> Inga Dumke: Flucht 1945 aus Rechlin (Müritz) nach Travemünde

Inga Dumke: Flucht 1945 aus Rechlin (Müritz) nach Travemünde

Dieser Beitrag stammt von Inga Dumke aus Korbach, 06.06.2000.


Mein Mann war im Krieg als Flugzeugführer an der Erprobungsstelle Rechlin, Erst zwischen Weihnachten und Sylvester 1944 waren wir mit unsern beiden Kindern, Helga 2 Jahre, Inga 1/2 Jahre, nach abenteuerlicher Reise von Wiesbaden her dort angekommen. Kaum hatten wir uns einigermaßen eingerichtet in der Hälfte eines Doppelhauses mit 4 Zimmern und Zubehör, wurde uns schon von Freunden gesagt, daß wir mit Flucht vor den Russen rechnen müßten. Evakuierung wurde nicht angeordnet, aber Nacht für Nacht reisten Einwohner ab.

Am 20. April bekam mein Mann den Befehl, einen Hubschrauber nach Salzburg zu überführen. Damit ich nicht allein mit den Kindern blieb, zog Frau Knapp, auch mit 2 Kindern im gleichen Alter, zu mir. Wir verstanden uns gut, ein Bekannter von der E-Stelle hielt uns leidlich auf dem Laufenden über den Kriegsschauplatz. Als die Russen schon sehr nah waren, erfuhren wir von einer Fahrgelegenheit der E-Stelle nach Travemünde, wo wir zuvor gewohnt hatten. Der Müritzzug bestand aus mehreren Wohnwagen, mehr Bürowagen, mit Zugmaschine. Am Sonntag Abend d. 29. April ging die Fahrt los, eine Zugmaschine mit 3 Anhängern. Frau Knapp und ich kamen in den Kommandowagen, wo wir gut Platz hatten. Unsere Kinderwagen wurden außen auf den Kupplungsdeichseln befestigt, außerdem hatte ich einen Faltbootrucksack und einen normalen Rucksack als Gepäck. Wir konnten die Kinder hinlegen und waren selbst so erschöpft, daß wir bald schliefen.

Es ging nur sehr langsam vorwärts, die Straßen waren verstopft. Gegen Morgen gab es einen furchtbaren Ruck, wir wachten auf, ich lag halb über meinen Kindern. Der Wagen stand vollkommen schief infolge einer Reifenpanne. Alle Insassen mußten aussteigen und wurden auf die beiden anderen Wagen verteilt. Da sie sehr voll waren, mußten Frau Knapp und ich uns trennen. Gegen Mittag wollte ich meine Kinder füttern. Kaum hatte ich begonnen, hielt der Zug plötzlich, Tiefflieger! Alle stürzten raus, es knallte und brummte, ich warf mich über meine Kinder, die furchtbar schrien. Ich konnte allein mit den Kindern nicht raus, hielt es auch für zu spät und gefährlich. Schließlich entstand eine Pause, ich stand auf und sah an der Wagentür eine große Rauchwolke, und einige Männer hingen schon den brennenden Wagen ab und rollten ihn ein Stück fort.

Die Gefahr schien noch nicht vorbei, ein Mädel half mir mit meinen Kindern raus an eine Hecke in der Nähe. Dort sah ich plötzlich Frau Knapp mit blutigem Gesicht, Sie hatte eine Splitterverletzung im Rücken, wohl bis in die Lunge, sie hatte stark aus dem Mund geblutet. Sie war unfähig gewesen, die Kinder aus dem brennenden Wagen raus zu bringen, sie selbst hatte es noch irgendwie geschafft, hatte die Kinder schreien hören, unvorstellbar! Ringsum sah es furchtbar aus, tote Pferde, brennende Wagen, hilflose, teils verwundete Menschen. Auch unsere Zugmaschine war kaputt.

Wir gingen schließlich zurück zu unserm heilen Wagen, ich konnte Ingalein in Frau Knapps verwaisten Kinderwagen legen, eine schreckliche Situation. Ich wollte Frau Knapp wenigstens auf die Matratzen im Wagen betten, was auch gelang. Mein Gepäck mit Eßsachen war noch da, Frau Knapps Sachen waren verbrannt. Das Wetter war regnerisch und kalt, uns war es egal, ob es im Wagen gefährlich war. Wie lange es dauerte bis eine neue Zugmaschine kam, weiß ich nicht, wir kamen am Nachmittag nach Criwitz und brachten unsere Verwundeten dort in ein Lazarett. Mit einer Wehrmachtshelferin brachten wir auch Frau Knapp dort in einen Saal, wo wir sie wenigstens etwas waschen konnten. Es war aber so überfüllt, daß wir Frau Knapp weiter mitnahmen.

