Dieser Beitrag stammt von Ilse Schwanke (*1928) aus Auggen, September 2013
Mein Elternhaus lag am Rand einer Vorstadtgemeinde von Berlin, etwas einsam zwischen einem Park und Wiesen. Ein ideales Kinderrefugium in freier Natur, doch inmitten von Großberlin. Einigermaßen verkehrsgünstig angebunden, doch weitab von den Zerstörungen durch Fliegerangriffe im Zentrum. Doch unaufhaltsam näherte sich im April 1945 das Kriegsgeschehen von der heißumkämpften Oderfront und musste uns unweigerlich mit zuerst erreichen. Voller Bangen sahen meine Eltern und ich dem entgegen, obwohl wir keine glühenden Anhänger des Regimes waren. Tagelang war schon der Schlachtenlärm zu hören. Dann ging alles so schnell, dass wir nicht mehr lange zur Besinnung kamen. Ein russischer, deutschsprechender Oberleutnant erklärte uns, dass wir ab sofort unser Haus zu räumen hatten. Es würde vorübergehend als Lazarett gebraucht. Unsere nötigsten Sachen brachten wir in den Keller, aber keine Möbel. Wir warteten dort verängstigt was nun weiter geschehen würde. Da kamen auch schon 3 kräftige Sanitätssoldaten und schafften unser Holzwaschbecken auf dem hölzernen Gestell in den Garten. Dann bedeuteten sie Dir, liebe Mutti, dass der Waschkessel anzuheizen sei. So hatten sie gleich eine schweißtreibende Beschäftigung für die "Matkas". Sie brachten nämlich jede Menge blutige Bettwäsche. Vielleicht unsere eigene? Wir sollten sie wieder waschen und trocknen; denn der Krieg um Berlin ging ja jetzt erst richtig los.
Im Nachhinein sehe ich das wieder als großen Glücksfall; so hatten wir immer dieselben Russen um uns und den Schutz des Oberleutnants, der uns nicht wie besiegte Feinde behandelte. Da ist ja auch Deine direkte Ansprache und klare Formulierung unserer Bedürfnisse zu loben, liebe Mutti. Ohne Essen können wir nicht arbeiten! Ganz schön frech und selbstbewusst. Gleich brachte uns der Oberleutnant unsere Milchkanne und sagte zu mir: "Du Essen holen von Gulaschkanone! Da lang." Und er zeigte auf die linke Nachbarseite. Ich hatte keine Ahnung, wo das sein sollte. Erst als ich mich auf der Straße befand wurde mir bewusst, was für eine lange Strecke ich da zurückzulegen hatte. Die zweite Doppelhaushälfte, 2 riesige Wiesen vor dem nächsten Nachbarhaus stand die Gulaschkanone und dampfte verheißungsvoll; ca. 50 m entfernt. Erst jetzt beachtete ich die nähere Umgebung und stellte fest, dass rechts und links der Straße auf dem Grünstreifen jede Menge russische Soldaten saßen und aus ihren Kochgeschirren löffelten. Verwundert sah ich sie und sie mich an. Ich weiß heute nicht mehr, ob sie mir etwas zugerufen haben. Einige waren jedenfalls sehr mit ihrer Sättigung beschäftigt. Angst und Hunger - wohl mehr Angst - ließen mich scheinbar ruhig weitergehen.
An der Gulaschkanone angekommen, nahm mir einer die Milchkanne ab und der Koch füllte sie dreiviertel voll. Es war eine 2 Liter Kanne. Zurück ging es schneller mit derselben Angst im Nacken. Einen Löffel bekamen wir auch gestellt, von unserem. Zunächst sah man viel Flüssigkeit, aber je näher man dem Grund kam, desto dicker wurde die Brühe. Es schwammen Kartoffel- und sogar Fleischstücke drin herum. Wie wir feststellten, war es Pferdefleisch. Diese Tiere waren nun für Berlin überflüssig und dienten den Soldaten als Nahrung. Nahrungsmittel waren überall knapp. Auch die Soldaten hatten manchmal nichts zu essen. Einige Raucher tauschten sogar ihr Kommissbrot gegen Machorka. Und den hatte Papa ja selbst angebaut und mit großer Sorgfalt bearbeitet. Er war auch gegen den großen Hunger.
