> Karl Deutmann: Kapitulation

Karl Deutmann: Kapitulation

Dieser Eintrag stammt aus Tagebuch-Aufzeichnungen von Karl Deutmann aus Adlershof bei Berlin. Deutmann war während des Krieges bei Mannesmann im Werkschutz tätig und beschrieb in seinem Tagebuch den Kriegsalltag mit Luftangriffen auf Berlin und zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten. Aus dem Bestand des Deutschen Historischen Museums (Inv.-Nr.: Do2 91/1).


22. April 1945

Wache am Osttor. Die ersten Granaten fallen in das Werksgelände. Nach meiner Ablösung will ich meine Frau zum Werksbunker aus der Wohnung holen, werde aber von Tieffliegern beschossen, die auch Splitterbomben werfen. Auf die Erde gepreßt erwarte ich mein Ende, um mich herum regnet es Splitter, die Straße riecht nach Pulver. Bleibe unverletzt. Rette mich ins Werk zurück. Da trifft eine Splitterbombe unseren Aufenthaltsraum und verletzt durch herabfallende Steine eine Frau. In derselben Zeit sind Granaten in die Baracken der Ostarbeiter gefallen und haben drei Frauen getötet und zwei Männer schwer verletzt.

Bei starkem Artilleriebeschuß wage ich den Gang noch einmal, erreiche meine Wohnung und bringe meine Frau in den Bunker. Das Essen und Brot, das an uns Männer verteilt wird, teilen wir mit den Frauen. Abends Wache. Später noch einmal zur Wohnung, die Nachbarn begrüßt und die Stiefel gewechselt. Nachts einige Stunden neben meiner Frau sitzend geschlafen, ihren Kopf an meiner Schulter. Und über allem die bange Frage: Was bringt der Morgen?

Abends kommt der Arzt noch und bemüht sich um die Verletzten im Sanitätsbunker. Alle Männer müssen jetzt auch im Bunker bleiben.


23. April 1945

Es brennt überall. Das Feuer der großen und kleinen Geschütze hämmert Tag und Nacht. Die deutschen Geschütze auf dem Gelände der Firma Schering schweigen. Die Parteigenossen und ihr Klüngel betrügen uns auch jetzt noch um die von der Firma ausgegebenen Sachen wie Zigaretten, Streichhölzer, Kerzen, Zigarren, Tabak und Sekt. Den Sekt bekommen unsere Frauen nur zu sehen und von allen eben ausgeführten Dingen, die wir ja auch bekommen haben, nehmen sie sich mehr. Auch die größten Fleischportionen.

Während sich das Artilleriefeuer weiter nach der Stadtmitte und auch nach Südwesten verlagert, pfeifen abends die Flinten- und MG-Kugeln über den Hof und prallen an den Bunkertüren ab. Vier Parteimänner mit schlechtem Gewissen verlieren die Nerven und flüchten. Und unser Betriebsführer und sein junger Stellvertreter leiden Seelenqualen und sind im Gesicht grau wie Asche. Meine Frau und ich sind tapfer und guten Mutes. Es kann nur noch Stunden dauern und alles ist vorüber. Die Nacht vergeht bei Dunkelheit, schlechter Luft und unruhigen Frauen und Kindern. Draußen schweres Artillerie-, Werfer- und Infanteriefeuer.


24. April 1945

Gegen 9 Uhr vormittags übernimmt ein russischer Offizier mit einer Abteilung Soldaten das Werk vom Betriebsführer und läßt uns Männer nach der Durchsuchung nach Waffen frei. Wir gehen zu unseren ängstlichen Frauen zurück, nehmen unser Gepäck und gehen durch die mehr oder weniger zerstörten Straßen in unsere Wohnungen.

Unser Krieg ist Gott sei Dank vorbei. Niemand hat uns etwas getan und genommen. Mit dem Frühling kommt die Hoffnung wieder auf Arbeit, Ruhe und Frieden. Wir haben es immer gewußt, wie man uns belogen hat.


25. April 1945

Goebbels soll sich erschossen haben. Das Schicksal nehme seinen Lauf und finde alle Schuldigen.


27. April 1945

In Adlershof haben sich in den letzten beiden Tagen nach Aussagen des Stadtrats 45 Personen das Leben genommen. Meistens handelt es sich um Frauen. Wen ein Unglück traf, der muß stark sein, der liebe Tote, den wir verloren, will unseren Tod nicht. Und wer niemand verlor und ein reines Gewissen hat, wer nicht Faschist war und keiner Partei angehörte, wer unschuldig ist am Krieg, wer nur gearbeitet und gelitten hat, wer die Sippenwirtschaft in Fabriken, Wohnhäusern und Luftschutzkellern erlebte, wer schweigend und hungernd diesen politisch unreifen Stümpern zugesehen hat und ihren Mangel an Organisation und ihre menschenunwürdige Behandlung um seiner Frau und des eigenen Lebens wegen bis zum letzten Augenblicke ertrug, der braucht sein Leben jetzt nicht freiwillig wegwerfen. Aber die gutgenährten, ewig reisenden, nicht arbeitenden, gutgekleideten Frauen der Parteigenossen werden jetzt arbeiten müssen und ihre Kinder mit ihren Händen ernähren. Die Lasten und Opfer der des Krieges trugen ja die Nichtparteigenossen, die rein und makellos die besseren Deutschen waren und die sich vor dem Sieger nicht schämen brauchen.

