> Florentine Brendecke: Zum Abschied ein Himbeerbonbon

Florentine Brendecke: Zum Abschied ein Himbeerbonbon

Dieser Eintrag stammt von Florentine Brendecke (*1929) aus Henstedt-Ulzburg, November 2003:

Ich war froh, endlich von zu Hause fortzukommen. Weg von den quengelnden Geschwistern, denen ich nie eine kleben durfte, nur weil sie jünger waren als ich. Nicht wegen jeder Kleinigkeit ausgeschimpft werden, keine Milch von weither holen müssen. Endlich frei sein!

Die ersehnte Freiheit glaubte ich im Landdienst der Hitler-Jugend zu finden. Im April 1943, nachdem meine Schulzeit beendet war, wurde ich einberufen nach Rodenthal in Masuren. Es war fast eine Weltreise, von Labiau, dicht beim Kurischen Haff, nach Masuren zu fahren. Die Freude war nur kurz. Es kam ganz anders. Das Lagerleben lief nach strengen Regeln ab und war kein bißchen gemütlich. Früh um sechs Uhr, wenn es im Bett am schönsten war, ertönte ein schriller Weckpfiff. Der Drill begann.

Erste Pflichtübung: Unsere Fahne ehren. Das hieß: antreten, strammstehen, singen, mit deutschem Gruß die Fahne grüßen, während sie hochgezogen wurde, Ansprache, wieder singen, abtreten zum Arbeitseinsatz beim Bauern. In der Erntezeit begann alles eine Stunde früher, dazu gab es eine Aufforderung, mit aller Kraft und vor allem mit Freude an die harte Arbeit heranzugehen. "Denn wäre nicht der Bauer, so hätten wir kein Brot", zitierte die Lagerführerin ernsthaft. "Brot braucht unsere kämpfende Truppe und das Volk. Seid euch eurer Wichtigkeit bewußt."

Einmal passierte es, ich war nach dem Pfiff noch liegen geblieben und schaffte es dann nicht mehr, Stiefel anzuziehen. Es war Pflicht, zur Arbeit halbhohe Schnürstiefel zu tragen, und jene hatten lange Schnürsenkel, die mir das Leben noch schwerer machten. Entweder verknoteten sie oder rissen, wenn ich es besonders eilig hatte. Ich trat mit nackten Füßen vor die Fahne. Nach dem Abtreten wurde ich zur Lagerführerin befohlen. Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ein fürchterliches Donnerwetter auf mich niederging. Von wegen der Schande, die ich unserer Fahne zugefügt hätte. Hinterher war ich genauso klug. Es blieb mir verborgen, warum die Fahne nicht barfuß geehrt werden durfte. "Deine Strafe fällt nur so milde aus, weil du noch nicht ganz 14 bist! Glück gehabt!" schnauzte die Lagerführerin. Ich mußte ganz allein und auf Knien einen unendlich langen Korridor schrubben. Während des Schrubbens schien er immer länger und länger zu werden. Wer weiß, was ich zwei Wochen später, nach meinem 14. Geburtstag, hätte scheuern müssen.

Die Arbeit beim Bauern war schwer. Kühe melken, Stall ausmisten, Rüben hacken, deren Reihen bis zum Horizont reichten, beim Heuen helfen, der Bäuerin bei der Hausarbeit zur Hand gehen. Der Tag war pausenlos ausgefüllt mit Arbeit.

Ich bekam Heimweh. Entsetzliches Heimweh. Obwohl die Lagerführerin gesagt hatte: "Ein deutsches Mädchen, das dem Führer dient, bekommt kein Heimweh!" Lieber wollte ich dreimal am Tag Milch holen, nie mehr meine Schwestern verprügeln und nie wieder versuchen, ihnen die Himbeerbonbons abzuluchsen, und immer lieb zu meiner Mutter sein. Ich bereute tief, alle begangenen Sünden meines 14jährigen Lebens. Um endlich nach Hause zu dürfen, beschloß ich, krank zu werden, schwerkrank natürlich. Eine Blutvergiftung erschien mir gerade richtig. Jede Wunde, die ich mir zuzog, beschmierte ich mit Erde, aber eine Blutvergiftung bekam ich nicht. Meine Wunden eiterten und taten bisweilen sehr weh, mehr geschah nicht.

Mitten im Landdienstjahr durfte mich für zwei Tage meine Mutter besuchen. Sie wiederzusehen, zu fühlen, zu riechen, war noch viel schöner als Weihnachten oder Geburtstag zu haben oder beides auf einmal. Ich kuschelte mich an sie. Sie war rund und warm. Es tat gut, ihre Hände an meinem Kopf zu spüren, als sie meine dünnen Zöpfe flocht. Ich fühlte mich wohl wie schon lange nicht mehr und hätte sie am liebsten für den Rest der Landdienstzeit bei mir behalten. Aber sie mußte wieder zurück nach Labiau.

Ich brachte meine Mutter an den Bahnhof und winkte dem Zug nach. Verloren stand ich da, weinte und schniefte. Als ich in meiner Schürzentasche nach dem Taschentuch griff, berührte ich etwas Hartes. Es war ein Himbeerbonbon. Wann hatte meine Mutter mir dieses seltene Geschenk in meine Tasche gesteckt? Gierig steckte ich das Bonbon in den Mund, schmeckte seine lange entbehrte Süße. Sie breitete sich aus in mir und begann, mich zu trösten. Langsam ging ich zurück. Schritt um Schritt wurde das Bonbon kleiner und kleiner und mein Abschiedsschmerz erträglicher...

lo