Eines Tages kam ein alter russischer Soldat mit nur einem Auge an unseren Waschzuber. Er sah nicht gerade freundlich aus und war es noch weniger. Auf Russisch sprach er böse zu mir. Ich konnte ihn nicht verstehen und zuckte mit den Schultern. Da wurde er wild und richtete sein Gewehr oder MP auf mich und beschimpfte mich auf Russisch; was mich nur sagen ließ: "Schieß doch!" Mir war alles egal; unbedacht und leichthin, wie es wohl auch die Pubertätsphase so mit sich bringt. Da wurdest Du, liebe Mutti, aber lebendig. Der Ruf nach dem Oberleutnant lenkte ihn erst einmal ab. Und wirklich kam der Oberleutnant nach einiger Zeit. Er schnauzte den Soldaten an, der, wie sich herausstellte nur ein Glas Wasser von mir gebracht haben wollte. Die schwierige Lage war entspannt. Eine russische Armeeangehörige oder Schwester in Uniform, die auch in unserem Haus wohnte, brachte ihm das Glas Wasser.
Dann kam der Waffenstillstand am 8. Mai 1945, die Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, das war ja ein schöner Grund zum Feiern. Und die Russen verstehen es zu tanzen und zu singen. Sie luden uns in unser Wohnzimmer ein und veranstalteten eine richtige Schau. Einer spielte auf dem Akkordeon und ein anderer tanzte den üblichen Krakowiak. Ein Tanz aus der Hocke heraus, der eine große Gelenkigkeit voraussetzt und natürlich Geschicklichkeit. Die Musik und der Tänzer wurden immer schneller bis ihm die Schweißperlen herunterliefen. Wir haben nicht mit Beifall gespart. Dann sollten wir mit in den Keller kommen. Dort hatten sie auf dem Tisch Einweckgläser mit fettem Schweinefleisch zu stehen, die aber nicht von uns waren. Sie hatten sie irgendwo organisiert. Und Flaschen mit 90 %igem Wodka. Gastfreundlich, wie die Russen nun einmal sind, mussten wir auch davon probieren. Der erste Schluck hat so in der Speiseröhre gebrannt, dass ich mich weigerte, das große Glas auszutrinken. Was ein allgemeines Gelächter nach sich zog. Da hast Du, liebe Mutti, Dich für mich geopfert und mein Glas geleert. Nach der Lautstärke und der lallenden Aussprache zu urteilen, waren die Kellerbewohner - Russen schon ganz schön blau. Wir waren heilfroh, ihnen entkommen und auf dem Weg zu unserem Schlafquartier zu sein, ehe schlimmeres passieren konnte. Im Nachhinein denke ich, dass die Ostarbeiterin unseres Nachbarn wohl oft unser Schutzengel war. Wie können wir ihr dafür danken? Danken, indem ich hier über sie schreibe als gutes Andenken.
Später haben wir in unserem Keller auch leere Flaschen von Haar- und Gesichtswasser gefunden. Die stammten wohl von dem Frisör aus dem Ort. Ob sie dieses nun auch getrunken haben, weil es ja auch alkoholisch war, oder sie es für ihren Körper zur Geruchsaufbesserung benutzt haben; wer weiß es? Der Oberleutnant sagte öfter zu mir: "Du Hitler - Göbbels - Kind!" Nun dauerte es auch nicht lange, dass die Verwundeten weitertransportiert wurden; wahrscheinlich Richtung Heimat. Und ein paar Tage drauf verließen auch der Oberleutnant, die Schwester und die Mannschaft unser Haus und wir durften wieder einziehen. Zurück blieben zwei Soldaten als Kuhhirten, die die zusammengetriebenen Kühe von irgendwoher auf den Wiesen hüten mussten.
Eines Abend, als wir wieder zum Schlafen zu unserer Cousine gehen wollten, wälzte sich ein junger Hirte in Uniform gerade wie eine Kuh oder ein Pferd auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen der Straße. Er sprang auf und fing auf Russisch ein Gespräch mit uns an. Die Devise war, nur keine Angst zu zeigen. So sagte ich denn zu ihm: "wir gehen jetzt woanders schlafen, da staunste, wa ?" Zum Glück verstand er ja kein Deutsch, irgendwie musste ihn das aber doch ermuntert haben, mich in den nächsten Tagen weiter zu beobachten. So kam er eines Tages, als ich in der Veranda saß. Vater schloss die Tür auf und ließ ihn herein. Ich sollte ihm die Kragenspiegel an seiner Uniform annähen. Das war wohl ein Fähigkeitstest. Sogar Nähgarn hatte er mitgebracht. Er verfolgte jeden Nadelstich und als ich fertig war, zeigte er große Freude mit "gut", was er auf Deutsch konnte. Ich weiß nicht mehr, ob er mich heiraten wollte, jedenfalls sollte ich mit nach Russland kommen. Mein deutliches "nein" ließ ihn schließlich abziehen und Papas dauernde Kontrolle, ob alles in Ordnung war. Es war ja auch schließlich Waffenstillstand und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wurden von der inzwischen eingesetzten Kommandantur schwer bestraft, z.B. mit kahlgeschorenem Kopf.
