> Irma Weinknecht: Erinnerungen an Jenia

Irma Weinknecht: Erinnerungen an "Jenia"

Dieser Eintrag stammt von Irma Weinknecht (*1923 ) aus Göttingen , Juli 2003 :

Ich will versuchen, die Erlebnisse von vor 60 Jahren wieder in Erinnerung zu rufen, zumal sie eine so überraschende Fortsetzung erfuhren.

Im Jahre 1942 waren mein Bruder und ich beide in den Reichsarbeitsdienst einberufen und somit außer Hause. Meine zierliche, kränkelnde Mutter mußte meinen schwerkriegsbeschädigten Vater - er erlitt im 1. Weltkrieg einen Hirndurchschuß und war dadurch halbseitig gelähmt - sowie meine etwa 80jährigen Verwandten versorgen und war damit einfach überfordert. Auf Grund dieser Situation bekam sie die Zusage für eine Hausgehilfin aus Rußland. Natürlich sagte man damals nicht "Zwangsarbeiterin" zu diesen Frauen, ich glaube eher man sprach von "Fremdarbeiterinnen".

Zu Vorbereitung auf deren Einsatz wurden die Hausfrauen ins Haus der NS-Frauenschaft zitiert, um sie über den Umgang mit diesen Frauen zu unterrichten. Meine Mutter erzählte mir davon, wie man sie veranlassen wollte, sich streng und unnachgiebig zu verhalten, keine menschlichen Kontakte zu pflegen und sie nur mit dem Allernötigsten zu versorgen. Ich wie? Nicht mehr, ob man ihnen auch riet, diese Frauen gegebenenfalls auch mit Schlägen zu bestrafen - es wäre jedenfalls durchaus denkbar gewesen. Meine Eltern gehörten keiner Nazi-Einrichtung an, so auch nicht der NS-Frauenschaft. Ein derartiges Verhalten einem Hausmädchen gegenüber widersprach absolut ihrem christlichen Verständnis. Dazu konnte man meine Mutter auch nicht überreden.

Die Gruppe der russischen Frauen kam mit der Bahn nach Göttingen und wurde vom Bahnhof in die Wilhelm-Weber-Straße geführt, wo sie dann nach irgendeinem System den Haushalten zugeteilt wurden. Das bedeutete also, daß die Frauen getrennt wurden, um mit den jeweiligen Hausfrauen in deren Wohnung zu gehen. Es soll ein einziges Weinen und Schluchzen zu hören gewesen sein. Meine Mutter hatte großes Mitleid mit dem übermüdeten, verdreckten jungen Geschöpf, das ihr von nun an anvertraut war. So ließ sie ihr ein erstes warmes Bad ein, legte Seife und Handtücher neben die Wanne und gab ihr ein warmes Abendbrot. Dann brachte sie sie eine Etage höher ins Dachgeschoß, wo seit jeher die Hausmädchen ein kleines Zimmer hatten. Dazu war der Raum warm durch die große Zentralheizung des Hauses - sie muß wohl gespürt haben, daß sie dort gut aufgehoben war.

Am nächsten Morgen begannen nun die Probleme: Jenia war lieb und willig, verstand aber kein Wort Deutsch. Meine Mutter nahm sie an der Hand und zeigte ihr alles - eine neue Welt für sie! Später erst erfuhren wir, daß sie 20 Jahre alt war, in der heimatlichen Landwirtschaft einen Trecker fuhr, doch von einem Stadthaushalt absolut keine Ahnung hatte. Aber sie war lernbegierig, aufmerksam und interessiert an allem Neuen, das ein altes Professorenhaus zu bieten hatte. Wenn nur das Sprachproblem nicht gewesen wäre! Doch da konnte mein Vater seine Hilfe anbieten.: Als Bibliothekar konnte er zwar kein Russisch sprechen, war aber in der Lage, aus dem Lexikon Vokabeln des Alltags herauszusuchen und für meine Mutter in Lautschrift aufzuschreiben. So gab es fast von Anfang an eine, wenn auch simple, Verständigung. Das war aber nicht lange nötig, denn Jenia war ausgesprochen sprachbegabt und konnte bald Deutsch verstehen, später auch sprechen.

Am Ende der zwei Jahre, die sie bei uns war, konnte sie nicht nur Deutsch sprechen, sondern auch die Nachrichten im Radio verstehen und ein bißchen Zeitung lesen. Die erste Verständigung mit ihr - abgesehen von Vokabeln wie Keller, Kartoffeln - brachte meine Großtante fertig, die versuchte ihr zu erklären, daß heute ein Feiertag sei, aber kein Sonntag. Sie stellte sich vor Jenia in die Küche und fragte: "Jesus?" und Jenia begriff sofort: "Christos woskres" rief sie den Osterruf der orthodoxen Kirche. Worauf meine Großtante mit den Armen wedelte, zur Decke hochschaute und sagte: "Jesus - Papa" also Himmelfahrt. Und Jenia strahlte! Dies war wirklich die erste Verständigung, die über die Verständigung des Alltags hinausging.

