> Jutta Schneider: An der Werkschule KLV in Prag

Jutta Schneider: An der "Werkschule KLV" in Prag

Dieser Eintrag von Jutta Schneider (*1927) aus Reisbach (wolf.jutta@gmx.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/schneider_03 Im August 1943 kam ich mit der Kinderlandverschickung (KLV) ins Vogtland. Als ich 2 Monate dort war, wurde ein Mädchen gesucht, dass besonders gut basteln konnte. Das sollte ich sein, und ich bekam somit die Chance nach Prag zu fahren, um dort an einem Lehrgang an der "Werkschule KLV" teilzunehmen. Ich durfte ein Mädchen benennen, dass mitfahren konnte, und da schlug ich die Anneliese vor. Nun durften wir eine Weile zusammen sein, was uns beide sehr freute. In der Schule bekamen wir frei und so fuhren wir vielbeneidet in die "goldene Stadt".

In Dresden hatten wir so viel Zeit, dass wir uns alle Sehenswürdigkeiten ansehen konnten. Welch ein Glück, denn im Februar 1945 wurde die Stadt total zerstört. Auf dem Bahnhof fiel uns ein großer, dunkelhaariger Mann auf, der uns unentwegt beobachtete und verfolgte. Es war Vorschrift, die Hitlerjugenduniform zu tragen, und das bereitete uns plötzlich ein unangenehmes Gefühl. Wir konnten nichts Konkretes sagen aber hatten gehört, dass es Menschen gab, die die Hitlerjugend verfolgen und sogar verschwinden ließ. Aber das waren sicher nur Gerüchte. So liefen Anneliese und ich zwischen den Menschen hin und her, um diesem unangenehmen Typen zu entrinnen.

Als es über die Grenze ging, wurden alle Abteiltüren verschlossen. Wer sollte vor wem geschützt werden? In Prag angekommen stand der Mann plötzlich neben uns. Blitzschnell versteckten wir uns abermals und tatsächlich waren wir ihm entwischt. Da standen wir nun mit unserer Angst und suchten die Straße, die uns im Zug ein Hitlerjunge genannt hatte. Dort sollte eine Unterkunft für durchreisende Soldaten und für die Hitlerjugend sein. Es war inzwischen dunkel geworden. Wir fürchteten uns, vielleicht war das eine Falle, in die wir hineintapsten? Als wir das Haus fanden, waren wir froh, dass es so "normal" aussah. Es war auch wohl nicht anzunehmen, dass über der Tür stehen würde: "Achtung Falle!" Viele Soldaten waren im Haus und alles sprach deutsch. Da beruhigten sich unsere Phantasien etwas und wir schliefen todmüde ein.

Am nächsten Morgen ging die Sucherei weiter. Niemand konnte uns sagen, wo die Gröbevilla im Gröbepark ist. Nach vielen Umwegen und leerem Magen kamen wir doch dort an. Um sieben Uhr mussten wir aufstehen und den ganzen Tag hatten wir Werkunterricht. Das ging elf Tage lang so. Zwischendurch waren wir aber im Theater und sahen "Agnes Bernauer". Ich traf sogar den Attilla Hörbiger und sprach mit ihm. Das war ein Mann!! Alle Kursteilnehmerinnen machten eine Rundfahrt durch Prag. Wir waren auf der Burg und sahen uns mit Schaudern den Spitzenkragen des ermordeten Wallensteins an. Wir vollzogen im Geiste den "Prager Fenstersturz" nach und spuckten in die Moldau.

Am letzten Tag durften wir Einkäufe in der Stadt machen. Ungewöhnlich für uns, dass so viele Männer zu sehen waren, aber sie wurden ja nicht eingezogen. Alle Geschäfte waren in tschechischer und deutscher Sprache ausgeschildert. Anneliese und ich aßen uns erst mal an Kuchen satt, den wir ohne Lebensmittelmarken bekamen. Abends im Bett dachte ich über eine merkwürdige Begegnung nach: Ich stand bei einer Buchhandlung und betrachtete die Auslagen. Plötzlich fühlte ich mich beobachtet. Als ich die Augen hob, sah ich direkt in das Gesicht eines Soldaten von der Luftwaffe. Er kam ihr so vertraut vor, und doch wusste ich ihn nicht unterzubringen. Je länger ich darüber nachdachte, stand für mich fest, dass es mein verlorengegangener Vater war. Ich hatte ihn wohl 10 Jahre nicht gesehen. So richtig konnte ich mich gar nicht an ihn erinnern. Außerdem sahen die Männer in Uniform ganz anders als in Zivil aus. Sehr viele Jahre später, als ich meinen Vater wiedertraf, erzählte er ihr, dass er Ende Oktober 1943 in Prag gewesen war und sich eingebildet hatte, sie zu sehen. Zu genau dieser Zeit war ich auch dort gewesen.

lo