> Josepha von Koskull: Kriegsbeginn 1939

Josepha von Koskull: Kriegsbeginn 1939

Aufzeichnungen aus der Autobiographie von Josepha von Koskull (1898-1996) aus Berlin, (DHM-Bestand; Inv.-Nr.: Do2 98/501):


Als der Krieg im Jahre 1939 ausbrach, war ich gerade zwanzig Jahre lang in Berlin und seit zehn Jahren deutsche Untertanin. Ich war im Jahre 1919, nach dem Zusammenbruch im Osten, als meine Eltern durch die "Agrarreform" in Lettland ihres seit Hunderten von Jahren der Familie gehörenden Majorats beraubt worden war, nach Deutschland gekommen und hatte in Berlin Arbeit gefunden.

Es war eigentlich ein Zufall, daß ich gerade nach Berlin verschlagen wurde und dort hängen blieb. Die übrigen Familienangehörigen wurden weit in der Welt verstreut. Wir alle lernten zu arbeiten und zu dienen, wozu wir nicht erzogen worden waren. Jeder von uns setzte seine Fähigkeiten ein. Ich war erst lange Jahre in der Redaktion einer großen Berliner Tageszeitung beschäftigt, dann wurde ich Bibliothekarin bei einer großen Bank. Dort arbeitete ich seit 1930. Die Beschäftigung mit Büchern war mir eine schöne Aufgabe.

Die Stellung war die einer Beamtin, also schien mein Alter durch eine Pension gesichert. Das war damals eine sehr angenehme Aussicht. Als ich die Stellung wegen meiner guten Sprachkenntnisse erhielt, wurde mir gesagt, ich müßte schleunigst die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Bis dahin hatte ich auf einen Paß des Berliner Polizeipräsidenten als "Staatenlose" gelebt, den Paß mußte ich jedes Jahr erneuern lassen. Nun reichte ich ein Gesuch ein und nach einem halben Jahr bekam ich den deutschen Paß. Ich gab mein gelbes Ausreisepapier mit gemischten Gefühlen ab. Ich freute mich nicht über den neuen Paß. Meine Eltern waren lettländische Bürger, eine Schwester war Engländerin, eine Staatenlose, ein Onkel Algerier, eine Tante Brasilianerin, die meisten anderen Verwandten lebten mit "Nansenpässen".

Als Angehöriger einer solchen Familie hat man kein Verhältnis zu dem Staat, der einem einen Paß gibt, man ist Weltbürgerin, und ich dokumentierte das für meinen Teil, indem ich Mitglied der "Paneuropäischen Union" wurde, für die damals Graf Coudenhove-Calergie warb. Im Jahre 1931 reiste ich nach Schweden zu einer sehr lieben Freundin und da sah ich, daß das Reisen mit einem deutschen Paß bequemer war als mit dem Staatenlosenpapier. Das war aber auch die einzige Annehmlichkeit, die er mir bot.

Ich fühlte mich als Weltbürgerin, aber ich lebte gern in Berlin, das mir Arbeit und seit 1930, nach zehn Jahren des Hausens in möblierten Zimmern, auch ein Heim gegeben hatte. Ich hatte damals genug auf der Sparkasse angesammelt, um mir eine kleine Wohnung zu kaufen und die nötigsten Möbel. [...]

Berlin war damals eine schöne, lebhafte, rege Stadt. Heute, da es in Trümmern liegt, liebe ich es noch mehr als damals, da das Leben so bequem, sauber und billig war. Wenn ich durch die Trümmer gehe, sehe ich nicht die Ruinen und Steinhaufen, sondern hinter dieser Fassade stehen die schönen Gebäude, die ich einst kannte. Damals sangen wir einen Schlager:

"Berlin, Berlin, wie hast du dich verändert ...", heute wissen wir, was es heißt, aus einer Stadt einen Schutthaufen zu machen.

Die unglückseligen zwölf Jahre der Hitler-Herrschaft und besonders die letzten sechs Kriegsjahre haben die Stadt und die Menschen furchtbar verändert. Ich habe diese Zeit von Anfang bis zu Ende bewußt miterlebt, ich sehe hinter die Dinge, ließ mich nie blenden und sah das Ende kommen. Es war eine grausame Zeit. Daß die Herrschaft der Nazis keine tausend Jahre dauern würde, das wußten ich und meine Freunde wohl, aber wie lange sie dauern würde, das konnte man nicht abschätzen. Und doch hieß es verzichten auf so vieles während dieser Zeit.

Bei jeder neuen Gehaltsregelung, deren es nach der "Machtübernahme" mehrere gab, wurde ich jedesmal im Gehalt herabgesetzt, denn ich war natürlich nicht Parteimitglied; ich bekam als Bibliothekarin zuletzt ein Gehalt, das geringer war als das der Sekretärinnen. Meine kleine Wohnung wurde mir fast zu teuer. Ich habe schon lange, bevor Hermann Göring uns Kanonen statt Butter anbot, Margarine statt Butter gekauft und auf Kaffee, Sonntagskuchen und manches andere verzichten müssen.

Von meinem geringen Gehalt mußte ich die Beiträge zur Arbeitsfront, zur Volkswohlfahrt, zum Luftschutz entrichten. Diesen drei Organisationen konnte man sich nicht entziehen, wenn man im Dritten Reich eine Anstellung hatte. Das Winterhalbjahr kostete außerdem noch die Beiträge zur Winterhilfe; die paar Mark summierten sich.

