> Hermann Lohmann: Gefangennahme durch die Rote Armee 1945

Hermann Lohmann: Gefangennahme durch die Rote Armee 1945

Dieser Eintrag stammt von Hermann Lohmann (1925-2016) aus Deutsch Evern, Februar 2010.

Nach dem in Sachsen erlebten Kriegsende 1945 geriet ich im Osterzgebirge in sowjetische Gefangenschaft. Inmitten einer Masse deutscher Soldaten saß ich auf einem Rasen und wartete, was nun wohl mit uns geschehen würde. Es war wohl etwa der 10. Mai 1945. Ich fand noch etwas Maschinenpistolenmunition in meinen Taschen und vergrub die Patronen in der Erde, um nicht erschossen zu werden, wenn die Munition gefunden werden würde. Spätabends kam ein Kommissar, der in gutem Deutsch zu uns sprach. Er sagte u.a. wörtlich: "Ihr kommt jetzt in ein Lager, kriegt Verpflegung und Papiere und dann alle nach Chause nach Mutter." Das hörte sich ja alles sehr positiv und beruhigend an. Aber ich glaubte dem Russen nicht. Ich war misstrauisch.

Sofort begann das Aufstellen der gefangenen Soldaten in 5er-Reihen, und so marschierten wir dann in die Nacht hinaus. Ich marschierte aus Sicherheitsgründen in der mittelsten Reihe. Ich dachte mir: "Wenn die Marschkolonne sich auflösen sollte, weil viele Soldaten zu fliehen versuchen, dann werden die Russen an der Kolonne entlang schießen, um die Gefangenen zusammen zu halten. Du bist dann erst mal durch die Außenreihen geschützt."

Aber es geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil, die deutschen Soldaten freuten sich, dass nun endlich der Krieg vorbei war. Es war ihnen ja auch versprochen worden, dass sie alle "nach Hause nach Mutter" kämen. Auf dem nächtlichen Marsch sangen die deutschen Soldaten die schönsten Soldatenlieder mit einer Inbrunst, wie ich sie auf dem Kasernenhof oder auf Ausmärschen nie gehört habe. Die Russen saßen abseits der Straßen an Lagerfeuern und schossen vor Freude in die Luft und sangen ebenfalls. Es war eine irgendwie befreiende aber dennoch bedrückende Stimmung. Auf der einen Seite feierten die Sieger ihren Triumph und auf der anderen Seite zogen die Gefangenen, die besiegten Deutschen in die Nacht hinaus. Was sollte werden, denn ich traute den Russen nicht. So marschierten wir immer weiter in die Nacht hinein. Unterwegs konnte ich an den Straßenschildern erkennen, dass der Marsch Richtung Dresden ging.

Irgendwann so um Mitternacht musste die Gefangenenkolonne halten, weil auf der Hauptstraße vor uns Panzer fuhren. Die russischen Soldaten bewachten uns recht locker. Sie dachten wohl, dass kaum jemand fliehen würde, weil die deutschen Soldaten ja auch so schön gesungen hatten. Wir hielten in einem Wald. Rechts neben uns war eine dichte Fichtenschonung. Ich dachte, jetzt ist Gelegenheit zur Flucht und sagte zu meinen rechten Nebenmännern, die ich nicht kannte: "Lasst mich mal ins Außenglied." "Was willst Du denn?" "Ich will abhauen, ich trau dem Iwan nicht." "Welch ein Unsinn, warum willst Du Dich in Gefahr begeben, wir kommen doch alle nach Hause".

Keiner wollte mitkommen. Vielleicht war das mein Glück, denn die Gefangenenkolonne fing nicht an, sich aufzulösen. Alle blieben, dem Herdentrieb des Menschen gehorchend, beim großen Haufen. Jedenfalls habe ich als 19-Jähriger ganz alleine die Flucht gewagt. Ich habe mich langsam auf den Boden in die Hocke gesetzt und als nichts geschah, bin ich auf allen Vieren langsam, jedes Knacken der Zweige vermeidend, durch den Straßengraben etwa 100 Meter weit in die Fichtendickung gekrochen. Dort habe ich mich mit meinem Mantel zugedeckt und bin wohl infolge der Übermüdung sofort eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es bereits hell geworden und mir war kalt. Die Sonne ging gerade auf. Es war wohl der 11. Mai 1945. Ich schlich vorsichtig an die Straße und nahm Deckung hinter einem aufgeschichteten Brennholzstapel. Der ganze nächtliche Spuk war verschwunden. Es war kein gefangener deutscher Soldat mehr zu sehen. Nur ab und zu fuhr ein russischer Panjewagen vorbei: Ich war allein.

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