> Ernst Haß: Der Krieg

Ernst Haß: Der Krieg

Dieser Eintrag stammt von Ernst Haß (*1913) aus Hamburg, August 2002:

Ja, am 15. Oktober 1994 habe ich schon fünfzig Jahre länger gelebt. Wie es dazu gekommen ist, geht aus meinem Tatsachenbericht, der auch zur Geschichte Hamburg-Wilhelmsburg gehört, hervor. Ja, so sollte meine Geschichte eigentlich anfangen, und wenn da mal ein Wort von mir urdeutsch ausgesprochen wird, so nehmen Sie mir dieses nicht übel, denn wir Wilhelmsburger haben das Herz auf der Zunge.

Fünfzig Jahre länger Leben ist heute ja eigentlich unmöglich trotz unserer fortschrittlichen Ernährungswissenschaft. In meinem Falle trifft es aber zu, und ich versuche nun meinem Leser oder Zuhörer dies klar zu machen, damit er mich versteht, wie so etwas doch mögliche sein kann, wenn anstatt des Kopfes nur der Arm wegfliegt!

Deutschland hatte den Zweiten Weltkrieg und wir Deutschen hatten die ganze Welt zum Gegner. Ich will bewusst nicht darauf eingehen, auf Schuld oder Nichtschuld, wer derjenige welcher war!

Die Geschichte hat gezeigt, wer die wirklichen Verlierer waren, denn beim Zweiten Weltkrieg haben alle Länder verloren und drauf zahlen müssen. Wir natürlich noch mehr, weil wir unseren guten Namen verloren hatten. Ich war gerade von Norwegen mit der MS. Monte Rosa von der Hamburg-Süd nach Hamburg gekommen. Ich hatte wegen Krankheit die Claus Rickmers in Norwegen aufgeben müssen. In Hamburg bekam ich ein anderes Kommando, ein anderes Schiff. Es war die Athen von der Levante-Linie.

Seit 1941 fuhr ich unter KMD, Kriegsmarine Dienststelle, Blockadebrecher im Mittelmeer und in Norwegen. Von 1939 bis einschließlich 1940 war ich Hilfskreuzer, Minenräumer oder Minensucher bei der Kriegsmarine gefahren, dieses zur Orientierung.

Mein Schiff lag also in Hamburg an der Werft. Ich wohnte mit meiner Frau bei meinen Eltern in Wilhelmsburg am Obergeorgswerderdeich 9. Ich hatte Nachturlaub eingereicht, der auch genehmigt wurde. Ist doch klar, ich war 31 Jahre jung, dass es schöner ist, des Nachts bei der Ehefrau zu schlafen, als alleine an Bord. Ich hatte auch viel gut zu machen, in unserer Sprache!

Wir waren morgens gegen zwei Uhr im tiefen Schlaf, als wir hörten, dass jemand gegen unserer Wohnungstür mit Gewalt klopfte. Es war unsere Mutter. Sie schrie "Kinder aufwachen, aufstehen. Es ist Fliegeralarm!" Wir hatten keinen Alarm und den Krach der Sirenen nicht gehört.

Es war unsere Mutter, die mit unserem Vater nicht in den provisorischen Luftschutzbunker gegangen war. Der Bauer Hermann Benthaak hatte von seinem Grundstück aus einen splittersicheren Erdbunker in den Obergeorgswerderdeich, unserem Haus Nr. 9 gegenüber, gebaut. Drinnen standen ein paar Gemüsekisten, wo man bei Alarm drauf sitzen konnte.

Unsere Mutter gab aber nicht eher Ruhe, bis wir aufgestanden waren, bis wir die Tür aufgemacht hatten. Meine Frau und auch ich sahen erstaunt zum Himmel und sahen die Scheinwerfer unserer Flackabwehr, welche am Himmel die bombenbeladenen Flugzeuge suchten.

In der Dunkelheit nahm ich meine Frau an die rechte Hand und meine Mutter an die linke Hand. So sind wir zum Deich gelaufen und wollten ihn schräge hinauf laufen. Ja, das wollten wir, es kam aber ganz anders! Wir sind nicht mehr dazu gekommen, denn ich spürte den mit bekannten Druck, wenn Bomben fallen. Ich konnte nur noch "Hinlegen!" rufen und habe beide mit umgerissen. Das Sausen der Bombe und das Explodieren der Bombe und das Krachen der herunterfallenden Trümmer war furchtbar! Die darauf folgende Stille war grauenhaft und werde mit einem Mal unterbrochen durch die Stimme meiner Mutter, welche schrie: "Mein Bein, mein Bein!"

Was ist das? Das gibt es doch nicht? Das waren Bruchteile von Sekunden und ich wollte aufstehen aber das gelang mir nicht auf Anhieb. Ich bin immer wieder auf mein Gesichte gefallen. Ich stellte fest, woran das lag: Der rechte Oberarm war weg bis obenhin! Bin dann trotzdem irgendwie hochgekommen und sah meine Mutter auf dem Rücken liegen. Was ich sah, stockte mir den Atem, sie hielt den rechten Oberschenkel in die Höhe. Am rechten Unterschenkel hing an der Sehne der Fuß mit Schuh. Es war ein furchtbarer Anblick für mich.

