> Hans Mendgen: In der Flieger-HJ in Blankenburg (Harz)

Hans Mendgen: In der Flieger-HJ in Blankenburg (Harz)

Dieser Eintrag von Hans Mendgen (1926-2023) aus Rosenfeld vom März 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb "Was für ein Leben!"

Als Siebenbürger Sachse kam ich 1940 in ein "Heim für auslandsdeutsche Kinder" in Hohenelse bei Rheinsberg und später nach Liegnitz in Schlesien. Seit 1941 lebte ich mit meiner Mutter, Großmutter und Schwester Hanna in Blankenburg im Harz. Ich erinnere mich noch an ganz seltene Ausnahmen dort, denen ich vor meiner Zeit in Blankenburg noch nie begegnet war. Ein Beispiel für so was war unser Klassenkamerad Erwin. Sein Vater besaß ein bekanntes Textilgeschäft in der Stadt. Dieser Mann hatte, wie allgemein bekannt war, zwei Jahre in einem Konzentrationslager verbracht. Im allgemeinen Sprachgebrauch hieß das, er war im KZ. Was man ihm zur Last gelegt hatte, weiß ich nicht mehr, aber es kann sein, dass es auch gar nicht allgemein bekannt geworden war. Über so was sprach man ja so wenig wie möglich. Sein Sohn hatte zwar dadurch keinerlei Nachteile, auch bei den Klassenkameraden wurde er voll akzeptiert, aber von der HJ war er ausgeschlossen worden.

Alle mussten regelmäßig zum "Dienst", er durfte gar nicht. Wir nahmen das hin, redeten nicht darüber, aber hin und wieder beneideten wir ihn sogar. Manchmal passte uns so ein Heimabend halt auch gar nicht in den Kram, besonders natürlich, wenn wir deswegen irgendetwas Besseres auslassen mussten. Bei ihm war das anders, er durfte ja nicht! Und irgendwann einmal führte dieses Bewusstsein, ausgeschlossen zu sein und zu sehen, dass fast alle Klassenkameraden sogar HJ-Führer waren, dahin, dass wohl sein Verstand ausrastete.

Eines Montagmorgens also fehlte Erwin in der Schule und erst nach ein paar Tagen erfuhren wir den seltsamen Grund dafür. Bevor aber darüber berichtet wird, muss man noch über ein paar Einzelheiten unterrichtet werden. So ein Geschäft, wie das seines Vaters, führte neben der sonst üblichen Bekleidung selbstverständlich auch die gesamte Bandbreite der Parteiuniformen nebst allem Zubehör. Das verführte nun unseren Erwin dazu, sich mit einer kompletten Uniform auszustatten, einschließlich der vielen übrigen Insignien, die es sonst noch dazu gab, um einen hohen HJ-Führer zu mimen. Mit all diesem Kram, gut in einer großen Tasche versteckt, unternahm er nun eine Fahrt in die nächste größere Stadt, in der ihn normalerweise niemand kannte. Auf der Bahnhofstoilette zog er sich um, gab die Tasche bei der Gepäckaufbewahrung ab und stolzierte stolz durch die Straßen. Wenn er dabei immer wieder von HJ-Jungen in Uniform zackig gegrüßt wurde, entschädigte ihn das offensichtlich für die erlittene Ausgrenzung. Natürlich flog dieses seltsame Spiel eines Tages auf und unser Erwin verschwand von der Bildfläche. Keiner erfuhr wohin, aber er tat uns leid.

In Blankenburg hatte ich mich bei der Flieger-HJ angemeldet. Das, was ich hier beim ersten Heimabend vorfand, hätte ich nicht erwartet. So eine gute Ausstattung wie hier hatte ich noch nirgends erlebt. Eine riesige Werkhalle, mit vielen Arbeitstischen und allem erforderlichen Werkzeug, vielen Maschinen und einer Menge von Material aller Art, einfach alles stand uns freiwilligen Arbeitern zur Verfügung. Unter Anleitung von erfahrenen Handwerkern entstanden hier komplette Segelflugzeuge, aber auch viele Flugmodelle, die von den jüngeren gebaut wurden. Hier gab es natürlich keine Probleme mit dem Ansammeln von Arbeitsstunden, über die dann gewissenhaft Buch geführt wurde, weil nur sie ja zum Segelfliegen berechtigten. Und da in meinem Buch, das ich von Liegnitz mitgebracht hatte, schon eine ausreichende Anzahl von Arbeitsstunden eingetragen waren, wurde ich gleich eingeladen, am nächsten Sonntag per Fahrrad zum Fliegen nach Wernigerode mitzufahren. "Gemeinsame Abfahrt, morgen Früh um sechs!"

