> Henning Wenzel: Ausbombung

Henning Wenzel: Ausbombung

Dieser Eintrag stammt von Henning Wenzel (* 1908) aus Siegen, 04.04.2000:

Dieser Brief meiner Schwester Barbara Wenzel (1899-1976) an mich beschreibt anschaulich die Luftangriffe und die Ausbombung unserer Berliner Familienwohnung in der Keith-Straße 36 in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943.

"Berlin, 24.11.1943

Mein lieber, armer Heini!

Nun hat das Unglück auch uns getroffen und alles restlos vernichtet, woran wir seit Kindertagen gehangen haben und was teilweise schon lange vor uns unsere Eltern und Großeltern erfreut hat, soweit es sich um Schätze handelt, die das Feuer fressen kann. Du, mein Heinerchen, hast ganz besonders starke Bindungen zu den Sachen und Erinnerungswerten gehabt, es war unser Zuhause, für dich noch in eigener Weise das Daheim, in das du soviel Liebe und Mühe hineingesteckt hast. Darum bin ich für dich und für die Armen in Rio besonderes traurig. Aber man darf nicht beim Nachdenken über den Verlust und der Trauer stehenbleiben, sondern muß dankbar sein, Leben und Gesundheit gerettet zu haben. Und wenn man sieht, wieviel Hunderttausende das gleiche Schicksal haben, so überkommt einen der große Jammer des ganzen Volkes, von dem das eigene Leid nur ein winziger Ausschnitt ist. Dadurch, daß Ihr nicht im Felde seid, ist uns andere Not erspart, und doch wollen wir nicht ausgeschlossen sein, von den Opfern, die unser Volk zu tragen hat.

Bis heute vormittag wußte ich nichts von Peter, konnte auch seine Firma nicht erreichen und wollte schon nach Wannsee fahren. Da erschien Peter gegen halb 12.00 Uhr bei mir im Büro. Er ist gesund bis auf die Augen, die hoffentlich auch wieder in Ordnung kommen. Sie haben unter Qualm und Staub sehr gelitten, im linken ist wohl noch ein Fremdkörper, es war verbunden. Auch mit dem rechten sieht Peter nur verschwommen. Er erklärte aber, die Augen seien schon erheblich besser als zuerst. Maria und das Kind sind wohlauf. Alle drei, dazu Tante Lotte und Paula sind zur Zeit in einem Krankenhaus in Schmargendorf, Paretzer Str. untergekommen, müssen dort aber hinaus, weil es für Verletzte gebraucht wird. Peter möchte nun schnellstens mit Familie aus Berlin heraus, irgendwohin, wo Maria mit mehr Ruhe ihr Kind kriegen kann. Er möchte dabei bleiben, bis das alles vorüber ist, ist selbst ja zur Zeit mit seinen Augen auch nicht arbeitsfähig. Aber wohin? Falls Frl. Jahr morgen in einer Evakuierungssache reisen kann und über Soldin kommt und dort Aufenthalt machen kann, will sie Tante Elli bitten, sich dort zu bemühen. Sonst versucht's Peter noch durch die NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt].

Schlimm ist, daß wir von Ursel noch gar nichts wissen, als daß das Haus sicher auch in Trümmern liegt. Telefonverbindungen gibt es kaum noch. Ob das Haus ihrer Firma noch existiert? Ich werde morgen nachsehen. Vom Rathaus Tiergarten aus war ich heute noch in der Spenerstraße. Tante Luises Haus liegt auch in Schutt und Asche. Über ihren Verbleib wußten Umstehende nichts. Im Kohlenkeller brannte es noch. Die Menschen aus dem Haus sollen aber alle geborgen sein.

Du kannst dir keinen Begriff machen von dem Trümmerhaufen Berlin! Zwischen Zoo, Wittenbergplatz, Lützowufer, Einemstraße steht kaum noch ein bewohnbares Haus. Das Gesandtschaftsviertel ist ausgebrannt, Hansaviertel und Moabit liegen in Trümmern, am Alexanderplatz, vom Oranienburger Tor über Stettiner Bahnhof nach Reinickendorf, soll es nicht anders sein. Alle großen Bahnhöfe sind schwer getroffen, Leipzigerstraße, Potsdamerstraße, Zeughaus, Singakademie nicht minder. Kurfürstendam und Charlottenburg brennen - dieser Ausschnitt genügt wohl! In der letzten Nacht soll Spandau besonders heimgesucht worden sein. Überall brennt es noch weiter, stürzen immer wieder Ruinen zusammen. Aber ich will mit dieser Schreckensschilderung aufhören und chronologisch berichten.

