> Ilse Schier: Erinnerung an Szillen in Ostpreußen

Ilse Schier: Erinnerung an Szillen in Ostpreußen

Dieser Eintrag stammt von Ilse Schier-Weimann (*1924) aus Berlin: ilseschier-weimann@web.de März 2011 Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: "Die Frau hinter der Theke. Lebensgeschichte einer Berlinerin" erschienen im Frieling-Verlag Berlin, 2008

/lemo/bestand/objekt/schier_008 Aufgewachsen bin ich in Podszunen (Eichenheim) in Ostpreußen. Ich muss so ungefähr 12 Jahre alt gewesen sein, als sich eine große Veränderung unserer Lebensverhältnisse ankündigte. Meine Eltern "expandierten", wie man heute sagen würde. In Szillen, dem Kirchdorf mit 3000 Einwohnern, übernahmen sie einen Einzel- und Großhandel mit Eiern, Butter, Käse, Wild und Geflügel. Für die Familie bedeutete der Umzug eine gewaltige Umstellung. Wir Kinder kamen in eine neue fremde Schule und meine Eltern avancierten zu Kaufleuten. Wir hatten keine Pferde und Kühe mehr, dafür wurde ein Eintonner Lastwagen angeschafft. So konnten wir wie bisher auf den Märkten Produkte ein- und verkaufen, aber auch nach Königsberg fahren, um dort kistenweise Eier an die zentrale Sammelstelle zu liefern. Den Führerschein erwarb Vater schnellstens - Mutter zwar auch, aber sie ist nie gefahren. Ihr Aufgabenbereich war der Verkauf der Produkte an die Dorf-Kunden, also der Einzelhandel.

/lemo/bestand/objekt/schier_011 Im Freizeitsport und Spiel fand sich die gesamte Dorfjugend - die so genannte Hitlerjugend - zusammen. Für den BDM, den "Bund Deutscher Mädchen", war ich noch zu klein, gehörte aber automatisch den "Jungmädeln" an. Im Nachbardorf Norwilkischken war ich mit meinen zwölf oder dreizehn Jahren zur "Jungmädel-Führerin" bestimmt worden. Ich erinnere mich, dass ich sogar eine Theateraufführung organisiert hatte. Der dortige Klassenlehrer half kräftig mit. Als Bühne benutzten wir ein großes ausgehängtes Scheunentor. Für das Dorf war es ein kleines, willkommenes Fest. Unsere sonstigen regelmäßigen Treffen kennzeichneten Ballspiele und Gymnastik. Politik war dabei ein Fremdwort, genauso wie in der Schule.

Mit einer Gruppe Jungmädel nahm ich teil an einem Sommerferienlager in Cranz an der Ostsee. Wir wohnten sehr spartanisch in Zelten - Morgentoilette und Frühsport begannen in der Ostsee und am Strand. Nie werde ich mein Heimweh vergessen, ich habe viel geweint und wollte nur nach Hause... Es waren die längsten sieben Tage meines Lebens.

Wie viele andere Orte damals wurde auch das Kirchdorf Szillen eingedeutscht in Schillen.

/lemo/bestand/objekt/schier_010 Dort gab es auf dem Berg eine Kirche mit zuletzt Pfarrer Jordan, eine Schule mit den Herren Lange und Kruckow als Lehrer, eine Post, eine Sparkasse, zwei Hotels - Peschel und Otto -, sowie die Feuerwehr und die Bahnstation Schillen zwischen Tilsit - Insterburg - Königsberg und Berlin. Dazu kam eine Reihe von Geschäften, die den Bedarf der ansässigen Bauern und Landarbeiter aus der Umgebung deckten: eine Drogerie Goerth, das Schuhgeschäft, Schulbedarf und Papierwaren Sakuth, Uhren und Goldwaren Rimkus, Tischler Conrad, Bäcker Wolgien, Kolonial-Lebensmittel Tengelmann, Blumen- und Landschaftsgärtnerei Kahl, ein Kamin- und Schornsteinfegermeister, Landmaschinen und Kolonialwaren Pfeiffenberger, Sattlermeister Otto Schier, Schuster, Handarbeit/Posamenten, Gutsbesitzer Erzberger, Arzt, Tierarzt und Zahnarzt, Konfektion/Mode Roever und Knackstedt sowie Tuchgeschäft Lehmann. Die Lehmanns waren die einzigen Juden im Dorf und Freunde meiner Großeltern. Und meine Familie bevölkerte unter anderen den Marktplatz am Freitag - der Handel gehörte jetzt zu den Hauptaufgaben unseres Lebens.

Jedes Jahr gab es auch einen fröhlichen Jahrmarkt. Natürlich war der immer sehr beliebt, auch die Zigeuner fehlten nie. Es trafen sich Hinz und Kunz zum Austausch familiärer Neuigkeiten und es gab viel Tratsch und Klatsch, wie überall auf der Welt.

Die Fahrten zur Handelsschule mit dem Zug nach Tilsit am frühen Morgen gemeinsam mit vielen Jugendlichen haben mir Spaß gemacht. Und die Stadt Tilsit habe ich genossen. Gerne flanierten wir mit Freundinnen auf der Hohen Straße und die Konditorei "Hohenzollern" war ein Magnet! Die "Schokoladenschiffchen" machten süchtig...

