> Hermann Joseph Heckmann: Die Kinderlandverschickung nach Nideggen, Eifel, 1944

Hermann Joseph Heckmann: Die Kinderlandverschickung nach Nideggen (Eifel) 1944

Dieser Eintrag stammt von Hermann Joseph Heckmann (*1929) aus Windhagen (heckmann.windhagen@t-online.de), Februar 2012:

/lemo/bestand/objekt/heckmann_01 Am 20. April 1944 - Hitler wurde an diesem Tag 55 Jahre alt - erfolgte der erste Tagesangriff auf Köln, sozusagen das Geburtstagsgeschenk der Alliierten für Hitler. Noch unter dem eigentlichen Keller meiner Schule in der Spichernstr. (in der Nähe des damaligen innerstädtischen Güterbahnhofes Köln-Gereon) befand sich ein Versorgungsgang, an dessen Decke sich alle Leitungen von Strom, Heizung, Wasser und Abwasser befanden. Weil der Fliegeralarm zu spät erfolgte, konnten wir nicht in einen nahe gelegenen Luftschutzbunker gehen sondern mussten da Zuflucht suchen. Da saßen also rund 240 Kinder und die Lehrer in diesem Gang und erlebten hautnah den Angriff. Es gab weder Panik noch Hysterie. Als der Angriff vorbei war, stellten wir fest, dass die Schule auch einen Treffer mitbekommen hatte. Als wir - weiß wie die Schneemänner vom Kalkstaub - auf der Straße standen und niemand etwas passiert war spendete uns unser Rektor Dr. Züfle das größte Lob, das er jemals 'losgelassen' hatte: Er sagte: "Jungens, ich bin stolz auch Euch!"

Nach diesem Angriff wurde uns eine Evakuierung mit der Kinderlandverschickung (KLV) nach Nideggen in der Eifel angeboten. Da sich die Sicherheitslage so verschlechtert hatte, sah meine Mutter darin die beste Lösung und ich durfte mit. Das KLV-Lager befand sich in dem - aus Kriegsgründen geschlossenen - Hotel Heiliger auf der Hauptstraße. In den ehemaligen Hotelzimmern schliefen, abhängig von der Zimmergröße, bis zu vier Schüler. Nach ein paar Wochen war das 'Gartenhaus', das sich direkt an der Stadtmauer befand, bewohnbar gemacht worden, und so zogen wir Schüler der Klasse 4 b dort ein. In den ersten Wochen wurde jeden Morgen auf der Hotelterasse Frühsport gemacht. Als wir eines Morgens ins Freie kamen, herrschte dichter Nebel - aber nur ca. 1,10 Meter hoch. Wenn wir uns bückten und nur eine Handbreit Nebel über uns hatten, war von uns Nichts mehr zu sehen. Orientieren konnten wir uns nur an den Büschen und Bäumen des Hotelparks, die aus dem Nebel in den makellos blauen Himmel ragten. Ein solches Naturschauspiel habe ich danach nie mehr erlebt.

Jedes KLV-Lager hatte als Lagermannschaftsführer (LMF), eine von der HJ bestimmte Person. Wir hatten zunächst keinen LMF. Eines abends beim Abendessen überraschte er uns in HJ-Uniform, mit drei Sternen auf den Schulterklappen = Dienstgrad Gefolgschaftsführer (im DJ = Fähnleinführer), rotem Streifen = Kriegsfreiwilliger und mit weißer 'Affenschaukel' = Dienststellung Stammführer [Die an der linken Schulterklappe und am Knopf der linken Brusttasche befestigte weiße geflochtene Schnur hing grundsätzlich etwas 'durch' und wurde deshalb 'Affenschaukel' genannt.].

