> Hans Mendgen: Privates Glück als Soldat 1945

Hans Mendgen: Privates Glück als Soldat 1945

Dieser Eintrag von Hans Mendgen (1926-2023) aus Rosenfeld vom März 2011 stammt aus dem Biografie-Wettbewerb "Was für ein Leben!"

Im März 1945 befand mich ich als Flaksoldat zwischen Mannheim und Speyer. Ein Karren, gezogen von zwei Rössern, transportierte alles, was noch von unserer Batterie übrig geblieben war. Dazu gehörte außer etwas Verpflegung und einer provisorischen Feldküche hauptsächlich Munition für unsere Karabiner. In der Regel wurden wir in den nächsten Tagen von vielen freundlichen Menschen verpflegt, die uns unterwegs zum Essen einluden und uns oft sogar Nachtquartier gaben. Wenn man sich die Landkarte anschaut, wird man sich fragen: "wohin kann's denn jetzt überhaupt noch hingehen?". Die Antwort darauf war schon damals etwas diffus. Man sprach immer wieder von einer imaginären "Alpenfestung" als letztem Bollwerk der Deutschen. Auch unser Weg sollte dahin führen, also marschierten wir zunächst einmal südwärts.

Unsere Offiziere brachten das Kunststück fertig, alle Straßen zu meiden, auf denen man Amerikaner hätte treffen können. Nach ein paar Tagen hatten wir sie dann tatsächlich umgangen und befanden uns wieder in unbesetztem Gebiet, wo unser Vorankommen zügiger vonstatten ging. Leider habe ich mir die vielen, mir unbekannten Ortschaften, durch die wir kamen, nicht gemerkt, so dass ich heute den Weg nicht rekonstruieren könnte. Natürlich marschierten wir nicht in einer geschlossenen Formation, wir hätten damit nur unnötigerweise ein Ziel für Jagdflugzeuge sein können. Immer wieder tauchten sie aus dem Nichts auf und beschossen alles, was sich bewegte. Aus diesem Grund mieden wir tunlichst alle Hauptstraßen und kamen dadurch fast nie durch Ortschaften. Erst gegen Abend suchten wir nach einem Dach über dem Kopf, denn die Nächte waren jetzt, Ende März - Anfang April, noch recht kühl. Erfreulicherweise gab es überall, wohin wir auch kamen, einen Platz für uns, meistens auf Strohlagern in Schulen. Aber es bürgerte sich, insbesondere bei uns jungen Soldaten bald ein, bei den Bauern um Quartier zu bitten. Meist wurde uns das ausgesprochen gern gewährt und man verwöhnte uns dann nach Strich und Faden, sicher oft mehr, als einst die eigenen Söhne oder Männer. Wir waren für die Leute einerseits eine Abwechslung und andererseits eine Informationsquelle, die nicht ideologisch verbrämt war. Jetzt, in den letzten Tagen des Krieges, war man begierig auf Nachrichten über das aktuelle Kriegsgeschehen, und von offizieller Seite war, abgesehen von den üblichen Durchhalteparolen, nichts Verlässliches mehr zu erwarten. Für so was interessierte sich nun aber wirklich niemand mehr.

Kaum zehn Kameraden hatten sich einmal in einem Klassenzimmer des Schulhauses eingefunden, wo richtige Militärbetten mit Strohsäcken und sauberen Decken für uns bereitstanden. Sogar bezogene Kopfkissen lagen da, und müde von dem langen Marsch, den wir heute absolviert hatten, streckten wir uns wohlig auf unseren Lagern aus. Ein harmloses Gespräch kam auf, man rekapitulierte die Ereignisse des Tages und der eine oder andere war schon dabei, sich heimlich in den Schlaf zu stehlen, als Joseph in seinem gemütlichen Wienerisch plötzlich einen Satz in den Raum warf, der zu unserer gegenwärtigen Stimmung so gar nicht passen wollte: "Wenn die Scheiß-Berliner dem Göbbels seinen "totalen Krieg" nicht so jubelnd herbei gewünscht hätten, wären wir heute vielleicht schon zu Hause!" Das konnte unser Berliner Erwin natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er auf: "Wer hat `38 den Nazis in Wien so zugejubelt, das wart doch ihr und jetzt sollen die Berliner an allem schuldig sein!" Aus war's mit der Ruhe, die wir doch so dringend nötig hatten. Einer machte schnell die Fenster zu, denn das Geschrei wurde immer lauter, und draußen durfte niemand mithören, was hier "verhandelt" wurde. So etwas wäre auch jetzt noch lebensgefährlich gewesen. Als das Wortgefecht zu eskalieren drohte, mussten wir die beiden Streithammel schließlich gewaltsam davon abhalten, sich auch noch zu verprügeln. Wenn sie nach einer Weile auch brummend ihren Streit einstellten, so gerieten wir andern dadurch an ähnliche Themen. Letztendlich war aber alles, was dabei herauskam, spekulativ und mit lauter "Wenn und Aber" gespickt. In die Zukunft konnte keiner blicken und die Vergangenheit war mit solchen Streitereien, wie wir sie gerade erlebt hatten, auch nicht zu bewältigen.

