> Helene Bornkessel: Zwölf Jahre und drei Monate

Helene Bornkessel: Zwölf Jahre und drei Monate

Dieser Eintrag stammt von Helene Bornkessel (*1920) aus Hamburg, April 2001:

Kurzbericht: 1928 /33 Arbeitslosigkeit - Familien wohnen in Bretterbuden auf ihren Kleingärten. Auf den Straßen Aufmärsche der politischen Parteien. Die rechten und linken Gruppen prügelten oder schossen sehr oft aufeinander. Aus Angst vor dem Kommunismus wurden die Nazis stark. Ab 1933 ging es uns besser. Die Arbeitslosigkeit wurde schnell beseitigt. Für Arbeit trat man auch in die Partei oder ihrer Organisationen ein. Die Angst vor einem Bürgerkrieg, siehe Rußland und Spanien, verschwand. Zuerst wurde heimlich aufgerüstet, dann offen, die anderen Länder rüsteten ja auch auf. Große gewaltige Feste brachten auch Gäste aus anderen Ländern. Die Wochenschau zeigte, wie in vielen Nachbarländern rechte Gruppen entstanden. Wir waren nicht allein.

Die politischen Gegner waren in "Umerziehungslager" gebracht worden. Sie und ihre Angehörigen durften nicht darüber berichten. Das erfuhr ich aber sehr viel später. Mit der Göbbelspropaganda wurden die "Volksgenossen" einseitig berieselt und informiert, Arbeiter fahren mit dem KDF in Urlaub - die Bauern werden verherrlicht - ebenso die Mütter und die Jugend. Feindsender abhören war verboten und wurde schwer bestraft. Warum sollten Bürger auch Feindsender hören, wenn es ihnen besser ging. Den wirtschaftlichen Ruin haben die Juden zu verantworten (wurde uns berichtet) - die Arbeiter hätten das Geld für Sie verdient. Bei uns im Arbeiterviertel gab es keine Juden und die Synagoge in der Stadt ist auch stehen geblieben. Die durch den Versailler Vertrag abgetrennten Gebiete wurden mit großen Feierlichkeiten "Heim ins Reich" geholt und jubelten jetzt mit.

Polen verweigerte die Rückgabe Danzigs und einen freien Durchgang durch den Korridor in Westpreußen nach Ostpreußen. Ferner fielen die Polen oft in die Grenzgebiete ein (wurde uns berichtet). Die Besetzung des Senders Gleiwitz führte dann zum Blitzkrieg gegen Polen. Danach Blitzkrieg gegen Frankreich - der Erbfeind bedrohte uns wieder, Besetzung der Nordischen Länder - um sie zu schützen!! Erfolge der Marine und Luftwaffe wurden als "Sondermeldungen" gefeiert. Verluste? Normal - wie immer im Krieg starben viele Menschen, unsere "Auf dem Felde der Ehre" fürs Vaterland, siehe auch 1871 und 1914-18. Weniger zu essen war auch normal - wir waren ja von Feinden umgeben. Erst der Einmarsch in Rußland bereitete Sorgen. Wir hatten doch einen "Nichtangriffspakt " geschlossen? Laut geäußert war es aber gefährlich. Nach Stalingrad und den vielen Luftangriffen kamen Zweifel, die man aber für sich behalten mußte.

In der Heimat wurde durch Bomben gestorben. Die Großstädte warnen nur noch Trümmerhaufen. Ein Soldat hinter der Hand "Das ist ja schlimmer als an der Front". Es begannen die Völkerwanderungen. Zuerst die Ausgebombten, die keiner aufnehmen wollte. Familien wurden auseinander gerissen, Kinder in die Kinderlandverschickung - Mütter mit Kleinkindern kamen aufs "Land". Nur Arbeitskräfte durften die Städte nicht verlassen. Dienstfähige Männer waren an der Front, die sich nach Stalingrad immer weiter zurück zog. In der Heimat Bombenalarm - stundenlang im Keller - Entwarnung alles heil und gesund - in der Ferne Feuerschein. Anstellen nach Lebensmitteln oder Fahrten zu bekannten Bauern. Tauschen und die kartenfreie Abgabe von Lebensmitteln war verboten und konnten schwer bestraft werden.

Berufstätige und Kinder übermüdet zur Arbeit oder in die Schule. Der Weg dahin war oft mit Trümmer übersät. Einzige Abwechslung: Kino mit Wochenschau - Durchhaltefilme und Schlager, "Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei..." oder " Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur gerade aus...". Rückzüge an allen Fronten mit hohen Verlusten, Tieffliegerangriffe auf die Flüchtlingstrecks aus dem Osten - später aus allen Richtungen. In den Städten kein Stein mehr aufeinander. Durchhalteparolen mit Sicht auf die "Wunderwaffe". Attentat auf Hitler verfehlt! Nicht nur die Täter werden hingerichtet. Alte Kommunisten und Widerstandskämpfer kommen ins KZ - und nicht wieder. Den Krieg verlieren? Nicht auszudenken. Wer es offen sagt, ist ein Volksverräter und kann mit der Todesstrafe rechnen.

Also durchhalten und in Richtung Westen marschieren - besser flüchten. Die Straßenränder sind mit überflüssig gewordenem Hausrat - toten Tieren und Menschen gesäumt. Die Straßen sind durch die von Tieffliegern in Brand geschossenen Wagen eingeengt. Die Menschen in den immer länger werdenden Flüchtlingskolonnen strömen in Richtung - Westen, übernachtet wird im Wald oder beim Bauern in der Scheune oder im Stall.

Einige Bauern heizen die Waschküche und kochen Zentnerweise Kartoffeln, um den größten Hunger zu stillen. Ich glaube, man kann der heutigen Generation nicht erklären, daß es zum Schluß auf einen Toten mehr oder weniger nicht mehr ankam. "Weg" - nur nicht dem Russen in die Hände fallen. Wer keine Angehörigen im KZ hatte, machte sich auch keine Gedanken darüber.

"Kriegsende" - Gott sei Dank, es fällt kein Schuß mehr. Aber sofort wurden wir mit Bildern aus den KZs überschüttet. Am Anfang habe ich es nicht glauben können - solche Bilder wurden uns von jedem Feindesland gezeigt, "Propaganda".

Es hat lange gedauert bis ich geschluckt habe, was in den "Zwölf Jahren und drei Monaten" alles geschehen konnte. Europa lag in Trümmern vom Nordkap bis zur Sahara, von der Atlantikküste bis Sibirien. 50.000.000 Menschen weniger auf der Welt.

Danach haben aber die "Alten" angepackt. Die Trümmer beseitigt, gehungert und gefroren. Eine Demokratie gegründet und Freundschaften mit den ehemaligen Feinden geschlossen. Wenn wir Älteren diese Welt beobachten, wird es den kommenden Generationen schwer fallen, ohne Krieg auszukommen. "Am Frieden kann die Wirtschaft nicht verdienen, es wird immer irgendwo auf der Welt Krieg geben" erklärte mir mal ein älterer Mann 1945.

Anfang März 1999 habe ich diese Zeilen geschrieben und zwei Wochen später hatten wir in Europa ERNEUT Krieg.

lo