Damals, Ende August 1939, fieberte die Stadt, es lag die Entscheidung in der Luft. Schon meldete der Rundfunk eine Greuelnachricht aus Polen nach der anderen. Wir ahnten alle, daß der Konflikt diesmal nicht würde beigelegt werden. Das Volk war wild begeistert für den Krieg! Vor einem Jahr hatten einige ihn gefürchtet, nun war diese Zahl nur noch minimal klein. Sie hofften und beteten, es möge doch ja Krieg geben.

Abends um acht Uhr traf ich meinen Bekannten Kotik, wir wollten am Kurfürstendamm essen. Alle Lokale waren überfüllt, man fand keinen Platz. Überall spielte die Musik, bis weit auf die Trottoire hatte die Lokale ihre Tische und Stühle hinaus gestellt. Es war warm und der Mond stand über den lauten Straßen. Wir fanden einen Tisch im Garten von "Gruban". An diesem Abend packte uns ein Übermut, ganz im Gegensatz zu den meist sehr nachdenklichen und resignierten Gesprächen, die wir sonst führten, warfen wir diesmal alle schwarzen Gedanken über Bord. Wir tranken Sekt und blieben dort sitzen als die letzten Gäste. Ich weiß, daß Kotik mich erst um halb zwei Uhr in der Frühe in ein Taxi setzte. Zum Abschied sagte er: "Und wenn es morgen losgeht, waren wir wenigstens noch einmal vergnügt ..."

Ich erinnere mich, daß mir damals nachts beim Wachliegen die Verse des Dichters Georg Heym in den Sinn kamen, die dieser schon 1912 allzu jung Verstorbene in einer Vision des herannahenden ersten Weltkrieges geschrieben hatte:

"Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
aufgestanden unten in Gewölben tief.
In der Dämmerung steht er, groß und unbekannt,
und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand."
Ein Vierteljahrhundert später wurde das furchtbare Gegenwart, was er geschaut hatte:
"Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühenden Trümmern steht
der in wilde Himmel seine Fackel dreht
über sturmzerfetzter Wolken Widerschein
in des toten Dunkels kalte Wüstenein,
daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Seit ich die Synagogen brennen sah, ahnte ich, welch Strafgericht dieser Stadt und diesem Lande bereitet war. Jetzt hieß es, allen Mut zusammenfassen und alles das auf Gottes Hand zu nehmen, was er uns vorbestimmt hatte.

Die Krise wurde noch um einige Tage hinausgezögert. Aber am ersten September, an einem Freitag, marschierten die deutschen Truppen in Polen ein. Berlin schwamm in einem Taumel der Begeisterung.

Sofort wurde der Luftschutz aufgerufen und mobil gemacht. Ich war als Sanitäterin ausgebildet worden. Mir wurde befohlen, die nächsten zehn Nächte Luftschutzwache im Bankgebäude zu übernehmen, dafür war ich am Tage frei. Am Abend des ersten Kriegstages hatten wir auch schon den ersten Alarm. Einige polnische Flugzeuge waren bis nach Frankfurt an der Oder vorgedrungen und ganz Berlin wurde durch die Sirenen in die Keller gejagt. Es dauerte nur ein paar Minuten. Ein Vorspiel von dem, was wir später kennenlernen sollten...

Nachts saßen die zum Luftschutz befohlenen Kollegen und ich vor dem Gebäude der Bank. Die Straßen der City, die sonst spät abends so still dalagen, waren erfüllt von einer lustigen, aufgeregten Menge, die sich die Verdunkelung ansah. Die ungewohnte Dunkelheit war Anlaß zu manchem Scherz und zu mancher Handgreiflichkeit, man hörte Kichern, Schelten und Lachen. Die großen Autobusse fuhren mit blau angemalten Fenstern, sie schaukelten wie riesigen Meerungeheuer durch die enge Schlucht der Friedrichstraße.

So verbrachte ich die Tage zu Hause und schlief nachts im Sanitätsraum der Bank auf einem Wachstuchsofa. Die Siegesmeldungen aus Polen überstürzten sich. Die Stimmung der Bevölkerung war gehoben.

Am Tage nach dem Kriegsausbruch rief mich mein Bekannter Ri an. Ich fragte in der spöttischen Art, die ich manchmal ihm gegenüber annahm: "Nun, wirst du nicht auch zu den Waffen eilen - Herr Oberleutnant?" (diesen militärischen Rang hatte er seit der Ableistung mehrerer Übungen in der Flakkaserne erhalten und er stand ihm merkwürdig zu seinen grauen Haaren). "Noch nicht", sagte er, "man braucht uns ältere Jahrgänge nicht in diesem Krieg, der ja in wenigen Monaten, spätestens zu Weihnachten, beendet sein wird. Aber hätte ich doch einen Sohn, der an meiner Stelle ..." "Jawohl!" sagte ich, "der Junge würde mit neunzehn Jahren Ritterkreuzträger werden und mit neunzehneinhalb Jahren fallen! Ich bin froh, daß ich weder Mann noch Sohn habe, die in diesen Krieg ziehen müßten." "Das verstehst du nicht ... du mußt verstehen, was es für einen Mann bedeutet, untätig daheim zu sitzen, wenn der Führer losschlägt." Wieder verstanden uns wieder einmal ganz und gar nicht.

lo