> Günter Schöckel: Kriegsende im "Protektorat"

Günter Schöckel: Kriegsende im "Protektorat"

Dieser Eintrag stammt von Günter Schöckel (1929-2011) aus Bonn, 2011:

/lemo/bestand/objekt/schoeckel In Schmiedeberg im Riesengebirge (heute: Kowary, Polen), der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, erhielt ich mit anderen Jugendlichen im Alter von 14 - 16 Jahren im April 1945 die Einberufung durch die Wehrmacht in ein Wehrertüchtigungslager nach Spindelmühle. Eine Woche nach unserem Eintreffen dort wurde aber dieses Lager auch schon wieder aufgelöst. Durch die SS mit Waffen ausgerüstet, erhielten wir den Auftrag, uns zu Fuß nach Hohenelbe im Sudetenland zu begeben, wo wir Flüchtlingstrecks bewachen sollten.

Es kam jedoch anders. Die deutsche Wehrmacht war in Auflösung begriffen und wir erlebten ein furchtbares Durcheinander. Deutsche Ortschilder waren nicht mehr erkennbar, denn die deutschen Städtenamen waren durch tschechische Ortsbezeichnungen ersetzt worden. Richtungsschilder waren verstellt. Es herrschte totale Orientierungslosigkeit. Wir glaubten uns im Flüchtlingsstrom in Richtung Westen, und so sprangen wir auf vorbeifahrende Flüchtlingsbusse auf, die noch Platz hatten, vermutlich sind wir jedoch in gen Osten gefahren. Irgendwann nach kurzer Fahrt wurden wir von tschechischen Soldaten angehalten und zum Aussteigen gezwungen. Wir mussten uns in Reihen aufstellen. Erstmals wurden wir dabei von der einheimischen Bevölkerung beschimpft, bespuckt, getreten und mit Stöcken geschlagen. Alle brauchbaren persönlichen Gegenstände nahmen uns die Soldaten ab. Sodann wurden wir nach Geschlecht und Alter gruppiert und die Fahrt wurde mit dem Bus weiter in Richtung Prag fortgesetzt. In einem Vorort von Prag mussten wir aussteigen und uns wieder in Reihen aufstellen. Es folgte nun eine erneute Selektion durch tschechisches Militär, Polizei und tschechische Einwohner.

In der nächsten Zeit musste ich mit zwei gleichaltrigen Jugendlichen Furchtbares erleben. Wir erhielten von Bürgern den Befehl, hinter den Häusern dieses Vorortes von Prag die mit Genickschuss getöteten SS-Soldaten auf einen Plattenwagen zu heben und in den nahegelegenen Wald zu transportieren. Zu dritt zogen und schoben wir nun diesen schweren Wagen. Der Weg durch den Wald führte eine Anhöhe hinauf. Die vier bis sechs splitternackten Leichen rutschten immer wieder vom Wagen herunter und mussten von uns erneut auf den Wagen zurückgezogen bzw. wieder aufgeladen werden. Diese schreckliche Arbeit wurde besonders dadurch erschwert, dass uns tschechische Einwohner verfolgten und mit Stöcken willkürlich auf uns einschlugen. Sie schlugen uns auf den Rücken, auf die Beine oder rammten uns die Stöcke in den Magen. Im Wald mussten wir Gruben ausheben und die Leichen hineinwerfen. Wir streuten abwechselnd Chlorkalk und Erde darauf. Uns wurde dabei so schlecht, dass wir ständig erbrachen, Blut spuckten und irgendwann entkräftet zu Boden stürzten. Ich war halb ohnmächtig und spürte die weiteren Schläge nicht mehr, die mich wieder auf die Beine bringen sollten. Schließlich wurden wir von stärkeren Männern abgelöst.

