen und in die Schuhe wurde bloß Zeitungspapier gelegt.

Als der Krieg zu Ende war, ging eines Tages ein großes Munitionslager in die Luft. Taghell war die Nacht, es hat gedonnert und gekracht. Meine Mutter hat uns ein paar Decken vorgehalten, damit wir Kinder ruhig waren und nicht immer den Lichtschein sahen. Das war allerdings auf der Neustädter Seite und wir wohnten ja in der Altstadt. Aber wer drum herum gewohnt hat, bei dem war es ganz schlimm.

lo