> Hans-Jürgen Meier: Kindheit in Storkow 1939-1945

Hans-Jürgen Meier: Kindheit in Storkow 1939-1945

Dieser Beitrag stammt von Hans-Jürgen Meier (*1936) aus Detmold, Juli 2012.

Am 7. Dezember 1936 wurde ich als ältestes Kind meiner Eltern auf Gut Leistenhof bei Angermünde/Uckermark geboren. Irgendwann 1937 oder 1938 müssen meine Eltern mit mir von dort in das Städtchen Storkow, etwa 50 km südöstlich von Berlin, umgezogen sein. Meine Mutter war beim ersten Kennenlernen von Storkow nicht so begeistert von dem Ort, denn manche  Häuser, ja Straßenzüge sahen mit ihren niedrigen Kolonistenhäusern doch recht ärmlich aus. Aber wir hatten dann eine schöne Wohnung (jedenfalls in meiner Erinnerung), und darin immerhin Telefon, elektrischen Strom und fließendes Wasser. Mein Vater hatte auch bald ein eigenes Auto – einen Opel – und nahm mich oft darin auf seinen Dienstfahrten mit, wenn er für die Landwirtschaftskammer und –schule Beeskow im Kreisgebiet unterwegs war. An Sonntagnachmittagen quälten sich im Sommer schon lange Autoschlangen durch Storkow: Berliner, die vom schönen Scharmützelsee nach Hause fuhren. Unsere Adresse war Poststraße 23; ich musste die Adresse früh auswendig lernen, denn die Vorkriegsidylle war bald vorbei, und in den folgenden schweren Zeiten war es wichtig, dass die Kinder ihre Adresse wussten.

Nach dem Kriegsbeginn 1939 war unser schönes Auto bald beschlagnahmt – die Wehrmacht brauchte es für den Endsieg. Und mein Vater war auch bald weg – er wurde als Soldat eingezogen. Zunächst kamen seine Grüße aus dem Westen: Dijon und Dieppe in Frankreich wurden uns vertraute Namen. Zu Weihnachten 1942 schickte er uns ein Märchenbuch mit Märchen von Richard von Volkmann-Leander, sinnigerweise aus dem Buch “Träumereien an französischen Kaminen“, das der Verfasser, Generalarzt im preußischen Heer, während der Belagerung von Paris für seine Kinder geschrieben hatte – 1871! Jetzt war es neu herausgegeben worden von der “Propaganda-Kompanie einer Armee“. Das Märchenbuch liegt vor mir; auf der Innenseite steht in Schönschrift: “Weihnachten 1942 – Wacht am Kanal – Stab Gren. Rgt. 863“, darunter die Unterschriften von Walter Meier und 11 anderen Soldaten.

Ich habe das Büchlein sehr geliebt. Da mit der Zeit alles immer knapper wurde, gab es ja auch sonst kaum etwas zu kaufen. Weitere Geschenke hat mein Vater bald nicht mehr schicken können, denn er kam in den Osten. Er hat es – Gott sei Dank – nur zum Gefreiten gebracht und war als PKW-Fahrer eingesetzt – in Polen und Russland. 1945 wurde er mit Tausenden anderer Soldaten auf der Halbinsel Hela bei Danzig von den Russen gefangen genommen und verbrachte die Kriegsgefangenschaft dann irgendwo zwischen Moskau und Archangelsk im russischen Norden.

Im August 1943 wurde ich in die Volksschule Storkow eingeschult. An Schultüten oder andere Geschenke kann ich mich nicht erinnern – wahrscheinlich gab es auch keine mehr. Erinnern kann ich mich nur, dass am Nachmittag des Einschulungstages mein Onkel Hans Kläke, Polstermeister, aus Berlin zu uns nach Storkow kam, um einige wertvolle Teppiche und Gardinenstoffe bei uns in Sicherheit zu bringen, denn in Berlin waren sie durch die Bombardierungen inzwischen sehr gefährdet. Leider schien ihn die Nachricht von meiner Einschulung kaum zu interessieren, was mich leicht enttäuschte, denn ich schätzte ihn eigentlich sehr. Er war ein Meister seines Faches und stattete in Berlin zunächst manchen Nazi- und später SED-Größen ihre Privatwohnungen aus; wie er glaubhaft erzählte, waren die Letzteren etwas bescheidener.

Was habe ich von meiner Kriegs-Schulzeit in Erinnerung? Bald konnte ich das Horst-Wessel-Lied auswendig, das bei jeder Gelegenheit angestimmt wurde. Für schmutzige Fingernägel und fehlende Sportlichkeit gab es Stockschläge, denn der Führer wollte die deutschen Jungen ja “hart wie Kruppstahl, flink wie Wiesel und zäh wie Leder.“ Einen Klassenkameraden stellte uns unser Lehrer als leuchtendes Vorbild hin, der was ganz Tolles erlebt hatte: der hatte den Führer schon live gesehen! Berlin war ja nicht weit. O, was haben wir den Jungen beneidet!!

Dann aber fiel immer mehr Unterricht aus; wir mussten tagelang Heilkräuter sammeln – für unsere Verwundeten; dann drohten Tieffliegerangriffe, oder wieder ein Lehrer wurde “eingezogen“ zum Militär. Schließlich hatten wir nur noch Unterricht bei Pensionären oder “Fräuleins“. Die Kriegsschrecken selbst kamen zunächst nicht bis in unser Städtchen. Aber dann wurden wir doch nachts immer öfter durch die Sirenen geweckt und mussten aus Furcht vor Bombenangriffen in den Luftschutzkeller; am Himmel konnten wir blutrot Berlin brennen und die Flakscheinwerfer mit ihren gespenstischen Fingern leuchten sehen. Hinzu kam, dass meine Mutter wegen Kiefernoperationen öfters nach Berlin fahren musste; ich erinnere mich deutlich, wie wir aus der S-Bahn rauchende Trümmer, in der Luft hängende Badezimmer und Reihen von verstörten Menschen sahen, die löschen oder bergen wollten.

Meine Mutter hatte schwer mit ihrem Kiefer-Adamantinom zu leiden; bei einer Operation war ein Stück Nadel abgebrochen und wanderte im Kiefer umher. Es gab viel Blut, Eiter und Tränen – dabei war sie erst 35 Jahre alt. Und die Anfahrten wurden immer schwieriger, denn die Zahnabteilung der Charité war in den Norden Berlins, nach Buch, evakuiert worden. Manchmal wurden meine Schwester und ich dann zu Onkel Fritz und Tante Frieda nach Neuruppin gebracht, und von da habe ich wieder ein besonderes Erlebnis in lebhafter Erinnerung: Auf einem großen Platz wurden feierlich die Zehnjährigen ins Jungvolk der Hitlerjugend aufgenommen – mit Marschmusik, Fahnen und feierlichen Ansprachen. Und wir jüngeren Jungen standen neidisch dabei und sehnten uns nach dem Tag, wo wir auch so aufgenommen werden würden. Ich bin Gott bis heute dankbar, dass es nicht mehr dazu gekommen ist, denn ich hätte keine Widerstandskräfte dagegen gehabt und wäre begeistert mit Tausenden anderer mitmarschiert. Von daher habe ich später auch immer ein Misstrauen gegen Massenaufmärsche und – gelöbnisse gehabt; so habe ich bei all meinen als Gemeindepfarrer getätigten Konfirmationen auch auf das Gruppen-Gelöbnis verzichtet und es bei einer “adhortatio“, einer bittend-ermahnenden Ansprache belassen, wie es übrigens unsere reformierte Agende auch als eine Möglichkeit (unter anderen) vorsah.

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