> Jörg Sonnabend: Meine Erlebnisse in einem KLV-Lager in der Slowakei 1944

Jörg Sonnabend: Meine Erlebnisse in einem KLV-Lager in der Slowakei 1944

Dieser Eintrag stammt von Jörg Sonnabend (*1934) aus Berlin-Spandau (djsonnabend@t-online.de), Februar 2012:

/lemo/bestand/objekt/sonnabend_3 Als 1942/43 die Luftangriffe auf Berlin immer heftiger wurden und jetzt auch verstärkt Tagesangriffe geflogen wurden, wurde eine Aktion ins Leben gerufen, die sich Kinderlandverschickung nannte. Trotz der politischen Situation in Deutschland war das aus damaliger Sicht, so wurde es jedenfalls von der Bevölkerung empfunden, eine vernünftige Sache. Man muss sich diese schreckliche Zeit mal vor Augen führen: die Luftangriffe nahmen an Heftigkeit zu und wie bereits erwähnt, gab es vermehrt Tagesangriffe. Es kam vor, dass man nachts zweimal in den Keller musste, ein geregelter Schulbetrieb war eigentlich nicht mehr gegeben. So entschlossen sich viele Eltern, so auch meine Mutter, ihre Kinder an dieser Aktion teilnehmen zu lassen. Es war der Februar 1944. Wie die Anmeldeformalitäten vor sich gingen, weiß ich nicht mehr genau, wir bekamen einen Abreisetermin und einrn Treffpunkt genannt. Wie sich zu meinem Glück heraus stellte, fuhren mehrere Jungs aus meiner Schulklasse mit, so dass wenigsten einige bekannte Gesichter um mich waren. Nach welchen Gesichtspunkten diese Transporte zusammengestellt wurden, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen, wir waren jedenfalls ca. 100 Jungs im Alter von 10 bis 14 Jahren aus mehreren Bezirken Berlins. Treffpunkt war der damalige Görlitzer-Bahnhof in Kreuzberg.

Unser Transport ging in die Slowakei. Ein Ort wurde nicht genannt, die Eltern würden später brieflich Bescheid bekommen. Wir bestiegen also den Zug, es waren Waggons mit Holzbänken. Jeder hatte einen Sitzplatz und wir bekamen Stullenpaket als Verpflegung. Die Fahrt ging durch die Nacht, Richtung Osten, durch eine dunkle Landschaft. Im Kriege bestand in Deutschland wegen der Fliegerangriffe Verdunklungspflicht. Es wurde dann auch mal gehalten, es wurde rangiert, aber da unsere geographischen Kenntnisse als Kinder gering waren, wusste auch niemand so recht, wo wir waren. Am nächsten Tag kamen wir in einem Ort Namens Silein (Zilina) an. Das war die Grenzstation zwischen dem damaligen "Reichsprotektorat" und der Slowakei. Wir wurden verpflegt und konnten uns endlich ausschlafen. Silein war das sog. Durchgangslager, hier wurden die Transporte zu den einzelnen Lagern zusammengestellt. Es folgte wieder eine Bahnfahrt, irgendwann im Dunkeln kamen wir in Kremnitz an (slowakisch: Kremnica). Wir wurden auf Pferdeschlitten verladen und rauf gings zur Skalka, einem ca. 1200 m hohen Berg. Oben befand sich ein ehemaliges Erholungsheim, das unser Lager wurde. Erinnern kann ich mich - und dieses Bild habe ich immer noch vor den Augen: wir kamen aus dem zerbombten Berlin und fuhren jetzt durch eine traumhafte Winterlandschaft!

Unsere Ankunft im Heim führte uns wieder die harte Realität vor Augen. Dass Innenleben des sog. Erholungsheimes ähnelte dem einer Kaserne. Lange Flure, von denen die einzelnen Stuben abgingen. Die Stuben, die übrigens keine Nummern hatten sondern nach den damaligen Kriegshelden wie z.B. Prien, Kretschmer oder Mölders benannt waren, wurden mit 4 bis 7 Schülern belegt. Da wir Schüler zwischen 10 und 14 Jahren waren, wurden die Stubenbelegungen so geregelt, dass jeder Stube ein älterer Schüler zugeteilt wurde. Dieser Schüler wurde dann gleichzeitig der Stubenälteste. Ich wurde einer Sieben-Mann-Stube zugeteilt, die den Namen des legendären U-Boot-Kapitäns Günter Prien trug. Hierauf war ich damals besonders stolz, da mein Vater bei der Kriegsmarine war.