Oft habe ich darüber nachgedacht, was wohl diese Männer dazu bewogen hat, sich jetzt noch so zu erregen. Sich gar gegenseitig vorzuwerfen, an der politischen Situation schuldig zu sein, oder verallgemeinernd, "den Berlinern, den Wienern", die Hauptschuld an der Misere zuzuweisen. Das alles habe ich schon damals nicht verstanden. Sicher resultierte dieses Verhalten aus der Hilflosigkeit, der wir uns alle ausgesetzt fühlten und der Hoffnungslosigkeit, die uns befallen hatte. Meistens bemühten wir uns nur noch in den Tag hinein zu leben. Wir planten kaum noch für die nächsten Stunden und schon gar nicht für längere Zeiträume. Eigene Entscheidungen standen uns sowieso nicht zu, denn wir hatten nur zu gehorchen. Die Menschen von heute können das alles sicher kaum nachvollziehen und sind schnell bereit, das Verhalten unserer Generation von damals und in den Jahren davor zu verurteilen. Aber damit sollte man vorsichtig sein.

Mit nur seltenen Pausen hatten wir inzwischen etwa die Mitte der Strecke zwischen Stuttgart und Bodensee erreicht. Am 8. April 1945 kamen wir in das kleine Städtchen Rosenfeld. Für mich damals begann damit ein neues Kapitel in meinem Leben, wenn sich weltpolitisch auch zunächst rein gar nichts änderte. Hier in Rosenfeld lernte ich meine Frau Marta kennen! Als Quartier ist mir nämlich ihr Elternhaus der Familie Stromeyer zugewiesen worden. In dieser kurzen Zeit in Rosenfeld haben Marta und ich uns ineinander verliebt.

Leider hieß es schon am fünften Tag Abschied nehmen. Unsere Einheit wurde in lauter kleine Grüppchen zerpflückt, die jetzt überall im Land verteilt helfen sollten, die Franzosen bei ihrem Vormatsch etwas zu bremsen. Von Aufhalten oder gar zurückdrängen war ja inzwischen längst keine Rede mehr. Man schob auch gedanklich das unvermeidliche Ende des Krieges nur noch vor sich her. Von Rosenfeld marschierten wir damals zunächst nach Aixheim, einem kleinen Dorf, nicht weit von Rottweil, wo ein umfangreiches Lager mit all den Sachen angelegt worden war, die ein Soldat brauchen konnte. Wir waren ja gar nicht dafür ausgerüstet, als Infanteristen eingesetzt zu werden. In diesem Lager fehlte es buchstäblich an nichts. Überrascht fragten wir uns, wo dieses umfangreiche Material wohl auf einmal herkam. Da müssen knauserige Lageristen jahrelang alles gehortet haben, ohne zu wissen wofür. Es war nämlich ausgeschlossen, dass auch nur ein Bruchteil von dem, was da lag, verteilt werden konnte.

Am nächsten Tag hatte ich in Aixheim sogar noch viel Zeit für rein Privates und dazu machte ich mich auf die Suche nach einem Telefon. Ich wollte ja meiner lieben Marta in Rosenfeld berichten, was sich inzwischen alles ereignet hatte - usw.! Schnell hatte ich sie in der Leitung und es wurde ein langes Gespräch. Am Schluss durfte ich es nicht einmal bezahlen, weil mir der freundliche Telefonbesitzer die Gebühren schenkte. Nach einem reichlichen und guten Mittagessen legten wir auf einer sonnigen Wiese eine Verdauungspause ein und dösten zufrieden vor uns hin. Plötzlich schreit mein Kamerad Kurt: "Hans, schau mal, da kommt Marta mit ihrem Fahrrad!" Erst konnte ich's gar nicht glauben, aber sie war's tatsächlich! Nach einer kurzen, aber um so "heftigeren" Begrüßung bat ich gleich unseren Vorgesetzten um die Erlaubnis, bei dem bevorstehenden Marsch zum Bahnhof nach Rottweil hinter der Truppe her laufen zu dürfen. Natürlich gab es keine Probleme. Sogar Kurt profitierte, er durfte das Fahrrad nehmen, das ihm dann, besonders bei den vielen Bergabfahrten bis Rottweil, manchen Schritt ersparte.