Natürlich musste Walter, so hieß der LMF, seine 'Macht' demonstrieren. Dazu scheuchte er uns am nächsten Samstagnachmittag nach dem Motto: "An den Horizont, marsch marsch" durch das Gelände. Als wir müde und verdreckt zurück kamen, meinte unser Lehrer Weiste im vorbeigehen: "Wenn unser Spieß das 1914/18 mit uns gemacht hätte, wäre dem in der nächsten Nacht der 'heilige Geist' erschienen." Das war natürlich Wasser auf unsere Mühlen. Abends haben die Lehrer in einem Zimmer - der LMF hatte das Zimmer daneben - einigen Flaschen Wein den Hals gebrochen und dazu laut Rhein- und Weinlieder gesungen. Von dem Krach nebenan, als der LMF von uns Prügel bezog, haben sie absolut Nichts gehört …. sagten Sie jedenfalls. Weistes ebenfalls im vorbeigehen hingeworfenes: "Sehr gut Jungens!" ließ aber etwas Anderes vermuten.

Die Situation eskalierte. Am nächsten Samstag wurden wir wieder geschliffen. Die Antwort darauf war subtiler. Der LMF hatte sich in die Bäckerstochter verkuckt, die aber Nichts von ihm wissen wollte. Ein paar von uns haben das Mädchen überredet, mit ihm mindestens zwei Stunden spazieren zu gehen. Da ihr unser Plan gefiel stimmte sie zu. Als der LMF von seinem Rendezvous zurückkam, fand er in seinem Zimmer nur einen Zettel "Das nächste Mal liegst Du im Krankenhaus!" Wir hatten gemeinsam das ganze Zimmer ausgeräumt. Möbelteile lagen in der Dachrinne, auf der Mauer an der Terrasse und waren auch hinter Büschen im Park versteckt. Seine Kleider hingen hoch in den Bäumen. Die Lehrer haben sich darüber amüsiert, wir hatten unseren Spaß und unsere Ruhe. Endgültig!

In Nideggen gab es damals inzwischen drei KLV-Lager: In der Jugendherberge waren Kinder aus einer Volksschule in Köln-Kalk untergebracht. Außerhalb der historischen Stadtmauer, direkt am Zülpicher Tor, lebten in einer alten Villa Mädchen aus einer Kölner Mittelschule. Als drittes Lager hatten wir das aus Kriegsgründen geschlossene Hotel Heiliger besetzt. Die Leitung des Mädchenlagers hatte das ganze Lager Heiliger zu einem 'Nachbarschaftsbesuch' eingeladen. Zu unserer Unterhaltung hatten sie sich eine Menge ausgedacht: so wurde z.B. ein Gedicht von Morgenstern vorgetragen, es wurde gesungen und Szenen - man würde heute sagen Sketche - aufgeführt. Alles Dinge, die Mädchen imponiert hätten, die aber für Jungens, um die 15 Jahre alt, völlig ungeeignet waren. Statt Beifall ernteten sie Zwischenrufe und höhnisches Gelächter. Aber was kann man von einer Horde Jungens in diesem Alter schon erwarten? Jedenfalls waren die Mädchen restlos sauer auf uns!

Im Hochsommer hatte das DJ und die HJ aus Köln in der Nähe von Nideggen ein Zeltlager abgehalten. Ein paar Jungens davon hatten aus unserem Lager ein Hitlerbild geklaut. Sie wollten uns das Bild nur zurück geben, wenn wir mit ihnen ein so genanntes 'Geländespiel' machen würden: Wir sollten die Stadt Nideggen verteidigen, die von ihnen angegriffen würde. Das müsste uns doch möglich sein, die vier Stadttore in der ansonsten voll erhaltenen Stadtmauer zu verteidigen. Dachten wir! Am Nachmittag des ausgemachten Angriffstages besetzten wir rechtzeitig die Stadttore. Der Angriff erfolgte aber mit unfairen Mitteln: Die Angreifer bewarfen uns mit Knallkörpern beträchtlicher Größe. Wir haben uns mit allen zur Verfügung stehenden Kräften gewehrt … bis wir plötzlich auch von hinten angegriffen wurden. Aus Rache für den von uns 'zerstörten' Nachmittag hatten die Mädchen den Angreifern verraten, daß von der Rur durch ein Nebental ein Waldweg direkt zu unserer Terrasse führte.