Jetzt war Holland in Not: "Ich besitze weder ein Fahrrad, noch könnte ich damit fahren", war meine erschrockene Antwort. "Kein Problem, das regeln wir" und es wurde tatsächlich geregelt. Einer hatte ein zweites Fahrrad, das er mir gern ausleihen würde und ein Klassenkamerad erklärte sich bereit, mir das Fahren darauf am Samstagnachmittag beizubringen. "Wir treffen uns auf dem Vorplatz der Schule, dort laufen uns die wenigsten Leute in die Quere", meinte Paul. Da hatte er schon recht, aber wenn die, die ich sah, doch wenigstens ausweichen würden, aber sie standen stur überall herum - die vielen dicken Bäume. Der ganze große Platz stand voll davon und es galt sie zu umfahren und das, wenn man wie ich, noch nie auf einem solchen Drahtesel gesessen war.

Wenn auch etwas unsicher und gelegentlich auch ein wenig wackelig, so kam ich am Tage darauf doch unbeschadet bis nach Wernigerode. An der Ausfahrt, Richtung Flugplatz, ereilte mich aber doch noch mein Schicksal: flott ging es bergab, wir sahen schon die Segelflugzeuge in der Ferne, da kreuzten auf einmal Eisenbahnschienen diagonal unsere Straße. "Aufpassen Hans", rief noch einer, da war's auch schon geschehen, mein Vorderrad blieb in den Schienen hängen und ich absolvierte einen unfreiwilligen Flug über die Lenkstange hinweg, mit einer sehr plötzlichen und recht unsanften Landung. Mein erster Gedanke war: hoffentlich ist dem geliehenen Rad nichts passiert. Ich konnte mich beruhigen, nicht der kleinste Schaden war festzustellen, aber mein Knie, das sah bös aus! Nach der provisorischen Versorgung mit einem darum herum gewickelten Taschentuch konnten wir jedoch die Fahrt fortsetzen. Der Fluglehrer untersuchte gleich meine Verletzung und schickte mich umgehend in das nahe gelegene Krankenhaus zur fachgerechten Versorgung. Dort riet man mir allerdings davon ab, heute normalen Dienst auf dem Fluggelände zu verrichten. Der Fluglehrer sah das natürlich ein und so verbrachte ich einen endlos langweiligen Tag mit Nichtstun. Am Abend, nachdem die Schulungsflieger schon in der Halle waren, ließ er einen Zweisitzer herausholen und lud mich als Entschädigung für mein heutiges Pech ein, mit ihm gemeinsam ein paar Runden zu drehen.

Das war nun endlich richtiges Fliegen. Die tief stehende Sonne erzeugte mit den langen Schatten ein wunderbares, kontrastreiches Bild von der schönen Harzlandschaft und dem mittelalterlichen Fachwerkstädtchen Wernigerode. Einen besseren Abschluss dieses Tages hätte ich mir nicht träumen lassen, nie wieder habe ich einen Flug so genossen, wie diesen.

Durch die Kriegsereignisse bedingt, reichte es mir leider nur bis zur so genannten A-Prüfung, für die nur ein Gleitflug aus relativ geringer Höhe verlangt wurde, und so habe ich leider nie selbst richtig fliegen gelernt. Jetzt konnte ich aber immerhin Fahrrad fahren und hatte nur noch die Sorge, wo ich für den nächsten Sonntag eines ausleihen könnte, denn zu kaufen gab es so was in diesen Zeiten natürlich nicht. Aber immer wieder im Leben habe ich gute Leute gefunden, so auch diesmal. Eine uns bekannte Dame aus der Nachbarschaft, die von meiner Suche erfuhr, lieh mir das Rad ihres Sohnes, der als Soldat im Krieg war. Das war ein sehr großer Vertrauensbeweis, und ich habe immer aufgepasst wie ein Luchs, dass ihm nichts passiert.

Fast ein Jahr hatte ich nun mein eigenes Fahrrad und musste nicht mehr herumsuchen, bis mir jemand eines borgte. Leider ging auch dieses Jahr zu schnell vorüber, denn schon im Spätherbst 1943, wurden alle Schüler unserer Klasse miteinander als Luftwaffenhelfer eingezogen. Bevor wir abreisten, lieferte ich das Fahrrad bei der netten Dame wieder ab.

 
lo