> Jutta Schneider: Endkämpfe 1945

Jutta Schneider: "Endkämpfe" 1945

Dieser Eintrag von Jutta Schneider (*1927) aus Reisbach (wolf.jutta@gmx.de) von März 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/schneider_04 Meine Mutter hatte Angst, mit meiner kleinen Schwester und mir allein zu sein, wenn der Feind in Bremen einmarschiert, und entschloss sich, zu ihren Eltern in das kleine Dorf Kirchhatten zu gehen. Es lag zwischen Bremen und Oldenburg. Dort waren die Großeltern nach der Ausbombung in Bremen untergekommen. Unten im Haus war eine Schlachterei, unterm Dach bekamen sie zwei Zimmer. Dafür hatte ihre Tochter Gesy gesorgt, die schon längere Zeit dort lebte, da sie aus Münster vor den Bomben geflohen war.

So einfach war das Unternehmen nicht. Die paar eigenen Sachen, die man noch besaß, sollten mit. Aber wie? Ein Bus oder ein Zug fuhr nicht nach dort. Ich lieh mir ein Fahrrad, fuhr zu den Großeltern und nahm Großvaters Rad mit zurück. Es waren über 20 km, und mit zwei Rädern zu fahren war viel anstrengender, als ich es gedacht hatte. Aber die Mutti konnte doch nicht zu Fuß gehen, obwohl ich sie noch nie auf einem Fahrrad sitzen gesehen hatte. Nette Leute liehen uns einen Fahrradanhänger, aber wir wussten nicht, wie wir ihn am Rad befestigen sollten. Wir nahmen einen Bindfaden und banden beides zusammen. Fast alle Habseligkeiten wurden eingepackt. Zuoberst kamen die beiden Daunensteppdecken und darauf wurde das Schwesterchen gesetzt. Ich fuhr mit dem Anhänger. Die Mutter fuhr mit Großvaters Rad.

Als wir auf einer langen geraden Straße fuhren, hörten wir über uns Flugzeuggeräusche, aber wir wussten nicht, ob es Freund oder Feind war. Das sollten wir sehr schnell erfahren, denn aus den Flugzeugen wurde auf uns geschossen. Dabei waren wir doch wirklich so unwichtig, aber der Anhänger mit den weißen Betten bot ein gutes Ziel. Wir schmissen alles auf die Straße und legten uns hinter eine Böschung. Viele Einschüsse waren in der Teerdecke, aber wir selbst und auch die Sachen blieben verschont.

/lemo/bestand/objekt/schneider_12 Am nächsten Morgen band der Großvater mit einem Draht den Anhänger fest, so konnte nichts passieren. Noch einmal fuhr ich zurück nach Oldenburg. Dort gab ich das geliehene Rad zurück, legte die restlichen Sachen in den Anhänger und machte mich nun zu Fuß wieder auf den Weg. Einige Kilometer vor Kirchhatten fuhren zwei Soldaten auf Fahrrädern an mir vorbei. Sie drehten wieder um und fragten, wohin ich will. Der Offizier befahl seinem Burschen, dass er den Anhänger an sein Rad binden soll, um es zu den Großeltern zu bringen. Sie hatten aber nicht mit meinem Misstrauen gerechnet. Ich trennte mich nicht von meinen Sachen. So musste der Bursche sein Rad hergeben und zu Fuß weitergehen. Ich fuhr mit einer Panzerfaust vorne an der Lenkstange und in Begleitung eines Offiziers in Kirchhatten ein. Großmutter lud die beiden Soldaten zum Abendessen ein. Von dem Wenigen, was sie selber hatten, gab sie gern. "Ihr Beide müsst tüchtig zulangen. Ihr seid ja noch Kinder", sagte sie. Für den Offiziersburschen sollte es die Henkersmahlzeit werden.

Nur gut, dass ich nicht noch einmal weg musste, denn in dieser Nacht ging es drunter und drüber. Mutter, mein Schwesterchen und ich legten uns ins Schlafzimmer der Großeltern auf den Fußboden, um zu schlafen. Immer näher kamen die Einschläge. Wir konnten das Knattern der Maschinengewehre hören. Der Großvater kannte die Geräusche vom Ersten Weltkrieg und sagte: "Es ist Zeit, dass ihr euch anzieht. Drüben am Wäldchen wird schon gekämpft". Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum in mein Zeug schlüpfen konnte. Es blieb nur Zeit, um meine Papiere einzustecken, da trieb der Großvater schon alle die Treppe hinunter über den Hof zum Nachbargrundstück. Dort stand ein strohgedecktes Bauernhaus mit einem Erdbunker im Garten. Er war eng, dunkel und muffig. Einige Leute saßen schon dort - und alle hatten Angst.