Wenn nur das Heimweh nicht gewesen wäre! Ich hatte von ihr erfahren, daß sie verheiratet war, der Mann im Feld stand, daß es aber keine Feldpost gab, so daß sie nichts von ihm wußte. Außerdem erzählte sie, daß sie ein Kind gehabt hätte, das aber gestorben sei. Mehr allerdings habe ich über ihre Familienverhältnisse nicht erfahren. Nun war sie also von allem getrennt, und ohne Zweifel fühlte sie sich völlig verlassen. Es gab aber einen Trost: in den Nachbarhäusern waren ebenfalls Fremdarbeiterinnen im Haushalt eingesetzt, und so ergab es sich, daß diese drei jungen Frauen ihre Freizeit gemeinsam verbrachten. Dazu trafen sie sich bei uns in Jenias Dachkämmerchen und sangen die Lieder ihrer Heimat. Mein Vater hatte Jenia seine Gitarre gegeben - er hatte als junger Mensch gerne darauf gespielt, bis die Kriegsverletzung das unmöglich machte. Und nun saßen also die drei jungen Russinnen, sangen und weinten zusammen und fanden oben unter dem Dach ein Stückchen Heimat. Bei diesen Treffen war ich niemals anwesend. Als ich aber vom Kriegshilfsdienst entlassen wurde, haben wir so manches Mal bei ihr zusammengesessen, haben uns was erzählt, gelacht, gealbert - wie man eben als 20-Jährige die Abende verbringt. Ich war ein Jahr jünger als sie - aber welch ein Unterschied zwischen mir, der behüteten Tochter und ihr, der Verschleppten aus der Ukraine! Aber das hat uns nicht daran gehindert, uns gut zu verstehen.

Meine Eltern hatten große Sorge, wie wohl der Urlaub meines Bruders verliefe, der als Soldat auf Urlaub aus der Ukraine kam - ihrer Heimat. Sie war gegen ihren Willen in Deutschland und er gegen seinen Willen als Soldat in ihrer Heimat. Es verlief aber alles völlig unkompliziert, die beide jungen Menschen hatten keine Probleme miteinander. (Mein Bruder fiel bald darauf mit 19 Jahren.)

Jenia wurde im Laufe der zeit erstaunlich schlank, aber nicht deshalb, weil wir ihr nicht genügend zu essen gaben. Meine Mutter hatte alle diese Vorschriften der Frauenschaftsführerin einfach ignoriert. Jenia bekam das gleiche zu essen wie wir - das wäre nicht anders denkbar gewesen. Und daß sie nicht bei uns mit am Tisch aß, war auch keine besondere Maßnahme: alle unsere Hausmädchen aßen draußen in der Küche. Das war ihnen auch lieber, da mußten sie sich auch nicht "benehmen" und hatten volle Freiheit, die Ellbogen aufzustützen oder den Teller abzulecken. Meine Mutter schickte sie auch zu unserer Ärztin, da sie sich Sorge um Jenias Gesundheit machte. Ebenso begleitete sie sie zur katholischen Kirche, in der Hoffnung, daß der Ritus ihr helfen möge, das Heimweh zu ertragen - beides war verboten.

Jenia wurde ein halbes Jahr vor Kriegsende in ein Lager eingewiesen, um dort in der Produktion zu arbeiten. Ich hatte seitdem nie wieder etwas von ihr gehört. Vor einiger Zeit aber fing ich an - nach etwa 60 Jahren! - nach ihr zu suchen. Aber wie wollte ich sie finden, wenn ich keinen Namen, keinen Ort oder sonst irgendeine Angabe machen konnte? Ich fragte bei der AOK, ob man aus jener Zeit noch Versichertenkarteien aufbewahre, die mir hätten weiterhelfen können - nichts existierte mehr. Zumal man den Versicherten in der Kartei aufgenommen hatte, nicht aber den Arbeitgeber. Bis mir dann der größte Zufall zu Hilfe kam. In Göttingen tat sich eine Gruppe von Menschen zusammen, die sich freiwillig an Wiedergutmachungszahlungen beteiligen wollten. Die Leiterin dieser Gruppe fragte ich nach den Möglichkeiten, sie machte mir allerdings keine Hoffnungen. Es existierten unzählige Karteikästen der Versicherten dieser Kriegsjahre, wie aber soll sie eine bestimmte Person finden, wenn der Name nicht bekannt ist. Da gab ich die latent immer noch vorhandene Hoffnung auf. Aber wenige Tage später bekam ich einen Anruf. Die leitende Wissenschaftlerin des Projekts hatte rein zufällig in einen der vielen, vielen Kästchen gegriffen und - den Namen von Jenia herausgezogen. Arbeitgeber: Mein Vater!

Meine junge Georgierin, die Slawistik studiert hat, schrieb nun einen ersten Brief, dem bald andere folgten: Jenia ist heute 81 Jahre alt, sie lebt mit ihrer Tochter zusammen in ihrem alten Dorf, der Mann kehrte heil aus dem Krieg zurück, starb aber vor wenigen Jahren. Ich bin dankbar, daß der Kontakt wieder hergestellt ist: Jenia ist fast blind, recht elend und lebt in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Seitdem wechseln wir einmal im Monat einen Brief, den ich natürlich nicht selber lesen oder schreiben kann. Aber ich bin dankbar, daß ich mit liebevoller Anteilnahme und natürlich auch finanzieller Hilfe ihr Schicksal ein wenig erleichtern kann.

lo