Bis hierher hört sich das alles ganz normal an, aber der Ton, die Behandlung und der ständige Zwang, hatte bald starke Ähnlichkeit mit einer Preußischen Kadettenanstalt. Alles war reglementiert, jede Minute war eingeteilt, individuelle Freizeit gab es nicht. Zwei Lehrer und eine Lehrerin waren von Berlin aus mitgefahren, einer der Lehrer war der Lagerleiter. Aber die eigentliche Macht im Lager übten die sog. Lagermannschaftsführer (LMF) aus. Es waren drei an der Zahl, im Alter so um die 20 und alle Absolventen der Adolf-Hitler-Schulen (AHS). Unter uns und hinter vorgehaltener Hand sagten wir immer: AHS= Allgemeine Hilfsschule. Das durfte natürlich nicht laut werden, die Folgen wären fürchterlich geworden. Von diesen LMF wurden wir drangsaliert und geschliffen wie die Soldaten, vom Wecken bis zur Nachtruhe. Es gab, zugegebener Maßen, natürlich auch angenehme Stunden, an die ich mich gern erinnere. Da waren z.B. der Sport, der viel und ausgiebig betrieben wurde, und die Heimabende. Entschädigt wurden wir für all unsere Mühsal durch reichhaltiges und gutes Essen.

Hier der typische Ablauf eines Tages: Der Tag begann mit dem Wecken, es erfolgte ein Pfiff, und jede Stube musste sich im Flur, noch im Schlafanzug, in Reihe aufstellen. Der Stubenälteste musste dem LMF Meldung machen. Es folgte dann das Zähneputzen und Waschen, natürlich alles mit kaltem Wasser. Die Betten mussten gebaut und die Schränke wieder exakt eingeräumt werden. Sollte hier irgendetwas schief sein oder das Bett Falten schlagen, so wurde alles vom LMF, der während des Frühstückes die Stuben inspizierte, rausgerissen und mitten in der Stube auf einen Haufen geschmissen. Dann erfolgte wieder ein Pfiff, das hieß dann raustreten auf den Vorhof zum Morgenappell. Der Jungschaftsführer machte dem LMF Meldung, die Fahnen wurden gehisst, ein Lied wurde gesungen und es ging in den großen Speisesaal zum Frühstück. Zum Fahnenhissen noch eine Erklärung: die Slowakei hatte ja während des Krieges eine Scheinselbstständigkeit von "Hitlers Gnaden". Sie wurde quasi als souveräner Staat behandelt. Es wurden also immer 2 Fahnen gehisst: die deutsche und die slowakische.

Das Frühstück war sehr reichhaltig, es bestand aus einen Stapel Butterstullen und einer Milchsuppe. Man durfte aber nicht einfach in den Saal stürmen und sich an den Tisch setzen, nein, wir marschierten in den Speisesaal und nahmen hinter den Stühlen Aufstellung. Dann mussten wir uns auf Kommando lautlos hinsetzen. Das wurde dann solange geübt, bis es wirklich lautlos klappte. Heute würde ich sagen: das war alles reine Schikane, ehe wir diesen ganzen Zirkus hinter uns hatten, hing uns manchmal der Magen schon an den Fußsohlen. Nach dem Frühstück hieß es wegtreten auf Stube, in den noch winterlichen Monaten mussten jetzt die Öfen geheizt werden. Das Haus hatte keine Zentralheizung. Als Heizmaterial wurde Holz verwendet, das an jedem Nachmittag von einem Stubeninsassen nach oben getragen werden musste.

Wie ich schon erwähnte, es waren Lehrer aus Berlin mit gefahren, wir hatten normalen Schulunterricht. In drei altersmäßig aufgeteilten Gruppen begann jetzt der Unterricht im Speisesaal. Nachdem wir uns wieder in unseren Stuben versammelt hatten, folgte wieder der obligatorische Pfiff, das hieß dann antreten auf dem Flur zum Mittagessen. Marsch in den Speisesaal und Aufstellung hinter den Stühlen. Es folgte dann wieder der Zirkus mit dem lautlosen Hinsetzen, auf und nieder 3-mal und mehr. Nach dem Essen war eine Stunde Mittagsruhe angesagt. Wir mussten uns in die Betten legen, die Stubentüren mussten offen bleiben und es musste absolute Ruhe herrschen. Wurde man beim Schwatzen erwischt oder man machte andere Unruhe, waren Strafen zu erwarten. Als Strafe musste man z.B. in Liegestütz auf dem Flur vor der Tür des LMF den Rest der Mittagsruhe verbringen. Oder man musste stehen und ein Stück Holz in den ausgestreckten Armen halten, eine anstrengende und manchmal auch schmerzhafte Strafe.