/lemo/bestand/objekt/schier_014 Im Sommer konnte man natürlich auch in der Memel, dem Hausfluss in Tilsit, baden. Es war schönes Wetter und mich reizte das kühle Nass, zumal ich den Badeanzug ja schon anhatte. Also nichts wie hinein in die Fluten! Allerdings hatte ich nicht mit der starken Strömung gerechnet... und schwimmen konnte ich damals auch noch nicht. Das habe ich erst mit 38 Jahren durch meinen zweiten Ehemann, erlernt. Ich geriet in eine Untiefe, verlor den Boden unter den Füßen, das Wasser blubberte über meinem Kopf zusammen... ich war am Ertrinken... landete jedoch auf einer Sandbank! Laut um Hilfe schreiend und völlig erschöpft, versuchte ich, Schritt für Schritt das Ufer zu erreichen. Es war aber gar kein Mensch weit und breit zu sehen, der mir hätte helfen können. Welch' ein Superglück, alleine wieder ans Ufer gelangt zu sein! Den Schock fürs Leben hatte ich allerdings weg. Erzählt habe ich darüber zu Hause nichts...

Nach Beendigung meiner Schulzeit habe ich bei der Familie Erzberger das so genannte "Pflichtjahr" abgeleistet. Erzbergers besaßen im Ort ein großes Gut mit allen dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden für Viehhaltung, Getreideernte und Geflügel, dazu natürlich ein schönes Herrenhaus. Das befand sich gegenüber von dem Geschäftsbetrieb meiner Eltern. Ich brauchte also nur die Straße zu überqueren, um meinen Dienst anzutreten. Bei Frau Erzberger hatte ich es sehr gut, sie war mir eine perfekte Lehrmeisterin, was Haushaltsführung und Gästebewirtung betraf. Es musste alles nach "Knigge" und Etikette ablaufen, darauf legte sie größten Wert.

Ich war deshalb emotional sehr bewegt und traurig, als ich jetzt im Internet das schöne Anwesen total verkommen und notdürftig als Magazin hergerichtet entdeckt habe. "Haus Schillen" wird es genannt, mit Gästezimmer für heimwehkranke ehemalige Schillener Bewohner. Für die Instandsetzung wurde Material von der gegenüberliegenden Ruine verwendet, also von meinem früheren Zuhause...

/lemo/bestand/objekt/schier_015 Das Leben auf dem Land hat mich für immer geprägt - mein Lebensbaum hatte starke Wurzeln entwickelt und ich konnte Kraft schöpfen aus der Natur und den Gemeinsamkeiten in der Familie. Erst die Tragödie des unseligen Krieges hat uns zersplittert und in alle Winde verstreut. In meiner Erinnerung gehört es zu den eindrucksvollsten Ereignissen, als wir am Vorabend des 2. Weltkrieges, am 31. August 1939, Einquartierung von Soldaten bekamen, so an die hundert Mann. Sie übernachteten auf Strohlagern in unseren Wirtschaftsräumen, lagen dicht beieinander, die Gesichter waren versteinert und sie sangen: "Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod". Ich bekomme heute noch Gänsehaut von dem schaurigen Gesang der Männer. Am nächsten Morgen waren sie und ihre Fahrzeuge verschwunden, Richtung Krieg. Auch mein Vater wurde Soldat, er hatte einen Gestellungsbefehl und musste unseren Lastwagen mitnehmen.

Das Wort Krieg bekam jetzt für uns Inhalt und Gestalt, für jeden Einzelnen auf besondere Weise. Mutter und wir Kinder waren plötzlich alleine, ohne Erwerbsmöglichkeit, wie sollte das weitergehen? Und vor allem die Angst um den Vater! Wo ist er, kommt er heil wieder? Der verdammte Krieg hat uns Betroffenen so unendliches Leid angetan. Mein Vater musste am Polenfeldzug teilnehmen, hat Grausames in Warschau erlebt. Als er dann nach Beendigung dieses leidvollen Weges wieder entlassen wurde, war unsere Existenz inzwischen zerschlagen. Ohne den Arbeitseinsatz meines Vaters und ohne den Lastwagen war meine Mutter alleine ja nicht in der Lage gewesen, den Betrieb des An- und Verkaufs aufrecht zu erhalten. Die Lebensplanung und die Grundlage waren zerstört. Mein Vater wurde nun als Hilfspolizist dienstverpflichtet, auf Befehl tat er Dienst in einem entfernten Bezirk. Es herrschte Kriegsrecht - er musste es tun.

In unserem Dorf ließ die Angst die Bewohner nicht schlafen. Nachbarschaftshilfe hatte Konjunktur. Das war wirklich einzigartig in der Kriegszeit von damals. Besonders ausgeprägt war die gegenseitige Hilfe natürlich unter befreundeten Familien und zwischen Verwandten. Keiner hatte so richtig verstanden, warum wir Krieg hatten - es ging doch allen gut. Die Großbauern und Gutsbesitzer hatten die überaus günstigen und langfristigen Kredite des Staates genutzt, um sich die modernsten Landmaschinen anzuschaffen. Zudem sicherte die gute schwarze Erde reiche Ernten. Jeder hatte Arbeit und Brot und war zufrieden.

Später haben Historiker beleuchtet, dass das Naziregime sich die Gefolgschaft der ostpreußischen Bauern durch die günstigen Kredite "gekauft" hatte und somit die "Kornkammer Deutschland" geschaffen wurde. Für den Krieg!?

Mit meinen Eltern und meiner Schwester zog ich 1941 nach Berlin. Vorher heiratete ich aber noch meinen Verlobten Reinhard.


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