Schon am Ortsausgang kamen wieder Tiefflieger, die wir im Wagen unversehrt überstanden. Die Weiterfahrt wurde auf den Abend verschoben. Ich konnte in den umliegenden Häusern für meine Kinder Brei kochen. Als es dämmrig wurde, holte uns ein PKW aus Rechlin ein mit unserm Fahrleiter. Sie nahmen Frau Knapp im VW mit nach Schwerin ins Lazarett. Ziemlich spät ging es endlich weiter, sehr beengt in dem Wagen. Helgalein lag auf einer Sportkarre, Ingalein auf einer Metallkiste. Nach etlichen Aufenthalten und Aussteigen kamen wir am Dienstag Mittag gegen 13 Uhr in Travemünde an. Mir kamen die Tränen, als ich den Kirchturm sah.

Ich zog mit meinen Kindern zu Bekannten auf dem Priwall und traf auf der Fähre gleich noch einen Bekannten, der mir meinen zunächst zurück gelassenen Faltbootrucksack transportierte. Ich wurde rührend empfangen, mußte nach kurzer Zeit noch mal umziehen, da wegen der bevorstehenden Niederkunft von Frau Fischer kein Platz war.

Die Engländer kamen am 2. Mai, damit waren wir einige Tage auf dem Priwall abgeschlossen. Soldaten kamen ins Haus, um ihre letzten Eßvorräte zu verbrauchen, es wurde sogar ein Schwein geschlachtet, von dem wir auch abbekamen. Nach meinem Umzug in die Siedlung zu einer Witwe mit Töchterchen ging es mir nicht schlecht, aber die Sorge um Frau Knapp, meinen Mann, meine Familie war groß. Zu meiner großen Freude kam Frau Knapp Ende Mai auf einmal überraschend mit dem Fahrrad aus Schwerin. Über ihre Kinder konnte sie nichts mehr erfahren. Sie fuhr dann mit dem Fahrrad gen Süden, um ihren Mann zu finden, was auch gelang. Der Versuch, eine Ausreisegenehmigung in die amerikanische Zone zu bekommen, war vergeblich. Als aber im Juli eine Karte aus Hamburg von dem Schwiegervater meiner Schwägerin kam mit der Nachricht, er sei in Korbach gewesen, meinen Eltern und der Familie gehe es gut, da hielt mich nichts mehr. Mit dem Holzvergaser eines ehemaligen E-Stellen Mannes fuhr ich nach Hamburg, wo ein Pendelverkehr der Engländer die Menschen über die Elbe bringen würde. In Harburg sollte man dann in einen Zug steigen können.

Der Lastwagen hielt in Hamburg am Damtorbahnhof, wo es sogar eine Gepäckaufbewahrung gab für meinen Faltbootrucksack. Die Kinder beförderte ich im Kinderwagen, Ingalein lag mit gespreizten Beinen, zwischen denen ein Kochtopf mit Zucker stand, abgedeckt mit einem Kissen, auf dem Helga saß. So kam ich mittags bei den angeheirateten Verwandten an, die mich sehr freundlich in ihrer großen Wohnung aufnahmen. Gleich am nächsten Morgen versuchte ich im Lager Veddel eine Nummer in meinen Ausweis zu bekommen, um über die Elbe mitgenommen zu werden. Vor allem suchte ich Menschen, die mir mit meinen Kindern helfen könnten, was aber ganz vergeblich war. Sehr niedergeschlagen kehrte ich zurück. Doch abends schellte es an der Korridortür, ich öffnete. Vor mir stand ein großer Mann mit rotblondem Bärtchen, von Kohlenstaub leicht angeschwärzt. Einen Augenblick stutzte ich, dann erkannte ich meinen Mann und fiel ihm um den Hals. Er hatte von den Amerikanern eine Reiseerlaubnis, um seine Familie zu holen, Frau Knapp hatte ich Adressen von Verwandten auf dem Weg nach Süden mitgegeben. Sie hatte in Kassel bei meinem Onkel übernachtet und einen Brief über meinen Verbleib hinterlassen. Es war wohl der glücklichste Augenblick meines Lebens, zu zweit war alles zu meistern. Wohl noch mit einigen Schwierigkeiten, aber ohne Lebensgefahr kehrten wir glücklich zur Familie zurück, bekamen sogar in Hof Lauterbach, woher meine Mutter stammte, eine richtige Wohnung!

lo