Nach der Mittagsruhe ging es ein kleinwenig lockerer zu, wir durften uns unser Vesperbrot im Speisesaal abholen und zum Essen mit auf die Stube nehmen. Vesperbrot hieß in diesem Falle: mehrere mit Butter und Marmelade beschmierte Stullen und ein Pott süßen "Muckefuck"-Kaffee. Der Rest des Tages war mit wechselnder Beschäftigung ausgefüllt. Wir hatten entweder Sport, im Winter meistens Skifahren, oder machten Geländespiele, oder es stand der berüchtigte "Ordnungsdienst" auf der Tagesordnung. Hinter dieser harmlosen Bezeichnung verbarg sich für uns ein kleines Martyrium, es war schlicht und einfach ein Exerzieren wie bei den Soldaten auf dem Kasernenhof. Das hieß: laufen, dann hinlegen, dann wieder "auf, auf, Marsch-Marsch", dann wieder "hinlegen und weiter robben" usw. Wir waren zwar in körperlich guter Verfassung, aber nach diesem sog. Ordnungsdienst waren wir immer vollkommen fertig und froh, wenn wir uns vor dem Abendbrot noch etwas hinlegen konnten. Es war praktisch eine vorsoldatische Ausbildung, die man mit uns Kindern hier betrieb, heute nicht mehr vorstellbar. Danach ging es dann zum Abendessen. Wieder die gleiche Prozedur: auf Pfiff raustreten, antreten, dann Marsch in den Speisesaal, lautlos hinsetzen usw. Nach dem Abendessen standen uns eigentlich immer die schönsten Stunden des Tages bevor, es waren die Heimabende. Wir verbrachten einige Stunden mit Singen oder Vorlesen, oder es wurden Geschichten erzählt. Dass diese Geschichten vom Krieg und von Kriegshelden handelten, versteht sich von selbst. Ich kann mich aber auch erinnern, dass der LMF uns Geschichten aus Karl-May Büchern vorlas. So ca. um 22.00 Uhr war dann Zapfenstreich. Der LMF kontrollierte dann stichprobenartig die Stuben, der Stubenälteste musste Meldung machen, die da hieß: keine besonderen Vorkommnisse, dann war absolute Nachtruhe.

Einmal in der Woche stand nach der Mittagsruhe die sog. "Putz und Flickstunde" auf der Tagesordnung, d.h. wir mussten unsere Kleidung in Ordnung bringen. Knöpfe annähen und Strümpfe stopfen, wie das bei 10 bis 14 Jährigen manchmal aussah, kann man sich ja vorstellen. Es wurden aber auch Schuhe und Koppel geputzt. Da wir im Februar, also mitten im Winter, dort angekommen sind, gab es viel Schnee. Unsere Versorgung erfolgte also ausschließlich mit Pferdeschlitten. Es passierte einige Male, dass infolge von Neuschnee die Pferdeschlitten nicht den Berg hinauf kamen und im Schnee stecken blieben. Da uns in der Zwischenzeit dann das Brot ausging, musste der Koch improvisieren. Er backte dann auf der Pfanne dünne Fladen, heute würde man sagen Crêpes, die mit Marmelade bestrichen und zusammengerollt wurden. Für uns eine angenehme Abwechslung. Die größeren Jungs aber, also die 13 bis14 Jährigen, mussten sich die Skier anschnallen und bis zu den steckengebliebenen Pferdeschlitten den Berg herunter fahren, um rucksackweise unsere Verpflegung nach oben zu holen.

Gegen Ende April 1944 verließ uns dann der Schnee, und es bot sich uns eine herrliche Gebirgslandschaft, die man unter den Schneemassen nur erahnen konnte. An dem streng reglementierten Lagerleben änderte sich natürlich nichts, aber mit zunehmender Wärme wurde alles etwas freundlicher. Es entfiel z.B. das lästige Heizen mit dem dazu gehörigen Schleppen des Holzes. Erwähnen möchte ich noch, dass der Kontakt zu unseren Eltern aufrechterhalten wurde. Wir erhielten regelmäßig Post von zu Hause und wir wiederum mussten jede Woche unter Aufsicht einen Brief schreiben.