Mitte Mai 1945 - Deutschland hatte kapituliert - folgte unsere Inhaftierung in das Gefängnis von Prag (Pankraz). Nach der Einlieferung wurden uns zunächst die Haare abgeschnitten und Hakenkreuze mit Ölfarbe auf den Rücken und auf das rechte Bein aufgetragen. Zwei Wochen wurde ich dort unter den schlimmsten Bedingungen mit vielen anderen Menschen auf engstem Raum gehalten. Jeden Tag wurden wir um fünf Uhr geweckt und zur Gartenarbeit herangezogen.

Eines Tages wurden wir in Sechserreihen wie Vieh durch die Stadt zum Moldaubahnhof getrieben. Mit offensichtlichem Vergnügen schlugen Menschen am Straßenrand wieder mit Schlagstöcken auf uns ein. Auf der Laderampe am Bahnhof machten wir dann Bekanntschaft mit russischen Soldaten, die ihrerseits mit Reitpeitschen auf uns einschlugen und uns Gefangenen soweit noch vorhanden den Schmuck von den Ohren, vom Hals und vom Finger abrissen. Auf allerengstem Raum fuhren wir in einem Viehtransportwaggon von Prag nach Theresienstadt. Dort wurden wir in der "kleinen Festung" interniert. Bei unserer Ankunft mussten wir uns alle im Innenhof aufstellen und dann wurden aus unseren Reihen ca. 30 Personen herausgesucht. Diese wurden vor unseren Augen mit Schlagstöcken totgeschlagen. Auch Kinder sahen dabei zu.

In Theresienstadt war ich mit einer Unmenge anderer Menschen etwas länger als ein Jahr interniert. Unsere Zelle hatte einen Steinboden. Mit Bohlen war das Schlaflager auf drei Etagen gestapelt und mit je einer Decke ausgestattet. In der Nacht fielen die Wanzen, die in den Holzritzen ihre Nester hatten, über uns her. Unser tägliches Essen bestand aus Kartoffelwasser, einem Kanten Brot oder nur trockenem Brot oder ähnlichem. Viele Häftlinge starben. Ihre Leichen wurden durch uns Gefangene direkt ins Krematorium getragen. Aber wir Jungen kämpften ums Überleben. Zu unserem täglichen Arbeitseinsatz gehörten Kasernenreinigung einschließlich aller WC, Feldarbeiten, Arbeiten in der Zuckerrübenfabrik, Stapeln von beschlagnahmten Wirtschaftsgütern aus Schlesien im Lager einer Kaserne und Hilfsarbeiten, die von einer russischen Ärztin überwacht wurden. Für uns bestand die Hilfsarbeit darin, internierte Juden - die unter gleichen Umständen wie wir jetzt hier die Nazizeit in Theresienstadt überlebt hatten - kranke und alte Menschen, zu waschen und neu einzukleiden. Außerdem mussten wir in der Stadt Häuser entrümpeln und säubern, damit die früheren Hauseigentümer oder Mieter die Häuser wieder beziehen konnten.

Irgendwann im Jahre 1946 wurde ich ohne Ankündigung und Papiere entlassen. Zunächst ging es nach Bad Schandau in Quarantäne. Von dort holten mich russische Soldaten eines Tages mit einem LKW ab und fuhren mich nach Mittwaida (Sachsen). In dieser Stadt bekam ich in einer Weberei als Weber eine Anstellung. Durch das Rote Kreuz gelang mir die Kontaktaufnahme zu meinen Eltern, die inzwischen in Rehmen bei Pößneck lebten. Noch im Jahre 1947 zog ich zu ihnen und arbeitete dort auf verschiedenen Bauernhöfen. Für die Arbeit auf den Höfen erhielt ich täglich eine Mahlzeit, allerdings keinen Lohn und auch keine Lebensmittel für meine Eltern.

Im Sommer 1948 gelang mir mit einigen weiteren Personen die Flucht in den Westen, nach Nordheim. In Hannover kaufte ich mein erstes Brot. Über Diepholz und Bielefeld landete ich schließlich in Bonn, wo die Schwester meiner Mutter schon seit dem ersten Weltkrieg lebte. Einige Jahre später durfte meine Mutter nach dem Tode meines Vaters in den Westen ausreisen.

lo