Alarm Montag 19.30 Uhr bei Nebel und leichtem Regen. Nach nicht sehr langer Zeit begannen die Bombenabwürfe, auch bei uns erschütterte der ganze Keller. Die Männer und beherzte Frauen, zu denen ich nicht gehörte, machten sich sofort ans Löschen, als die ersten Brandbomben unser Haus trafen, eine ganz oben an der Hintertreppe. In der Nachbarschaft brannten bald zahlreiche Häuser. In eineinhalb bis zwei Stunden hatten die Engländer ihr Ziel erreicht. Es kam aber nach kurzer Pause noch ein zweiter Alarm, der jedoch nicht lange dauerte. Ich machte zwischen den beiden Alarmen und nach der zweiten Brandwache in unsere Wohnung, in die ständig die Funken sprühten, besonders im Eßzimmer, in der Küche und im Hinterflur, während im neuen Kinderzimmer sogar die Scheiben heil blieben. Dazwischen füllte ich immer wieder Wassereimer aus unserer Badewanne und brachte sie zur Hintertreppe oder auch bis auf den Boden. Vorn hatte ich noch alle Jalousien heruntergelassen, was die Funken einigermaßen abhielt. Einige Gardinen holte ich noch herunter, rückte alles leicht Brennbare von den Fenstern fort, kehrte Scheiben zusammen, räumte Geschirr und Möbel aus der Küche ins Kinderzimmer und Eßzimmer. Wir fürchteten nämlich einen Durchbruch des Feuers von dem Knauerschen Hause, das allmählich schon ganz herunter brannte, zu uns.

Auf dem Boden bzw. Dach, wo Peter, Hoecker, Parpart und andere einen zähen Kampf führten, gelang es zunächst immer wieder, die Brände zu löschen und einzudämmen, die durch Funkenflug entstanden. Es war ein mächtiger Sturm, teils durch das Wetter, teils durch die Hitzeentwicklung. So ging es stundenlang, wohl bis um Viertel nach drei Uhr. Wir hatten gehofft, unser Haus zu retten. In der Alarmpause, als Paula angelaufen kam, hatte ich sie und Tante Lotte sogar zum Schlafen eingeladen, da deren Wohnung schon ausgebrannt war. Dann auf einmal ging es doch nicht mehr. Es brannte an zu viel Stellen, daß Gesims geriet in Flammen, die Männer waren erschöpft. Der Dachboden drohte einzustürzen. Peter flog durch unsere Wohnung, ich ihm nach die Vordertreppe hinunter. Licht gab es dort nicht mehr. Unten rief er nach Maria, hörte aber, daß sie schon fort sei, hat dann später noch erfahren, daß sie nach dem Franziskus-Krankenhaus gelaufen sei. Er selbst war, wie er mir heute erzählte, sogar noch im Keller und hat Frau Gurlt als letzte dort unten herausgeholt.

Ich selbst lief mit Mantel, Hut und Mutter's altem Cape in Richtung Corneliusbrücke, zunächst in einen Hausflur, der noch stand. Dort traf ich Kalitzkys und Frl. Erfurt. Weil aber zu sehen war, daß jede Minute das Fortkommen durch Flammenmeer und Trümmer schwerer machen würde, lief ich mit Frl. Erfurt bald weiter zum Lützowufer, wo auch alles brannte und einige gerettete Sachen an der Böschung auch Feuer fingen. Also weiter durch das brennende Gesandtschaftsviertel zur Hofjägerallee. Von dort allmählich über den Großen Stern und die Charlottenburger Chaussee in Richtung auf den brennenden Bahnhof Tiergarten und unter Zurufen "Vorsicht vor Blindgängern!" in den Bunker am Bahnhof Tiergarten.

Dort war schon ein trauriges Heerlager von verrußten Menschen und geretteten Habseligkeiten, alle im Zustand der Erstarrung, einige leise weinend, manche erschöpft an der Erde liegend und schlafend. Nur die kleinen Kinder rührend in ihrer unwissenden Unbekümmertheit! Peter usw. fand ich nicht, dagegen Frau Scheidt, die Wäschereibesitzerin (jetzt in Ruhestand!) aus Tante Lottes Haus. Da saß ich nun auch. Gegen 7 Uhr versuchten wir, in den großen Bunker am Zoo zu gehen. Es war aber so windig, daß ich mit den Koffern nicht vorwärts kam. So bat ich Frau Scheidt, meine Sachen zu beaufsichtigen, und ging allein hinüber, um Peter und Maria usw. zu suchen und zu sehen, ob drüben etwas Amtliches mit uns geschehen würde. Durch drei Stockwerke hindurch suchte ich in allen Räumen, fand aber nur Frau Wobersin, die nicht wußte, wo ihr Mann geblieben war, einige andere Leute aus der Nachbarschaft und sah auch Frau Rötger. Von allen Seiten waren die Leute zusammengeströmt und man hörte nur: "In unserer Straße ist alles zerstört".