Wir zwei, Marta und ich, trotteten gemütlich hinterher und hatten uns viel zu erzählen. Erst viele Jahre später erzählte mir Marta, wie es dazu gekommen war, dass sie diese weite Fahrt nach Aixheim unternommen hatte. Es war Samstag und sie war gerade bei der üblichen Putzerei, als mein Anruf ihre Arbeit unterbrach. Wie ja schon vorhin erwähnt, war es ein sehr ausführliches Telefongespräch, das da geführt wurde. Als wir dann doch ein Ende gefunden hatten, erzählte sie ihrer Mutter kurz, wer da angerufen hatte und nahm ihren Putzlappen wieder in die Hand. Ihre Mutter aber sah sie an, schüttelte den Kopf und sagte: "Also, wenn ich den Anruf bekommen hätte, dann wäre ich schon unterwegs dorthin, so weit ist das doch gar nicht". Perplex blickte Marta zur Mutter hin, warf den Lappen in eine Ecke, zog sich schnell um und war in Sekundenschnelle mit ihrem Fahrrad verschwunden. Noch Jahre später wunderte sie sich über diese Reaktion ihrer Mutter. Sie hätte sich nicht einmal getraut, so ein Vorhaben auch nur in Erwägung zu ziehen, wohl wissend, wie überbesorgt sich diese sonst um die Gefährdung der Moral bei ihrer Tochter zeigte.

Es waren dann allerdings ganz andere Gefahren, denen Marta sich bei dieser Fahrt aussetzte. Wir befanden uns ja kurz vor dem Ende des Krieges und ständig tauchten ganz plötzlich amerikanische Jagdflugzeuge am Himmel auf, die alles was sich auf den Straßen bewegte, unter Beschuss nahmen. Einige Male war Marta gezwungen, wegen dieser "Hornissen" mit ihren todbringenden Maschinengewehrsalven in den Straßengräben Deckung zu suchen. In Rottweil empfing sie dann auch noch das Geheule der Sirenen, und eigentlich hätte sie jetzt schnellstens einen Schutzraum aufsuchen müssen. Aber wohl wissend, dass so ein Fliegeralarm oft sehr lange dauern konnte, radelte sie so schnell wie möglich weiter. Sie hatte heute was Besseres vor, als ihre Zeit in einem fremden Luftschutzkeller zu verbringen. In der allgemeinen Stille der inzwischen menschenleeren Stadt hörte sie das unheimliche Brummen der anfliegenden amerikanischen Bomberflugzeuge. Wo werden sie diesmal ihre tödliche Last abwerfen? Marta hoffte inbrünstig, keinem Luftschutzwart in die Fänge zu geraten, der sie ganz schnell in einen Schutzraum eingewiesen und ihr zudem noch eine saftige Strafe aufgebrummt hätte. Sie war heilfroh, als sie Rottweil endlich hinter sich gelassen hatte.

Nein, das waren allerdings nicht die Gefahren, an die ihre Mutter gedacht hatte, sonst hätte sie diesen Vorschlag sicher nicht gemacht. Aber Gott sei Dank ist ja damals alles gut gegangen. Gemeinsam mit mir verbrachte meine liebe Marta noch die Wartezeit bis zur Abfahrt unseres Zuges. Wegen der feindlichen Flugzeuge lief ja auch auf dem Rottweiler Bahnhof tagsüber gar nichts. Als dann die Dämmerung hereinbrach, galt es endgültig Abschied zu nehmen. Wir Soldaten bestiegen unseren Zug und Marta schwang sich auf ihr Rädle und strampelte heimwärts. Wie haben wir beide diesen Tag genossen. Und wie lange sollte es dauern, bis wir uns wieder sahen? Fast vier Jahre! Dazwischen lagen das Ende des Krieges und meine Kriegsgefangenschaft in Frankreich.

lo