Nun dachte ich mich dem Kuhhirten gegenüber klar und deutlich ausgedrückt zu haben; was sich aber als Irrtum meinerseits herausstellte. So kam er nach ein paar Tagen wieder und wollte die Tochter sprechen. Er kam mir aufdringlich nahe und entdeckte meine silberne Kette mit dem Medaillon. Auf diesem befand sich eine kindliche Blindekuhdarstellung. Sein Interesse dafür veranlasste mich, die ganze Kette abzumachen und ihm zu schenken. Er gab sie mir zurück und redete weiter auf mich ein. Äußerlich blieb ich ruhig, jedoch bekam ich es immer mehr mit der Angst zu tun. Auch ekelte ich mich vor der dreckigen Uniform und der aufdringlichen Art. Nun kam mein Vater eingreifend mit unserer Milchkanne und sprach zu mir in barschem Ton (was sonst nicht seine Art war): "Du nimmst jetzt diese Milchkanne und gehst damit zu unseren Nachbarn. Dort versteckst du dich unter dem Heu bis ich dich rufe!" Da wurde mir meine Situation erst richtig bewusst und ich ging innerlich zitternd sofort los. Dabei hatten die Nachbarn gar keine Ziege mehr. Ich hatte verstanden. Durch Vaters scharfen Ton war der Russe erst mal verdattert und bekam gar nicht richtig mit, was da gespielt wurde. Was müssen auch Papa und Mutti in diesem Moment durchgemacht haben. Sie waren ja auch in großer Gefahr.
Ich hatte mich inzwischen unter Nachbars Heu versteckt bis ganz hinten an der Wand. Vor Angst habe ich Blut und Wasser geschwitzt, wie man so schön sagt. Plötzlich ging die Stalltür auf und jemand machte mit den Händen das Heu beiseite (zum Glück nicht mit der Heugabel). Nun rutschte mein Herz ganz in die Hosentasche; denn nun dachte ich hat er mich gefunden oder die Nachbarn haben mich verraten. Da rief mich die alte Nachbarin beim Namen und sagte; "du kannst wieder rauskommen, dein Vater hat gesagt, dass alles vorbei ist." Sie befreite mich vom restlichen Heu und drückte mir die leere Milchkanne in die Hand. Dann lachte sie noch herzhaft, vielleicht über den komischen Anblick, den ich bot? Mir war jedenfalls nicht zum Lachen zumute. Es wurde in der Familie auch nicht mehr darüber gesprochen. Für mich war dieses Erlebnis zu furchtbar. Ich habe lange gebraucht, um es zu verdrängen. Vielleicht hilft mir diese Niederschrift, es auch richtig zu verarbeiten.
Es kam wieder einmal ein Russe zu uns. Er hatte wohl einen höheren Dienstgrad, aber auch wieder nicht so hoch, dass man strammstehen musste. Mit barschem Befehlston knallte er Dir, liebe Mutti, einen kleineren, etwa halbgroßen Sack auf den Tisch. "Du Essen kochen für 10 Mann". Du schautest Dir erst einmal den Inhalt an. Es waren knochentrockene uralte Erbsen. Eigentlich eine Köstlichkeit in dieser kargen Zeit. Aber die Frage "wann fertig?" versetzte Dich doch erst einmal in Aufregung. Denn es war vormittags ca. gegen 10:00 Uhr. Wie viel Uhr fertig? dabei zeigte er auf seine Uhr, auf die 1. Du sagtest, noch, dass das nicht zu schaffen sei. Er aber ließ sich auf keine weitere Diskussion ein und verschwand. Erbsen ohne einweichen in 3 Stunden war einfach unmöglich, und dann diese Menge! Zum Glück brannte immer ein Feuer im Kohleherd, aber leider gab es auch keine Kohlen mehr, die die Hitze besser halten konnten. Es fand sich auch noch ein größerer Topf im Keller, der nicht gerade einladen aussah (ich glaube er diente sonst zum Kochen kleinerer Wäsche). Ich durfte rühren, dass die Erbsen nicht anbrannten. Aber so oft wir auch probierten, die Dinger waren noch immer steinhart und ungenießbar. Da kamst Du auf die gute Idee, Natron dazu zu schütten. Das taten wir dann immer öfter, auch Wasser gaben wir noch ein paarmal nach, denn die Zeit verrann, und die Erbsen waren immer noch hart wie am Anfang. Eine halbe Stunde mehr konnten wir zwar noch herausholen, dann aber musste serviert werden.
