Dieser Eintrag stammt von Helmut Becker-Floris (*1928 ) aus Hamburg, November 2005:
Im März und April 1945 war ich zu Hause in Montabaur/ Westerwald und wartete auf meine Einberufung zur Wehrmacht. Vor den SS-Leuten, die auf der Straße alle jungen Männer aufgriffen und zum Kriegseinsatz befahlen, konnte ich mich mit meinem Urlaubsschein als Luftwaffenhelfer schützen.
Die Schulen waren geschlossen - so konnten wir uns ganz auf das Heranrücken der feindlichen Truppen konzentrieren. Von der Dachluke unseres Hauses erspähte ich eines Tages im April 1945 die ersten Panzer, die vorsichtig aus dem nahen Wald auf unsere Stadt zurollten. In unserer einzigen Hauptstraße konnten wir dann beobachten, wie die Panzer nicht durch die Hauptstraße, sondern durch schmale Gassen fuhren, um dann zum Einbiegen in die Hauptstraße erst durch einige Schaufenster fuhren, um in dem Geschäft Richtung Hauptstraße zu wenden.
Da in Montabaur nicht geschossen wurde, waren die ersten amerikanischen Truppen relativ friedlich. Mit Lautsprecherwagen wurde eine nächtliche Ausgangssperre angeordnet. Alle weiteren Bekanntmachungen musste man den Aushängen am Rathaus entnehmen.
Unter anderem wurde befohlen, alle Waffen abzugeben. Wir besaßen nur den für mich interessanten Säbel, den mein Vater als Marineoffizier zu feierlichen Anlässen tragen musste. Da er noch in Gefangenschaft war, wollte ich den Säbel für ihn aufheben. Deshalb verpackte ich ihn sorgfältig in eine lange Kerzenkiste, die ich von meinem Onkel, dem Kerzenfabrikanten, organisierte. Diese Kiste vergrub ich tief in unserem Garten! Leider habe ich sie später nicht wiedergefunden.
Als die amerikanischen Truppen kurz vor unserer Stadt standen, beobachtete ich die Wandlung, die in dem nahegelegenen Haus der Parteiführung der NSDAP vor sich ging. Die roten Hakenkreuzfahnen verschwanden; die aus dem Haus eilenden Männer hatten zum ersten Mal nicht mehr ihre braunen Uniformen mit Goldlitzen an, sondern einfache Zivilanzüge, so dass man sie nicht wiedererkannte!
Als ich hörte, dass alle jungen Männer von den Amerikanern in Gefangenenlager abtransportiert werden und ich gerade beobachten konnte, wie ein Klassenkamerad mit vielen anderen in einem großen Lastwagen weggefahren wurde, flüchteten wir zu mehreren in ein kleines Dorf im Westerwald, wo es keine Besatzung gab. Erst nachdem die kämpfende Truppe weitergerückt war, kam ich wieder nach Hause.
Die Amerikaner beschlagnahmten zahlreiche Wohnungen im Erdgeschoss, auch bei uns, so dass wir mit unseren ehemaligen Feinden unter einem Dach wohnten. Für uns Jugendliche war das hochinteressant! Später wurde Monabaur französische Besatzungszone (genau wie nach dem Ersten Weltkrieg 1918) und französische Truppen rückten in die Stadt ein. Diese beschlagnahmten ganze Häuser, so dass wie bekannten Familien halfen, in Eile ihre wichtigsten Sachen aus dem Haus zu schaffen.
Die französische Besatzung drangsalierte auch die unbedeutenden ehemaligen Parteigenossen der NSDAP; ihre Geschäfte wurden geschlossen, sie wurden tagelang verhört, u.a. Nachdem im Herbst 1945 der Schulunterricht wieder begann, ordneten die Franzosen an, dass wie statt Englisch jetzt wöchentlich sieben Stunden Französisch lernen mussten. Weitere Ereignisse nach 1945 habe ich in meinem Bericht "Mein Leben in der Nachkriegszeit" geschildert.
Die Frage, ob ich das Ende des Krieges und damit das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft damals als Zusammenbruch empfunden habe, kann ich nicht eindeutig beantworten. Ich war ein überzeugter Hitlerjunge und empfand den Dienst als Luftwaffenhelfer als eine selbstverständliche, ehrenvolle Pflicht. Insofern brach für mich nach dem Ende des Hitlerregimes eine Welt zusammen, in der ich wichtige Jahre meines Lebens verbracht hatte. Andererseits verursachten die letzten Jahre des Krieges und die damit verbundenen traurigen Ereignisse einen gewaltigen Druck auf uns alle, so dass die Ankunft der Alliierten und die völlig anderen Lebensumstände sicher als Befreiung von bisherigen, insbesondere seelischen, Lasten empfunden wurden. Die tägliche Sorge, genügend zu essen zu haben und mit dem Leben unter Besatzungsverhältnissen fertig zu werden, ließ jedoch keine Zeit und Energie übrig, um über tiefgreifende Probleme nachzudenken.