Eine weitere angenehme Abwechslung im täglichen Einerlei des Lagerlebens waren die Zahnarztbesuche in Kremnica. Wenn man Zahnschmerzen oder andere Zahnprobleme hatte, manchmal simulierten wir auch nur, um in die Stadt zu kommen, musste man sich melden. Es wurde dann ein Trupp von 6 bis 8 Jungens zusammengestellt, wir mussten unsere Uniformen anziehen, einer bekam die Aufsicht und wir marschierten los. Es war ein Weg von ca. 5 bis 6 km zu bewältigen. Wir bekamen ein Taschengeld von 10 Slowakischen-Kronen pro Monat, und die einzige Möglichkeit, dieses Geld auszugeben, waren eben diese Zahnarztbesuche. Der Zahnarzt lag mitten in der Altstadt von Kremnica, direkt am Markt. Dort waren immer Marktstände aufgebaut - und wie ich mich erinnern kann, gab es dort wirklich alles, natürlich auch Süßigkeiten. Man muss sich das vorstellen, wir waren mitten im Krieg, wir kamen aus dem zerbombten Berlin und hier herrschte offenbar tiefster Frieden. Unsere paar Kronen waren natürlich bald aufgebraucht, und wir freuten uns schon auf den nächsten Zahnarztbesuch.

Im Spätsommer stand uns eine weitere Abwechslung ins Haus. In der Nähe unseres Heimes gab es Bergwiesen mit vielen großen Blaubeerbüschen. Herrliche große Beeren boten sich uns an. Wir zogen also los zum Blaubeerpflücken und Essen. Denn ehe wir uns selber an den Blaubeeren gütlich tun durften, mussten erst die Wannen, die wir mitgenommen hatten, gefüllt werden. Die Beeren wurden in der Küche abgeliefert und es gab dann Böhmische-Hefeklöße mit Blaubeeren. Unvergesslich, ich schwärme heut noch davon. Der Ton im Lager blieb natürlich rau militärisch, aber die oben beschriebenen Abwechslungen entschädigten uns ein wenig.

Unsere Rückreise bzw. unser Aufbruch nach Deutschland im September 1944 erfolgte ganz plötzlich und war chaotisch/dramatisch. Wie wir erst später erfuhren, hatte die Partisanentätigkeit in der eigentlich am Kriege nicht beteiligten Slowakei derartig zugenommen, dass unsere Sicherheit nicht mehr gegeben war. Ich kann mich noch genau erinnern, wir saßen vormittags beim Unterricht, als plötzlich der LMF erschien und den Unterricht abbrach. Wir bekamen die Order, das nötigste zu packen und uns mit wenig Gepäck und ohne Uniform innerhalb kurzer Zeit auf dem Platz vor dem Heim zu versammeln. Wir wurden auf Pferdefuhrwerken verladen und ab ging es zum Bahnhof. Dort bekamen wir noch einen Proviantbeutel in die Hand gedrückt und wurden in den bereitgestellten Zug verteilt. Keiner wusste genau, wo es hingeht. Nach ca. 2 Tagen und vielen Halts auf freier Strecke, zeitlich kann ich das nicht mehr genau einordnen, landeten wir in Prag. Da die hygienischen Zustände im Zug sehr mangelhaft waren, waren wir ziemlich "verdreckt" und natürlich auch hungrig. Wir wurden verpflegt und übernachteten in einem Barackenlager. Am nächsten Tag ging es weiter mit dem Zug Richtung Deutschland. Nach langer Fahrt und vielen Halts landeten wir schließlich in Dresden.

Unsere Odyssee war aber noch nicht beendet, wir wurden in einen Vorortzug verfrachtet und weiter ging die Fahrt. Wie wir später merkten, war unser Ziel Hohenstein-Ernstthal in Sachsen, der Geburtsstadt von Karl May. Dort wurden wir in einer Schule untergebracht. Die Schule, die es heute übrigens noch gibt, heißt "Pestalozzi-Schule". Heute glaube ich, dass man uns dann möglichst schnell loswerden wollte, denn wir sollten unseren Eltern schreiben, dass sie uns abholen sollen. Der Aufenthalt dort dauerte also nur ca. 14 Tage, dann stand meine Mutter vor der Tür und ab ging die Fahrt nach Berlin. Die raue Wirklichkeit des Krieges, mit Bombennächten und Entbehrungen, hatte uns wieder. Dass diese Zeit noch bis Mai 1945 anhalten sollte, wusste damals natürlich niemand.

lo