Ich ging dann zum anderen Bunker zurück, ruhte dort noch etwas aus, und zog dann doch mit Frau Scheidt und allen Sachen wieder zum großen Flakbunker, weil dort Sammelstelle sein sollte. Nach zehn Uhr kamen zwei Leute vom Bezirksamt und erklärten, sie würden nun die nötigen Angaben aufnehmen, was aber stundenlang dauern würde. Zu Mittag hofften sie, etwas Verpflegung heranzukriegen. Wer irgend könne, solle sich selbst unterbringen. Nun beschloß ich den Versuch, nach Nikolassee durchzukommen, wo ich einige Sicherheit für meine Sachen und ein Unterkommen erhoffte. Es gelang. Vom Zoo ging die Untergrundbahn nach Kaiserdamm, von dort, d.h. Witzleben über Westkreuz konnte ich nach Nikolassee, wo ich gegen zwölf Uhr im Büro ankam.

Pastor Wenzel lag mit Nierenschmerzen im Bett und bot mir gleich Unterkunft im Waldhaus an, wo jetzt nicht alle Krankenzimmer besetzt sind. Unter Umständen wird mir auch mein Büro als Schlaf- und Wohnraum eingerichtet und ich ziehe mit der Arbeit in Bruder Schochs Büro. Das wäre wohl bis auf Weiteres das Günstigste. Zunächst habe ich es im Waldhaus gut, mit Bett, Ruhebett, Schrank, Tisch, fließendem kalten und warmen Wasser, Tee morgens und dem warmen Teil der Abendverpflegung. Da kann ich nur dankbar sein.

An Sachen habe ich auch mehr als du fürchten wirst. - Eben wieder eine Stunde Unterbrechung durch Alarm, Bomben im Stadtgebiet, aber weniger Flugzeuge als gestern und vorgestern. - In der Ahnung, daß ich nicht noch einmal in den Luftschutzbunker kommen könnte, nahm ich meine Aktenmappe, Mutters Capes, die große Werkzeughandtasche von Mutter mit meinen Schmucksachen zur Brandwache mit nach oben. Der schwarze Luftschutzkoffer selbst blieb unten. Oben packte ich zwischendurch in meinen großen Handkoffer noch einige Kleider, etwas Leibwäsche, die Steppdecke und die alte lila-graue Strickdecke, dazu einiges in mein kleines schwarzes Handköfferchen. Meine Aktenmappe und Mutters Handtasche nahm ich in den Rucksack, die beiden Koffer in die Hand. Dazu kommt dann der Inhalt des Büroluftschutzkoffers und des Koffers in Saarow, sowie des Kartons in Wehnde. Ich werde nächstens Bestandsaufnahme machen. Waschzeug und andere wichtige Dinge aus dem richtigen Luftschutzkoffer fehlen mir. Leider habe ich auch meinen Muff, Bestecks usw. nicht mehr eingepackt. Immerhin habe ich die nötigsten Kleidungs- und Wäschestücke während Peter und Maria kein Kleid, keinen Anzug und nichts für das Kind haben. Zwei Pfund Zucker für Frau Lefkes habe ich übrigens auch! Aber all dein liebes schönes Eingemachtes und der reiche Inhalt des Vorratsschrankes!

Ich aß im Büro Mittag, bat um Besorgung meiner Koffer ins Waldhaus und Einkauf von Brot usw. und fuhr dann wieder auf die gleiche Weise wie vorher zum Zoo. An der zerstörten Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche vorbei, gelangte ich zwischen Trümmern und Bränden hindurch bis zur Stelle der früheren Pappel. Das Franziskuskrankenhaus suchte die Feuerwehr noch zu retten. Wilke und der Schuster bestehen noch - dann ist's aus. Paetzold bedeutet für jeden von uns unter Umständen ein paar geretteter Schuhe! Die Reste unseres stattlichen Hauses boten einen trostlosen Anblick, die ganze Vorderfront eingestürzt, nur ein paar Trümmer in die Luft ragend, mit dem Dachgitter zu oberst. An der Stelle von Kalitzkys Laden brannte es noch. Also keine Aussicht, daß vor Kriegsende die Trümmer weggeschafft werden und festgestellt werden kann, ob aus den Kellern noch etwas zu bergen ist. Bis heran ans Haus konnte ich gar nicht, weil ein riesiger See alles überschwemmt hatte.

