> Günter Hätte: Kindheit im "1000jährigen Reich"

Günter Hätte: Kindheit im "1000jährigen Reich"

Dieser Eintrag stammt von Günter Hätte (*1924) aus Hamburg, Juli 2002:

Die “Machtergreifung” der Nazis im Jahre 1933 hat keine allzu großen Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich war damals erst acht Jahre alt und lebte in einer Kleinstadt.

Heute wird oft behauptet, jeder hätte Anfang der dreißiger Jahre sehen können, in welche Richtung die Reise ging. Das war nicht der Fall. Ich jedenfalls bekam von Rechtsbeugungen und Verfolgungen Andersdenkender recht wenig mit. Erinnerlich ist mir noch die Verhaftung aktiver Kommunisten und Sozialdemokraten Ende 1933. Ich hörte von den Erwachsenen, daß diese Leute in ein sogenanntes Umerziehungslager eingewiesen worden waren. Früher oder später kehrten alle mir bekannten Leute nach Hause zurück. Allerdings erzählte keiner, was ihm widerfahren war. Man sagte, sie hätten sich verpflichten müssen, Stillschweigen über die Vorgänge im Lager zu bewahren.

Im Alter von 10 Jahren wurden die Kinder aufgefordert, den Jugendorganisationen der Nazis beizutreten. Die Jungen gingen zum “Jungvolk”, die Mädels zu den “Jungmädchen”. Gezwungen wurde man damals, also in den 1934-36, allerdings nicht. Die meisten Kinder machten freiwillig mit, denn die Nazis verstanden es meisterhaft, das Interesse der jungen Menschen zu wecken. Man konnte Sport treiben, basteln, das Segelfliegen erlernen, gemeinsame Radtouren machen (sofern man eines hatte) und noch vieles andere unternehmen. Es wurden Geländespiele veranstaltet, Zeltlager abgehalten mit Abkochen und Lagerfeuerromantik. Die Erbsensuppe, die wir da zusammenbrauten, war zwar manchmal angebrannt, schmeckte uns aber dennoch sehr gut. Die allen Jungen inne wohnende Abenteuerlust fand hier Möglichkeiten der Verwirklichung.

Ja, wir trugen die Uniform als äußeres Zeichen einer Gemeinschaft gern: Schwarze Hose, braunes Hemd, schwarzes Halstuch mit einem Lederknoten, Koppel und Schulterriemen. Das Erstrebenswerteste für uns war das sogenannte Fahrtenmesser, das in einer Scheide am Koppel getragen wurde. Ich allerdings mußte lange warten, bis mein Vater das Geld dafür gab. Doch neben die jungenhaften Spiele traten bald vormilitärischer Drill und ideologische Schulung. Dafür aber konnte ich mich nicht begeistern. Dann wollte ich schon lieber im Jungvolk-Spielmannszug Musik machen. Mit der Trommel mochte ich mich nicht abschleppen, deshalb wählte ich die Querflöte und die Fanfare. Ich fand das Instrument toll: Das blitzende Messing mit dem daran befestigten schwarzen Tuch und der schwarz-weißen Tragekordel beeindruckte mich. Wenn wir dann bei den häufig veranstalteten Umzügen an der Spitze des Zuges marschierten und “Preußens Gloria” pfiffen oder einen Fanfarenmarsch schmetterten, war das schon ein tolles Gefühl. Wenn für das Winterhilfswerk gesammelt wurde, liefen die Schüler/innen mit der Sammelbüchse durch die Straßen; wir brachten derweil auf dem Marktplatz ein Ständchen.

Wir wurden auf die Dörfer gerufen, um zum Erntedankfest oder zur Kirmes zu spielen. Danach gab es reichlich Kaffee und Kuchen. Also, mir hat´s Spaß gemacht.

Der Spielmannszug bildete eine Gruppe für sich. Wir hielten die Übungsabende im Gasthof “Zum goldenen Anker” ab und blieben von ideologischen Schulungen weitgehend verschont. Im großen und ganzen herrschte von 1934 an in der Bevölkerung eine Aufbruchsstimmung. Die große Arbeitslosigkeit ging spürbar zurück, die Menschen konnten sich wieder in bescheidenem Umfang etwas leisten. Mit dem jetzigen Lebensstandard war das natürlich überhaupt nicht zu vergleichen; heute geht es Sozialhilfeempfängern manchmal besser als den meisten Arbeitern damals. Kinderreichen Familien bot sich die Möglichkeit, zu einem eigenen Haus zu kommen. Der Staat förderte nämlich den privaten Hausbau mit zinsbilligen Darlehen.

