> Friedrich Giersig: Als alles in Scherben fiel - Kriegsende in Österreich 1945

Friedrich Giersig: Als alles in Scherben fiel: Kriegsende in Österreich 1945

Dieser Eintrag stammt von Friedrich Giersig (*1931) aus Mödling / Österreich, August 2012:

/lemo/bestand/objekt/giersing_2 "Seids ihr wahnsinnig?" brüllte uns der Mann mit sich überschlagender Stimme an. Er stand vor seinem zerbombten, noch brennenden Haus und versuchte mit einem Gartenschlauch die Flammen zu löschen. Wir, ein Zug (so hießen dort die Klassen) von 20 vierzehn bis fünfzehn Jahre alten Jungmannen der NAPOLA Traiskirchen waren auf dem Weg nach Schloss Mokritz in der damaligen Untersteiermark, knapp 30 Kilometer nördlich von Agram gelegen. Es war am 12. März 1945, als die Alliierten einen schweren Luftangriff auf Wiener Neustadt flogen. Und genau an diesem Tag setzten wir uns - dem Auftrag der für uns zuständigen SS folgend - in Marsch.

Mit einem Personenzug bis Felixdorf und dann auf und neben den zerbombten Gleisen zum Bahnhof und weiter bis ins teilweise noch brennende Wiener Neustadt. Wie kommen wir weiter? Voraussichtlich vom Stellwerk 5 südlich der Stadt nahe der Neunkirchener Allee. Also: "angetreten und im Gleichschritt Marsch - ein Lied!" Irgendeiner stimmte an: "Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg. Wie haben den Schrecken gebrochen, für uns war's ein großer Sieg. Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt . . ." Und das war zufällig der Zeitpunkt, wo wir an dem Ausgebombten vorbei marschierten.

Beim Stellwerk 5 mussten wir noch einige Stunden warten, bis ein Personenzug kam. Ab Neunkirchen ging es dann mit einem Eilzug weiter und ab Rann im Marschtempo nach Mokritz. Keiner von uns fragte, warum man uns mitten ins damalige Partisanengebiet schickte. Wir und unsere Erzieher waren gewohnt, Befehle auszuführen. Erst später erfuhren wir, dass man damit die dort lebende deutschsprachige Bevölkerung beruhigen wollte. "Wenn diese Jungs da sind, wird's schon nicht so arg sein!" Ein Großteil der Bevölkerung waren Bergbauern aus Südtirol, die - entsprechend einem Abkommen zwischen Hitler und Mussolini - aus ihren stolzen Höfen dort hin in dreckige, halb verfallene Lehmhäuser umgesiedelt worden waren.

Das Schloss Mokritz war der Stammsitz der Freiherrn von Gagern. Ein prachtvoller Bau, der stolz auf das 100 Meter tiefer gelegene Tal der Save hinabblickte. Wir bekamen einen Schlafsaal zugewiesen und jeder ein Gewehr aus der Produktion der Steyr-Werke und jeder dazu eine Kiste Munition, die unter dem Bett verstaut wurde. Schon in der ersten Nacht hörten wir Gewehrfeuer. Es kam vom Grenzposten, der keine 300 Meter von uns entfernt einen Übergang im Stacheldraht bewachen sollte. Und da die Partisanen im Umgang mit deutschen Soldaten äußerst brutal umgingen, schossen diese auf alles, was sich dort regte.

Wir erhielten genaue Instruktionen, wie die Gewehre zu reinigen und zu behandeln waren; Schießübungen wurden im Burggraben abgehalten. Tagsüber arbeiteten wir an der Errichtung von Schützengräben für den Süd-Ost-Wall. In Rann nahmen wir an einem Kurs zur Bekämpfung von Panzern teil. Übernachtet haben wir in der Volksschule - betreut von netten BDM-Mädchen. Noch war das alles eher ein großes Abenteuer: deutsche Jungs, insbesondere NAPOLAner kannten keine Furcht!

Bis dann doch an einem Abend amerikanische Flugzeuge einen auf der anderen Talseite abgestellten Munitionszug angriffen. Zuerst kamen die "Christbäume" - an Fallschirmen langsam zu Boden sinkende Leuchtkörper, die den darauf folgenden Bombern das Zielen und Treffen erleichterten. Es war ein ungeheures Feuerwerk. Und da kamen mir allmählich Zweifel, wie sich das wohl weiter entwickeln werde, wenn alles in Scherben fällt.