Inzwischen hatte Vater unseren großen Tisch zum Ausziehen mit Platten dazwischen hergerichtet und vor unser Sofa geschoben. Die übrigen Plätze mit Stühlen aus jedem Zimmer ausgestattet. Ich sollte die Teller servieren. Wir hatten aber nur flache Teller und nicht genug Löffel. Diese brauchten sie nicht, wie uns der Russe versicherte. Du, liebe Mutti, hattest noch gesagt, dass Deiner Tochter nichts passieren darf. Dann wurden die 10 Mann mit einem Peitschenknall wie Vieh hereingetrieben. Mein Entsetzen werde ich lebenslänglich nicht vergessen. Es waren Mongolen, kahlgeschoren und mit einem wilden Blick. Auf Peitschenknallkommando mussten sie sich setzen. Vorher sollten schon alle Teller gefüllt auf dem Tisch stehen. Mit dem gleichen Kommando fingen sie an ihre Teller im wahrsten Sinn des Wortes leer zu schlürfen. Es klappte alles wie am Schnürchen; in wenigen Minuten war es getan. Mit Peitschenknall mussten sie aufstehen und wurden genauso hinausgetrieben wie sie hereinkamen. Der Spuk war vorüber. Erleichterung auf unserer Seite. Wahrscheinlich hatten sie wegen der noch nicht garen Erbsen erhebliches Magendrücken. Wie groß aber war nachträglich der Schreck als ich die Teller abtrocknete. Auf der Unterseite waren Hakenkreuz und der Reichsadler wasserdicht aufgedruckt. Wenn nur einer den Teller umgedreht oder hochgehoben hätte, dass man das Zeichen sehen konnte, dann wäre es uns wohl an den Kragen gegangen. Mein Vater wusste die ganze Zeit davon. Er selbst hatte die Teller von der geplünderten Gaststätte am Tennisplatz als traurigen Rest mitgebracht. Ebenso einen großen Sack mit kostbarem Mehl, wie er glaubte. Nach längerem Kosten stellten wir fest, dass es pulverisierte Kreide oder Schlemmkreide für die Striche auf dem Tennisplatz war. Leider nicht essbar.
Bald gingen nun meine Freundin und ich wieder fleißig zur Handelsschule, die nun Wirtschaftsschule hieß. All das Schlimme, das ich und meine Eltern erlebt hatten, verblasste so langsam. Man sah schon wieder zuversichtlicher für das weitere Leben. Da kam eines Nachts im Oktober 1945 noch einmal ein schlimmes Erlebnis über uns in Gestalt von 3 oder 4 Russen. Wir waren schon im Bett, da bummerte es laut gegen die Verandatür. Beim zweiten Mal splitterte auch schon die Glasscheibe der Tür. Ein riesiger Schreck durchfuhr uns. Vater zog sich schnell die Hose über sein Nachthemd, zog die ausgeklappte Leiter zum Boden heraus und schrie aus dem Dachlukenfenster um Hilfe. Inzwischen hatten Mutti und ich auch schnell etwas übergezogen und sind durch die Kellerluke und Treppe in den Keller gegangen. Vorher hatte Vater gesagt, dass wir schon immer durch das Loch kriechen sollten, das er in glücklicher Vorahnung vom Keller aus zum Verandaunterbau gemacht hatte. Dieser hatte sonst keinen anderen Zugang. Man konnte auch nicht stehen, sondern nur liegen. Drei alte Decken und schöner kühler weißer Sand empfingen uns. Das heißt, liebe Mutti, Du standest noch davor und riefst nach Vater, dass er runterkommen solle, denn auf dem Boden hätte er in der Falle gesessen.