Als die Mutter mich sah, sage sie: "Mein Junge, Dein Arm!" Da habe ich mich erst besinnen müssen, habe mit Daumen, Mittel- und Zeigefinger das herausspritzende Blut, die Schlagader abgedrückt. Gott sei Dank war meinem linken Arm nichts passiert, denn ich musste ja Hilfe holen. Ich sagte zu meiner Mutter: "Mutti, ich hole Hilfe!" Dann habe ich mich nach meiner Frau umgesehen, die mit geschlossenen Augen am Deich lag, ich glaubte, sie wäre tot. Eigenartiger Weise habe ich mich dann nach meinem rechten Arm umgesehen, aber der war weg!

Ich glaube, wenn ich diesen gefunden hätte, hätte ich ihn an die Schulter gehalten, damit er wieder anwächst! Nach der Explosion waren vielleicht zwei bis drei Minuten vergangen, als ich es schaffte, den Deich hochzukommen, durch die Hecke zu kriechen und stand nun vor dem Erdbunker. Alles schrie und lief aus dem Bunker heraus. Ich sagte meinem Vater, was passiert war, Mutter Bein ab, meine Frau tot?

Ich war nun alleine und ging in den Erdbunker um zu sterben. Als ich mich auf die Gemüsekisten gelegt hatte, habe ich gebetet, dass unser Herrgott mich zu sich holt, als Krüppel wollte ich nicht weiter leben!

Ich wollte nun meine linke Hand aus dem Oberarmstumpf herausnehmen und verbluten. Hatte aber keine Kraft mehr, alles war verkrampft!

Mit geschlossenen Augen lag ich nun da und wartete auf den Tod, oder dass ich die Besinnung verliere. "Herrgott erlöse mich und hole mich Heim", habe ich laut gebetet, "womit habe ich dieses alles verdient?"

Als sich die Stimme vom Bauern Hermann Benthaak meldete, machte ich die Augen auf, als er fragte "Erni, kann ick Di wat helpen?" - "Jo, dat kanns Du, ick hebb beusen Döst", sagte ich. Bauer Benthaak wollte nicht glauben, dass ich noch lebe und ist nach zwei Minuten wieder da gewesen mit Milch! Er hat mir die große Kanne mit frischer Milch an die Lippen gehalten, welche ich fast ausgetrunken habe. Das war mein Lebensretter gewesen, wie sich später herausgestellt hat, denn ich hatte schon zu viel Blut verloren. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Ich war nun wieder alleine. Ich wartete auf eine Ohnmacht oder auf den Tod, dass mich unser Herrgott in seine Arme nimmt!

Aber nichts passierte. Ich musste alles auskosten und warten, auf das, was ich nicht wusste! Was ist mit meiner Frau? Was ist mit meiner Mutter? Sind beide noch am Leben? Herrgott, warum muss ich dieses alles noch ertragen, warum bin ich noch am Leben?

Dann wurde ich abgelenkt durch Autogeräusche und durch das Heulen von Sirenen. Ich hörte Schritte und Stimmen und eine Frauenstimme sagte: "Hier drinnen liegt er" Zwei Männer holten mich aus dem Erdbunker heraus und legten mich auf eine Bahre. Einer sagte: "Der lebt ja noch." Und nun wurde ich verbunden, mit der linken Hand am Körper, wurde alles mit Klosettpapier umwickelt. Verbandszeug war wohl nicht mehr vorhanden.

Von den Schmerzen habe ich noch gar nicht gesprochen, dieses alles mit klaren Kopf zu erleben, und werde auch weiterhin nicht darüber reden!

Dann wurde ich zum Auto getragen und in den Wagen geschoben. Mit tatü-tata ging die Fahrt los. Nach ein paar Minuten hielt der Wagen an. Ich machte die Augen wieder auf und stellte fest, dass ich mich im Keller der Kirche am Wilhelmsburger Bahnhof befand, welcher als Sanitäts- oder Unfallstation eingerichtet war. Mein Hausarzt Dr. Otto erkannte mich und sagte: "Das können wir hier nicht machen!" Er hatte sich die Verletzung auch gar nicht weiter angesehen. Es ging wieder hinauf und rein in den Wagen und ab ging die Post. Wo geht es nun wieder hin, habe ich gedacht, als ich merkte, dass mir einer am Körper etwas suchte. Ich machte die Augen auf und sagte: "Du Leichenfledderer, musst noch warten, denn ich lebe noch", worüber er sehr erschrocken war.

"Geht es nun gleich zum Friedhof?" Ja, so waren meine Gedanken. Die Sirenen vom Auto hörte ich auch nicht mehr als er hielt. Nun ging alles sehr schnell. Ich hatte auch nicht mitbekommen, dass ich im Hochbunker war, in Wilhelmsburg. Dass ich im Krankenhaus auf dem OP-Tisch lag, habe ich mitbekommen, man schnitt mir ja die Kleider vom Leibe. Auch die langen Stiefel wurden von den Füßen geschnitten. Dann beugte sich eine Ärztin über mich und stellte Fragen. Sie wollte meine Blutgruppe wissen und anderes, was ich alles noch beantwortet habe. Dann habe ich um einen Cognac gebeten, welchen ich auch sofort bekam. Dann weiß ich nichts mehr und ich hörte ihr Lachen noch, als sie sagte: "Aus diesen Menschen werden Helden gemacht", aber schon aus der Ferne . Dann bin ich abgeschrammt.

lo