Die sogenannten kleinen Leute konnten sich nun endlich ein Radio leisten, die “Goebbels-Schnauze” machte es möglich. So hieß im Volksmund der subventionierte preiswerte Volksempfänger. Natürlich hatte der Reichspropagandaminister Goebbels dabei einen Hintergedanken: Das nationalsozialistische Gedankengut konnte nun bis in jede Familie hinein verbreitet werden, geschickt verpackt zwischen unterhaltsamen Musiksendungen. Jedenfalls ertönten von nun an in fast jedem Haushalt fröhliche Weisen, Volkslieder und vor allem Marschmusik. Ich erinnere mich noch gut an die Sonnabendnachmittage, an denen die volkstümlichen Unterhaltungssendungen übertragen wurden. Beliebte Melodien damals: “Rosamunde”, “Am Abend auf der Heide”, “Guten Tag liebes Glück”, “Hein spielt abends so schön auf dem Schifferklavier” usw. In jenen Zeiten versammelten sich die Menschen vor dem Radio, wie heute vor dem Fernseher.

An die Bücherverbrennung erinnere ich mich noch sehr gut, ohne daß ich damals deren Bedeutung erkannt hätte. Auf dem Geringswalder Sportplatz wurden beschlagnahmte Bücher auf einen großen Stapel geworfen. Ich kam zufällig dort vorbei und hatte keine Ahnung, was da vor sich ging. Als ich ein Buch zur Hand nahm und darin blätterte, schrie mich ein Wichtigtuer von SA-Mann ganz fürchterlich an.. Erschrocken lief ich davon. Am Abend marschierte dann die SA zum Sportplatz und die Bücher wurden verbrannt. Zu Hause wurde über dieses Ereignis nicht gesprochen, weil zu der Zeit meine Mutter schon schwer krank war. Meine Eltern hatten andere Sorgen.

Was hatte sich sonst noch nach der Machtergreifung der Nazis verändert? Nun, in der Schule wurden bei allen möglichen Anlässen die Fahnen gehißt. Die Schüler mußten dann auf dem Schulhof antreten, der Ansprache des Rektors lauschen und anschließend dann das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied singen. Für uns Kinder war das alles nicht so absonderlich, weil wir ganz allmählich in diese Zeit hineinwuchsen.

Irgendwann wurde verfügt, daß nunmehr nur noch mit dem sogenannten “Deutschen Gruß” (“Heil Hitler”) gegrüßt werden durfte. Dabei mußte man den rechten Arm heben. Zuerst fanden wir diese Anordnung albern und machten uns darüber lustig, indem wir “Drei Liter” oder auch “Heilitler” sagten. Zu Lehrern oder SA-Männern natürlich nicht; wir wußten schon, daß dies als Beleidigung des “Führers” bestraft wurde. Relativ rasch gewöhnten wir uns an diesen “Gruß” und dachten uns weiter nichts dabei.

Von der sogenannten “Reichskristallnacht” (sie wurde 1938 als “spontane” Reaktion des deutschen Volkes auf die Ermordung des Legationsrates Ernst v. Rath in Paris durch den Juden Herschel Grünspan von den Nazis inszeniert) hörten wir im Radio. In unserer Stadt ging kein Schaufenster zu Bruch, obwohl es auch hier ein in jüdischem Besitz befindliches Textilhaus gab. Natürlich hatte man uns in der Schule erzählt, daß das “Weltjudentum” angeblich dem deutschen Volke schweren Schaden zufügen würde. Für mich blieb das alles sehr abstrakt, und mir kam überhaupt nicht in den Sinn, Herrn Grünwald, den Inhaber besagten Textilhauses, als Feind des deutschen Volkes zu betrachten. Während des Krieges hat man ihn doch enteignet und später auch verhaftet. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Am Tage nach dieser - “Reichskristallnacht” genannten - Zerstörungsaktion hatte ich Fachschulunterricht in Chemnitz. Dort waren im Kaufhaus Tietz die Schaufensterscheiben eingeschlagen worden, es wurde wohl auch geplündert. Da ich oft in diesem Kaufhaus gewesen war, habe ich mir das Ergebnis dieser Aktion natürlich angesehen. Was empfand ich dabei? Bestimmt keine Genugtuung, flammende Empörung auch nicht, eher erschien mir das alles sehr befremdlich und unbegreiflich.

lo