Ich konnte auch nicht rechts in die Keithstraße, sondern mußte durch die Burggrafenstraße zurück durch die Kurfürstenstraße gehen, Tante Lottes ist Haus auch ganz ausgebrannt. Weiter. Einbiegen in die Nettelbeckstraße, vor Trümmern und Rauch unmöglich! Weiter zur Woyrschstraße, wo es besser war und wo ich eine Sammelunterkunft vermutete, die ich dann im Bachsaal fand. Von Verwandtschaft wieder nichts zu finden. Bei Kerzenlicht schrieben Beamte die ersten Fliegerschädenausweise aus, so daß ich einen solchen bekam. Im übrigen wurde ich ans Rathaus verwiesen. Ich konnte dann vom Nollendorfplatz mit der U-Bahn bis Uhlandstraße fahren ohne Halt am Wittenbergplatz, weiter über Zoo, Kaiserdamm, Witzleben hierher.

Frau Oberin empfing mich freundlich, nachdem ich als erstes hörte, es sei schon Voralarm. Im Zimmer standen von ihr Blumen und Äpfel, von Frl. Neumann usw. Blumen und eine liebe Karte, dazu meine Sachen, auch von Frau Kagel für ihren Sohn gebackene Kekse. Ich bekam dann auch gleich Abendbrot, und als ich gegessen hatte, ging die Sirene. Zwei Stunden Alarm und Angriff, aber hier draußen nicht schlimm. Danach sank ich nach gründlicher Reinigung todmüde ins Bett. Aus einem angebotenen Bad war durch den Alarm nichts geworden. Ich schlief fest.

Heute ging ich ins Büro. Es fehlten drei von uns aus dem Norden, um die wir in großer Sorge sind. In der Nacht vorher hatten wir nur einige, auch geringere Schäden. Dann kam Peter. Er berichtete - ich war glücklich - über die nach Umständen guten Nachrichten von ihm und den Seinen, Tante Lotte und Paula. Er bekam bei uns noch Mittagessen, dann fuhren wir zusammen über Westkreuz bis zur heutigen Endstation Beusselstraße und liefen von dort zum Rathaus Tiergarten. Die S-Bahn fuhr nur stückchenweise, desgleichen die U-.Bahn, während Straßenbahnen gar nicht verkehren und Autobusse nur nach einigen Vororten, die sonst nicht erreichbar sind. Auch auf diesem Weg ein Bild des Grauens und viele noch anhaltende Brände. Das Rathaus steht noch, hat aber auch starke Schäden. Leider war der Besuch erfolglos. Peter bekam nicht einmal den Fliegerausweis. Wegen Unterkunft für Maria wurde an die NSV verwiesen. Die Lebensmittelkartenausgabe und die Geldauszahlung war schon gesperrt, weil es anfing dunkel zu werden und kein Licht gab, auch Fenster und Verdunklungen meist zerfetzt waren.

Wegen sonstiger Bezugsscheine verwies man uns an die alte Kartenstelle. Abreisebescheinigungen gibt es erst, wenn Maria weiß wohin. Das Abreisen ist auch dadurch ein Problem, daß zur Zeit nur vom Götlitzer Bahnhof, von Wustermark und von Potsdam Fernzüge fahren. S-Bahnzüge durch die Stadt gibt es auch nicht. Wir trennten uns dann. Peter wollte vielleicht noch wegen des Fliegerschadenausweises zur Derfflingerstraße und unter Umständen zur Nettelbeckstraße 20. Ich ging durch Turmstraße und Alt Moabit zur Spenerstraße. Trümmerhaufen! Lotte Rogalls Haus steht noch. Sie war nicht da. Ich habe sie gebeten zu versuchen, über Tante Luises Verbleib etwas festzustellen. Nun wieder zu Fuß zurück zum Bahnhof Beuselstraße und von dort hierher.

Nun will ich lieber schlafen gehen. Hoffentlich bekomme ich auch von Dir Post. Irgendetwas an Sachen nach Berlin zu schicken scheint jetzt zwecklos.

Herzlich grüßt und küßt Dich

Deine Barbara"

lo