Anfangs April wurde der "Tag der Grenze" gefeiert. Alle Hochgestellten von Partei, Gendarmerie und Wehrmacht kamen, es wurde gesoffen und groß aufgekocht und wir Jungs durften servieren. Zur Verbesserung des Speiseplanes wurde am Vortag der unterhalb des Schlosses gelegene Fischteich über Nacht abgelassen. Ein Feuer brennt dort. Zur Bewachung wurden zu den zwei Soldaten auch noch zwei von uns abkommandiert. Auch ich war für 3 Stunden dabei. Die leicht besoffenen Landser berichten sich gegenseitig wie sie mit gefangenen Partisanen umgingen. "Also, wir haben sie hinter einander aufgestellt und dann gewettet, wie viele umfallen, wenn man sie durch den Kopf oder durch den Hals oder durchs Herz schießt."

Ein nicht beschreibbares Gefühl des Ekels vor diesen Menschen überkam mich: Waren das die Hoffnungsträger für den Wiederaufbau nach dem Endsieg? Und da kamen mir erste Zweifel an der gesamten Situation - die Russen standen vor Wien und die Amerikaner waren im Vormarsch quer durch Deutschland - und der Glaube an den Endsieg wurde erschüttert.
" . . .wenn alles in Scherben fällt!"

In der Erinnerung ein kleines Bruchstück: Die Waschgelegenheiten im Schloss waren eher dürftig. Darum: ein Eineinhalbstundenmarsch zum Mineralbad Èatesch. Hin über eine staubige Landstraße, zurück gut gereinigt über die ebenso staubige Landstraße. Ergebnis: wenig Änderung des Reinigungsstandes. Es gibt kein Radio - nur der Anstaltsleiter hat eines und informiert uns täglich über den Stand der Dinge: "Jungs, eines sag' ich euch: wenn wir diesen Krieg verlieren - die Amerikaner werden uns Deutsche gegen die Russen noch dringend brauchen" Er soll sich später erschossen haben, um nicht von den Partisanen erschossen zu werden . . .

Ostersonntag 1945: ein warmer, sonniger Tag, kein Schießen, keine Bomber der Amerikaner in nördlicher Richtung - ich liege in der Sonne und genieße die Ruhe. Ist das der Friede? Allmählich wird die Lage auch hier brenzlig. Drum: ab nach Hause. Aber wohin? Die Russen stehen knapp vor Wien. Auf jeden Fall einmal hier weg und nach Spanheim in die dortige NAPOLA: Ein Großteil des Stiftes St. Paul im Lavanttal war in eine NAPOLA umgemodelt worden. Aber wie dorthin kommen? Ein LKW mit Anhänger wurde irgendwie aufgetrieben und erwartet uns unten an der Straße. Unterwegs plötzlich Alarm: "Tiefflieger". Der LKW fährt in den Straßengraben unter die dort stehenden Bäume. Wir liegen hinter dem LKW. Kein direkter Angriff - darum wieder weiter. Der Fahrer meldet einen Achsbruch. Nichts geht, bzw. fährt mehr.

Über freies Feld marschieren wir 2 Stunden lang auf einem Güterweg zur nächsten Bahnstation. Ein Personenzug nach Unterdrauburg wollt ihr? So etwas fährt hier nicht mehr. Doch gegen Abend kommt ein streng bewachter Militärzug mit Panzern, LKW und Soldaten. Wir dürfen mitfahren. An Schlaf ist nicht zu denken. Neben der Strecke brennen an vielen Stellen Feuer. Partisanen stehen dort, getrauen sich aber nicht zu schießen wegen der zu erwartenden heftigen Antwort. Frühmorgens Ankunft in Unterdrauburg. Die NSV labt uns mit Erbsensuppe und Roggenbrot. Noch eine Stunde marschieren wir hundemüde zur nächsten Bahnstation im Lavanttal. Vor Mittag sind wir endlich da. Müde, schlafen, schlafen . . .

