> Heiner Fosseck: Einmarsch der Roten Armee in Parchim 1945

Heiner Fosseck: Einmarsch der Roten Armee in Parchim 1945

Dieser Eintrag stammt von Heiner Fosseck (hfosseck@gmx.de, *1940) aus Hamburg, Juni 2008:


Im April 1945 war ich noch nicht ganz 5 Jahre alt. Meine hochschwangere Mutter, mein Bruder und ich und meine beiden Großmütter lebten in unserem großen Geschäftshaus, direkt am Alten Markt in Sichtweite des schönen Rathauses der kleinen alten Stadt in Mecklenburg.

Monatelang waren ununterbrochen Flüchtlingstrecks durch die Stadt gezogen. Dann auch Wehrmachtseinheiten, erst geordnet, später in Gruppen und vereinzelte Soldaten.

Für uns Kinder war das alles hochinteressant. Wir saßen auf dem Bordstein am Alten Markt und sahen dem chaotischen Treiben zu. Gespannt sah ich zu, wie die Pferde äppelten, das faszinierte mich am meisten. Eines Tages waren die Straßen und Plätze leer. Die Russen kommen! Wir Kinder wurden sofort ins Bett geschickt. Immer, wenn es wichtig und interessant wurde, hieß es: Ab ins Bett.

Am nächsten Morgen mußte die Familie und das Personal das Haus binnen einer Stunde verlassen. Das Haus und das Geschäft wurden beschlagnahmt. Nach langem Herumirren und Bitten und Betteln, kam die Familie vorübergehend in einem Zimmer in der Nachbarschaft bei einer Frau unter, deren Mann in Gefangenschaft war.

Unsere Lehrmädchen und Verkäuferinnen mussten für die Russen tagsüber aufräumen und sauber machen. Nachts drängten sie sich bei uns mit ins Zimmer. Sie lagen zu zweit und zu dritt im Bett oder auf der Erde. Jede Nacht zwischen 2 und 3 Uhr war Razzia. Aufmachen, Aufmachen! Ein Deutscher mit roter Armbinde und zwei Russen suchten deutsche Soldaten, Kapitalisten und Faschisten. Wir Kinder wurden aus dem Bett geholt und vor die jüngeren Frauen gestellt: "Heiner, du passt auf mich auf, dass mir nichts passiert. Du bist doch ein großer Junge." Ich kam mir sehr wichtig vor. Meine Mutter hatte Schmuckstücke versteckt, die sofort gefunden und beschlagnahmt wurden. Damit zogen sie wieder ab.

Das ging jede Nacht so, mal kamen nur 3 Mann, dann 10 Mann hoch. Eine junge Frau sollte eines Tages mitkommen. Meine Großmutter ging energisch dazwischen und wurde brutal zu Boden gestoßen. Wie auf Kommando fingen wir Kinder an zu schreien. Alle weinten. Nach langem Palaver ließ sich das Mädchen wie ein Stück Vieh abführen.

Am nächsten Morgen ging meine Mutter zur russischen Kommandantur, um den Vorfall zu melden. Wir haben von dieser Sache nie wieder etwas gehört.

Eine Frau Rieck erbarmte sich schließlich und nahm uns auf. Meine Mutter kannte sie nur als Kundin. Wir wohnten bei ihr im ersten Stock. Vorne im Wohnzimmer des Hauses lernte ein junger deutscher Mann intensiv russisch. In diesem Haus fanden wundersamerweise keine nächtlichen Razzien mehr statt und auch keine "Malheure" mit den jungen Frauen, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Hier fanden wir Schutz und Ruhe und meine Mutter gebar sechs Wochen später meinen jüngsten Bruder. 4 Jahre später, bei meiner verspäteten Taufe, wurde unsere selbstlose Wirtin, "Oma Rieck", meine Patentante.

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