Dann war es ganz ruhig draußen. Die Tür wurde geöffnet, irgend jemand ging raus, und auch der Großvater wollte noch mal zurück und etwas aus dem Haus holen. Ich ging einfach mit. Der Großvater sagte: "Bleib lieber hier". Aber ich hörte nicht auf ihn, ich wollte ihm tragen helfen. Als wir über den Hof gingen, fing die Schießerei wieder an. Es war gleich neben uns. Wir konnten die Einschläge fast spüren. Großvater rief: "Lauf, lauf!, aber ich konnte nicht laufen, es ging einfach nicht. Ich rief: "Opa, Opa" und hatte solche Angst, dass ihm was passieren würde. Auf einmal war er neben mir, nahm mich ganz ruhig am Arm und brachte mich sicher zum Bunker zurück.

Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen, drei lange schwarze Kerle standen dort und holten alle Männer heraus. Die Großmutter stellte sich vor mich, denn mit jungen Mädchen passierten fürchterliche Dinge, erzählte man sich. Alle Ausweise wurden eingesammelt. Einige hatten die Hakenkreuze dick überkritzelt oder einfach rausgerissen. Ich war als BDM-Mädchen im Ausweis und vorne drauf war der Reichsadler mit Hakenkreuz. "Nun nehmen sie mich mit", dachte ich, aber nichts geschah. Die Großmutter hatte Angst um den Großvater, aber der kam bald wieder.

Ins Haus konnten wir nicht zurück, dort hatten die Kanadier eine Funkstelle eingerichtet. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn die Schießerei begann von Neuem. Dann saßen die Deutschen in dem Schlachterladen und richteten ihrerseits eine Funkstelle ein. So ging es in dieser Nacht ein paarmal hin und her. Mal hatten die Amerikaner gesiegt, mal die Deutschen. Am Ende blieben die Amerikaner die Sieger. Als es Morgen wurde, krabbelten alle aus dem Erdbunker heraus. Die Großeltern, die Mutti, Astrid und ich bekamen in dem strohgedeckten Bauernhaus ein Zimmer. Wir hatten nur den blanken Boden, auf dem wir sitzen und schlafen konnten. Der Großvater versuchte aus dem Haus Decken zu holen, aber ihn jagten sie mit vorgehaltenem Gewehr zurück.

Nun trat die Großmutter in Aktion. Das Haus hatte eine große Tenne mit einem Herd. Die Mutter und ich erhielten strikten Befehl von ihr, nicht aus dem Zimmer zu kommen wegen der schrecklichen Dinge, die so passieren konnten. Sie selber stellte sich hin und schlug den ganzen Tag Eier in die Pfanne, die von den Amerikanern gebracht wurden. Großmutter sagte zu einem von ihnen, der Deutsch verstand: "Warum macht ihr nur so was, wie diese Schießerei, was sollen nur eure Mütter von Euch denken sich einfach gegenseitig tot zu schießen. Das tut man doch nicht. - Jetzt esst erst mal und denkt an das, was ich gesagt habe".

Großmutter wusste genau, was sie sagte, und rührte an manches Herz. Einige Amis nannten sie "Mam" und waren ganz verlegen, wenn Großmutter sie mit ihren blauen, wissenden Augen ansah. Sie machte ihrer Familie mit ihren Bemerkungen auch Angst. Wie leicht konnte es einer falsch verstehen. Immer wieder kam jemand ins Zimmer zur übrigen Familie und berichtete über Großmutters waghalsige Reden. Ich stand am Türschlitz, lauschte und beobachtete das Treiben auf der Tenne. Am Nachmittag war es soweit, dass Großmutter auch die letzten Herzen erweicht hatte und mit ihrer Tochter ins Haus rübergehen durfte, um Bettdecken zu holen. Die Mutter ging gleich in den Kohlenkeller, denn dort hatte sie das Köfferchen mit Schmuck versteckt. Da waren aber auch die Familienfotos und mein Tagebuch. Nach und nach brachte die Mutti alles her. Meine Anhängeuhr aus Ragusa fehlte, und aus meinem Tagbuch waren die reingeklebten Banknoten aus Prag sowie Fotos raus- und entzweigerissen. Die Negative waren verschmutzt oder zerknickt.

Nachdem der Mutti nichts passiert war, durfte ich auch raus. Ich sollte mit dem Großvater zum Bäcker gehen. Um nicht gesehen zu werden, gingen wir hinten rum und nicht auf der Straße. Hinter den Büschen fanden wir den toten Offiziersburschen Ein Panzer musste ihn erwischt haben.

So viele Tote lagen noch da, das hatte der Großvater auch nicht gewusst und brachte mich sofort wieder zurück. Es dauerte einige Zeit, bis die Großeltern wieder ins Haus konnten. Die Amerikaner überrollten das Land und endlich war der Krieg zu Ende.


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