Als Trost für unsere Niederlage schenkten uns die 'Sieger' einen Karton voll Knallkörper. Einige Tage später sind wir vor die Villa gezogen, haben laut 'Verräter' gerufen und Knallkörper - natürlich mit brennender Zündschnur - durch die offenen Fenster ins Haus geworfen. Die Mädchen haben sofort alle Rollladen herunter gelassen. Nur im zweiten Stock war noch ein Fenster offen. Das nahm ich mir zum Ziel. Der Knallkörper flog aber zu hoch und flog nicht durch das offene Fenster, sondern durch die Scheibe des Oberlichtes in das Zimmer. In der Scheibe klaffte ein kreisrundes Loch. Dann ratterte auch dort die Rolllade vor das Fenster. Bei allem Verständnis unserer Lehrer für unseren jugendlichen Übermut: Die Standpauke, die wir anschließend verpasst bekamen, war nicht von schlechten Eltern.

Hier muss ich eine Episode einflechten, die sich gut vier Jahre später ereignete: Am 19.März 1948 hatte ich einen Tanzabend im zweiten Kursus der Tanzschule Steinkamp. Beim Tanzen mit einer Josephine stellte sich heraus, dass sie auch in Nideggen im KLV-Lager war. Als ich mich als Mitglied des Lagers 'Heiliger' vorstellte, sagte sie: "Dann gehörtest Du wohl auch zu den Flegeln, die uns Knallkörper in die Zimmer geworfen haben? In unserem Zimmer ist ein Knallkörper durch das Oberlicht geflogen und hat dabei die Scheibe zerstört. Das Ding ist neben mir - ich lag auf dem Bett und las - explodiert. Wenn ich den Kerl, der das geworfen hat, erwische, den bringe ich um!" "War in der Scheibe ein kreisrundes Loch?" "Ja!" "Dann fang an, mich zu ermorden. Der Werfer war nämlich ich!"

Im KLV-Lager informierte uns Herr Merten jeden Abend nach dem Abendessen über die Lage: Den siegreichen Rückzug in Russland, die strategische Front-Begradigung im Westen und ob Köln in der Nacht wieder bombardiert und was ggf. zerstört wurde. So auch am 20. Juli 1944. Entgegen seiner Gewohnheit begann er nicht mit der militärischen Lage, sondern begann seinen Vortrag mit den Worten: "Auf unseren Führer und Reichskanzler Adolf Hitler ist heute ein Attentat verübt worden. Es ging leider schief." (Das ist ein wörtliches Zitat!!) Mein erster Gedanke war: "Hoffentlich hat das kein "Falscher" mitbekommen".

Nach dem Krieg habe ich Herrn Merten besucht und auf seine Freudsche Fehlleistung angesprochen. Er sagte mir: "Die anderen Lehrer haben mich damals schockiert darauf angesprochen. Ich habe das immer bestritten, weil ich mir das nicht vorstellen konnte. Aber jetzt fängst Du auch noch davon an. Dann muss ich es wohl gesagt haben!" Wenn Irgendjemand Merten damals verpfiffen hätte, das hätte er nicht überlebt!

Als die Alliierten im Herbst 1944 immer näher rückten, wurden Jungen ab vierzehn Jahren und die Männer, die für den Wehrdienst zu alt waren, an den Westwall geschickt, um Panzergräben auszuheben. Unser Lagerleiter Merten sollte eine Liste der dafür infrage kommenden Jungen nach Köln schicken. Das hat er aber nie getan. Stattdessen hat er, unterstützt von den anderen drei Lehrern, mit Hochdruck unsere Verlagerung in ein weniger gefährdetes Gebiet betrieben. Wenn das heraus gekommen wäre, hätte man die Lehrer wegen "Wehrkraft-Zersetzung" vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt! Das nennt man wohl Zivilcourage und Verantwortungsbewusstsein! Anfang Oktober 1944 wurden wir jedenfalls nach Thammühl am See, Kreis Böhmisch Laipa im Sudetengau verlegt.

lo