Das Bummern gegen die sonst sehr stabile Innentür wurde immer stärker und wütender, weil Vater um Hilfe gerufen hatte. In großer Panik hastete Vater die Bodentreppe herunter. Er verfehlte eine Sprosse und kullerte auch die Kellertreppe herunter. Dort blieb er erst mal liegen und befühlte seine Knochen. Inzwischen war die Haustür fast aufgebrochen. Dadurch konnte er nicht mehr die Kellertreppe hochgehen und die Fallklappe von unten schließen. Sie war an der Korridorwand mit einem Riegel festgemacht. Nun war also auch gleich der Zugang zum Keller offensichtlich. Es lief nicht nach Plan, wie Vater sich das ausgedacht hatte. Mit letzter Kraft und Angst im Nacken und ziemlich angeschlagen kroch er schnell durch das Loch; denn oben hatten sie die Tür aufgebrochen. Mit rasender Wut und Geschimpfe durchsuchten sie alle Zimmer und den Dachboden und fanden nicht den Hilferufer oder andere Personen. Mit ihren Taschenlampen sahen sie auch die offene Kellerluke. Wir konnten sie zwar nicht sehen, nur den Lichtschein durch das Loch; umso besser konnten wir sie hören, dass einer oder zwei die Kellertreppe herunterkamen. Nicht auszudenken, was sie mit uns angestellt hätten, wenn sie das Loch entdeckten. Vater konnte den geweißten Pappverschluss von innen nicht mehr vors Loch machen, weil sie die Bewegung evtl. bemerkt hätten. Über dem Loch hingen noch alte Sachen am alten Garderobenbrett. Man konnte nun von innen sehen, wie sie die Sachen hin und her bewegten. Dabei sah man vier Stiefel direkt vor unserem Loch herumtrampeln. Das Loch war zum Glück 2 Steinlagen über dem Fußboden (das Loch selbst 4 Steine, d.h. 2 und 2 übereinander groß), so dass sie es nicht bemerkten. Sicher auch deswegen, weil ich immer wieder leise das Vaterunser betete mit der Bitte, dass sie uns nicht entdecken sollten. Gott hatte sie mit Blindheit geschlagen!
Ich kann mich noch erinnern, wie ich vor Angst fror und am ganzen Leib zitterte. Was wir dann oben vorfanden, war ein einziges Chaos. Was sie gebrauchen konnten, haben sie mitgenommen. Dabei können wir von Glück sagen, dass sie nicht die Betten verwüstet und mein Schlafsofa aufgeschlitzt haben. Sie waren ja auch unter Zeitdruck, weil Vater um Hilfe gerufen hatte. Vielleicht hatte es doch jemand gehört und die Kommandantur oder Polizei (ich weiß nicht, ob es Letztere zu dieser Zeit schon wieder gab) benachrichtigt. Denn solche Überfälle waren im Waffenstillstand nicht mehr erlaubt. Als Vater am nächsten Tag die Nachbarn befragte, hatte kein "Schwein" irgendetwas gehört! Da kannten die Russen aber Dich, liebe Mutti, noch nicht. Du gingst zur Kommandantur und hast von den Vorkommnissen dieser Nacht berichtet. Eine Personenbeschreibung konntest Du aber nicht abgeben; in den Uniformen sehen sie alle gleich aus und erstens war es dunkel und zweitens haben wir die Einbrecher ja gar nicht gesehen, nur von zweien die Stiefel. Drittens warst Du auch nicht so dumm, unser Versteck zu verraten. Man konnte ja nie wissen ob wir es nicht noch einmal benutzen mussten.
Nun kam allerdings die Kehrseite der Anschuldigung. Man ließ die ganze Truppe antreten und Du musstest "Spießrutenlaufen", um evtl. Schuldige zu erkennen. Als Du wiederkamst warst Du fix und fertig und ohne jegliches Verlangen nach Genugtuung oder Wiedergutmachung. Man hatte die Schnauze zu halten und konnte zufrieden sein, dass man überlebt hatte. Die Deutschen haben diesen unseligen Krieg ja auch angefangen und den anderen Menschen auch großes Leid zugefügt. Daran sollte immer wieder erinnert werden. Die Bilddokumentationen und Filme aus dieser Zeit zeigen die ganze Grausamkeit des Krieges und der Waffen, die heute wie damals immer noch hergestellt werden und in ihrer teuflischen Vernichtungs- und Zerstörungsart zunehmen. Sie haben nach wie vor einen großen Stellenwert überall in der Welt. Sie gehen noch vor der Mindestversorgung der armen Länder. Damit könnte man den Hunger in der Welt weitestgehend reduzieren. Die Angst der Herrscher, dass das andere Land waffenmäßig überlegen sein könnte, lässt immer mehr auf- statt abrüsten.