> Heide Kramer für ihre Mutter Hildegard Kramer: Ein Apfel für Birgit Berkowitz

Heide Kramer für ihre Mutter Hildegard Kramer: Ein Apfel für Birgit Berkowitz

Dieser Eintrag stammt von Heide Kramer für ihre Mutter Hildegard Kramer (*24. April 1913, ✝ 8. August 2016) aus Hannover, April 2004 :

Meine heute 91-jährige Mutter, sie lebt noch in Hannover, erinnert sich sehr gut an die Familie Berkowitz, die aus Königsberg stammte und in Hannover ansässig geworden war. Mein Großvater, er war Geschäftsmann, kontaktierte häufig mit dem in unmittelbarer Nachbarschaft im Zooviertel von Hannover lebenden und wirkenden Rechtsanwalt Dr. Horst-Egon Berkowitz. Man kannte sich gut und schätzte einander. Übrigens hat mein Großvater niemals an seiner vielfältigen jüdischen Kundschaft "Anstoß" genommen.

Es muss um 1940 gewesen sein. Meine damals im elterlichen Haushalt lebende Mutter hatte soeben in einem Lebensmittelgeschäft in der Seelhorststraße eine Tüte Äpfel erstanden, eine Rarität in jenen Zeiten und außerdem nur durch Lebensmittelmarken zu erwerben. Als meine Mutter mit der Kostbarkeit den Laden verließ, traf sie auf der Straße Frau Else Berkowitz, eine Schwägerin von Horst Berkowitz, mit ihrer kleinen, etwa dreijährigen Tochter Birgit, die sehnsüchtig auf die Äpfel schaute. Frau Berkowitz reagierte plötzlich und hauchte meiner Mutter im Vorübergehen zu: "Ach, bitte, nur einen Apfel für das Kind". Meine Mutter wollte spontan der Frau die Tüte geben mit dem Bemerken, nur ein Apfel sei doch zuwenig, sie könne gern die ganze Tüte für die Kleine nehmen. Worauf die Frau entsetzlich erschrak, abwehrend reagierte und erwiderte, um Gotteswillen, nein, einer reiche wirklich aus.

Meine Mutter kannte auch die Schwägerin des Dr. Horst Berkowitz durch die väterlichen Geschäftsverbindungen, warum sollte sie dem Kind nicht wenigstens einen Apfel schenken? So gab Mutter die Tüte weiter an die kleine Birgit, die sofort gierig hinein griff.

Birgit habe große schwarze Augen und lange dunkle Locken gehabt, aber Frau Else Berkowitz färbte damals ihre Haare blond, dieses sei ein krasser Gegensatz zu ihren dunklen Augen und daher sehr auffällig gewesen, erinnert sich meine Mutter.

Noch am selben Nachmittag des Geschehens suchte ein zuständiger Blockwart der NSDAP die Wohnung meiner Mutter auf. Ein Nachbar wollte beobachtet haben, dass sie öffentlich einem jüdischen Kind einen Apfel geschenkt hatte und sofort denunziert. Da dieser Nachbar jedoch keine weiteren Zeugen nennen konnte, verhielt sich der Blockwart human. Er hätte den "Vorfall" ansonsten melden müssen. So blieb es lediglich bei einer Verwarnung.

Meine Mutter weiß, dass Herr Gerhard Berkowitz mit seiner Ehefrau Else und Tochter Birgit in das "Judenhaus" Ellernstraße 16 (Israelitisches Krankenhaus) eingewiesen wurde. Als im ersten Kriegsjahr verschiedene Häuser in Hannover den Bomben zum Opfer gefallen waren, wurden die Juden aus den Wohnungen vertrieben und in Judenhäuser zusammengepfercht. Von der Ellernstraße 16 wurde die Familie Berkowitz mit zahlreichen anderen Unglücklichen schließlich "abgeholt". Vorsichtshalber stellte man dazu besser keine Fragen. Die Menschen kamen nicht zurück. Nun aber weiß meine Mutter, dass Birgit im Dezember 1941 von der Sammelstelle Hannover-Ahlem gemeinsam mit den Eltern Gerhard und Else Berkowitz nach Riga deportiert wurde. Von dort aus wurden Else Berkowitz und die Tochter Birgit nach Auschwitz verschleppt und in den Gaskammern ermordet. Gerhard Berkowitz verblieb zunächst im Ghetto Riga. Er war unter den letzten Insassen von Riga, die kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee zu einem Transport nach Tallin zusammengefasst wurden. Sie starben unterwegs.

Dr. Horst-Egon Berkowitz überlebte das NS-Regime. Ab 1940 musste er im Konzentrationslager Ahlem bei Hannover Arbeitsdienst leisten, konnte jedoch nebenbei sein Büro als "Judenkonsulent" fortführen. Mit seiner Mutter Esther, die im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde (die Todesnachricht traf 1943 ein), musste Horst Berkowitz ebenfalls in das "Judenhaus" Israelitisches Krankenhaus übersiedeln. Horst Berkowitz blieb bis zum Kriegsende dem Konzentrationslager Ahlem zugeteilt. Nach Kriegsende 1945 nahm er die Arbeit als Rechtsanwalt wieder auf.

Als eine stadtbekannte Persönlichkeit starb Horst Berkowitz 1983 in Hannover. Bis zuletzt lebte er mit seiner sechs Jahre älteren Schwester zusammen. Sein äußeres Merkmal war die Motorradkappe auf seinem Kopf, die diesen vor Witterungseinflüssen schützen sollte.

lo