Eine erschreckende Nachricht kommt zu uns: In der nächsten Nacht haben die Partisanen Unterdrauburg überfallen und -zig Menschen getötet. Wir wären da mitten drin gewesen. Eine Meldung im Radio: Adolf Hitler habe bis zu seinem Tode heldenhaft gekämpft. Das Ende des Krieges steht unmittelbar bevor. Was geschieht mit uns? Viele von uns werden bei Bauern in der Umgebung untergebracht. Ich erhalte eine Postkarte von meiner Mutter, die sich nach Kufstein in Tirol durchgeschlagen hatte. Aufgegeben am Morgen bevor dort die Amerikaner einrückten. Drei Tage später ist sie in St. Paul. Die Post funktioniert noch bestens.

Mit zwei Kameraden setze ich mich Richtung Tirol in Marsch. Mit der Bahn nach Zeltweg. Dort steht vor dem Bahnhof ein LKW. Er nimmt uns mit und es stellt sich heraus, dass er mit Verpflegung voll geladen ist: Mehl, Butter, Zucker, Speiseöl und Konserven - alles gleich in Großpackungen. Durch das Paltental geht es in stockender Kolonne Richtung Radstadt. Das Seitental nach Wagrain haben die Amerikaner zu einem großen Gefangenenlager umfunktioniert. Nach ein paar Tagen sind dort an die 40.000 Soldaten zusammen gepfercht. Unser Proviant wird zur allgemeinen Verpflegung beschlagnahmt - es ist aus mit unseren Extras.

Wir hungern, sammeln Löwenzahnblätter und Sauerampfer, kochen eine Frühlingskräutersuppe. So geht's nicht weiter - also beschließen wir weiter zu ziehen. Zuvor noch eine Vorsprache in Wagrain, wo ein großer Teil der Offiziere der Armee von General Kesselring untergebracht ist. Ein hoher Offizier berät uns: "Ach Jungs, ihr seid ja keine Soldaten, montiert alles, was ein Hakenkreuz trägt von der Uniform! Und dann immer nur fest voran und vor allem keine Angst vor den Amerikanern. Und wenn sie euch befragen: Immer nur darauf hinweisen: we want to go to our mommy - da werden sie weich".

Und es nutzt tatsächlich zwei mal. In St. Johann im Pongau schenkt uns ein Ami sogar eine Dose mit Käse drinnen. Ein Kamerad verabschiedet sich Richtung Oberösterreich. Zu zweit geht es weiter in einem Rot-Kreuz-LKW mit Holzgas-Antrieb bis zur Grenze nach Tirol. Ab Hochfilzen wiederum Fußmarsch Richtung St. Johann. Bei einem Bauernhof bitten wir um ein Stück Brot und ob wir im Heu übernachten dürfen. Die Bäuerin sieht unsere Uniform und schaut uns fragend an: "seids ös nit eppa gor EsEss?" Nein, wirklich nicht, und sie reicht uns gnädig ein Stück trockenes Brot. "dort im Heustadl kennts ibanochtn!" Später kommt dann der Bauer und, immer noch hungrig, überreichen wir ihm einige Tabakblätter, die wir aus unserem Verpflegungswagen mitgenommen haben. Nach ein paar Minuten kommt er mit einer Kanne voll Milch und zwei Scheiben Brot, so über den ganzen Laib, dick mit Butter belegt. "sogts oba nix der Bäurin!". Nein, ganz bestimmt nicht.

Am Ortsende von St. Johann steht ein amerikanischer Posten "what do you want?" "I want to go to Kufstein, to see my mommy!" Es wirkt: "Kafstain? - OK" er hält den nächsten Wagen auf und die nehmen mich mit. Der Kollege will weiter Richtung Seefeld. In Kufstein finde ich meine Familie und wir beginnen, die in Scherben gefallene Welt wieder aufzubauen.

Heute: Was hat man uns, als nationalpolitisch erzogene Jungen, die mit ihren 14 bis 15 Jahren noch kein eigenes kritisches Denken hatten, alles aufgezwungen, nur um die Wahnideen des GRÖFAZ (Größten Feldherrn aller Zeiten) umzusetzen. Verantwortliches Denken der höheren Hierarchie? "Führer befiehl, wir folgen dir!" Eine positive Folge der Katastrophe: Die Europäer haben eingesehen, dass man mit gegenseitigem Totschießen nicht weiter kommt. Über die Montanunion kommt es schließlich zur Bildung der Europäischen Union.

lo