Deshalb lasse man sie ruhig sterben und in ihr tausendjähriges Reich eingehen. Damit machen sie nichts gut, nicht einen Seufzer hinter den Gittern der Konzentrationslager. Sie waren, verfallen dem eigenen Wohlleben, erbitterte Feinde der Wahrheit, die im Blütenreigen des Frühlings hart und unerbittlich an ihre Tür klopfte.


28. April 1945

Russische Soldaten begraben ihre tote Kameraden auf dem Marktplatz in Adlershof, in der Nähe des mit einem Löwenkopf verzierten Brunnens, vor dem auf einem kleinen Beet Frühlingsblumen blühen. Im Ort selbst ist die Ruhe wieder eingekehrt, Im Stadtkern von Berlin kämpft die SS und wohl auch Soldaten den letzten, hoffnungslosen Kampf. Die russischen Geschütze, Werfer, Panzer und Flieger evakuieren die Zivilbevölkerung und legen die betreffenden Stadtteile in Trümmer.

Durch diesen sinnlosen Widerstand wird die Blutschuld nur größer und das Leid unschuldiger Bewohner schwerer, die vollkommen zerstörte Stadt ein einziger Trümmerhaufen und der Arbeiter seines so oft neu erkämpften Obdachs und seiner letzten Habe beraubt. Das war immer ihr Sozialismus.

Wenn etwas selbst an sie herantrat, dann mußten es die Unschuldigen büßen. Aber diesmal gibt es keinen Ausweg mehr, den haben sich die größenwahnsinnigen, arroganten Mordbuben der SS selbst verlegt. Sie haben mit einem gutgeführten, kriegserfahrenen Gegner, der auf das beste ausgerüstet ist, und nicht mit dem wehrlosen deutschen Volk zu tun, von dem man nach Belieben jeden bei Nacht und Nebel verschwinden ließ, der unter Außerachtlassung aller Vorsicht einmal die Wahrheit sagte und meistens prompt verraten wurde. Was auch kommen möge, als Mensch fühle ich mich frei und sehe der Zukunft zuversichtlich entgegen, wenn wir in den ersten Tagen auch hungern müssen, wie wir es ja schon lange tun.

Nach der Besetzung von Adlershof wurden die Schlächter- und Bäckerläden, Lebensmittelgeschäfte und Keller von der tagelang hungernden deutschen Bevölkerung geplündert. Alle Geschäfte waren mit Lebensmitteln vollgestopft, in den Kellern lagerten große Mengen Weine, Schnaps und Schokolade. Wann hat eine brave deutsche Frau einmal ein Stückchen Schokolade gesehen? Man bekam selbst auf die Marken die so bitter benötigten Lebensmittel nicht für einen einzigen Tag voraus.

Die Herren der Partei und die Geschäftsleute sahen gutgenährt aus. Sie hatten es nicht nötig, nach einer Zigarette zu betteln nach langer Tag- und Nachtarbeit.


8. Mai 1945

Meine Frau und ich wandern über Schöneweide und Treptow nach Berlin-Stralau. Es waren viele Gräber am Wege und Bewohner eines Hauses begruben ihre Toten in einer offenen, selbstgezimmerten Kiste im Vorgarten an der Straße. Was sonst von Bomben nicht zerstört war, war von Granaten getroffen. Ein furchtbares, trauriges Bild. Wie sinnlos, gewissenlos und verbrecherisch war dieser Widerstand. Die russischen Armeen hatten von Stalingrad bis Frankfurt a.d. Oder doch bewiesen, daß es für sie bei aller Tapferkeit des deutschen Soldaten, der übermüdet, verbittert und ohne Hoffnung war, nur noch ein Vorwärts gab.

Der Mai hat ein grünes, blühendes, buntes Band um die tote Stadt geschlungen. In den Trümmern ist der Waffenlärm verstummt und der Frühlingssturm verjagt den Geruch von Brand, Verwesung und Vergänglichkeit. Er streichelt die Stirne der noch unbegrabenen Toten, mögen es Soldaten, Männer, Frauen, Mädchen oder Kinder sein. Er fegt über zerstörte Stadtteile hinweg, heult in den Ruinen der Häuser, in denen es kein Leben mehr gibt und peitscht den Staub auf in den von Granaten zerrissenen Straßen. Die Sonne leuchtet unbestechlich auf alle Stätten des Grauens nieder, auf ausgebrannte Straßen, auf Häuserreste, welche den Wanderer stundenlang links und rechts begleiten, sieht in tiefe Bombenkrater in große Schulen, Theater, Banken und Warenhäuser, in Paläste, Ministerien, Villen, Geschäfte und die kleine Hütte, aus Holz am Rande der Stadt, erbaut von dem kleinen Werktätigen, der hier mit seinen Lieben Frieden und Erholung suchte.

Sie streichelt die schimmernden Stahlhelme auf den Kreuzen der deutschen Soldatengräber am Wege und läßt den roten Stern leuchten, der auf einer Säule ruht als letzten Gruß für die russischen Toten. Wieviel Tausend schlafen unter den Trümmern, liegen verendet in Bunkern und Kellern? Denn es gibt keinen Sarg, keine Totenfeier und keinen Leichenwagen mehr. Wer einen Handwagen hat, bringt den lieben Toten selbst zum Friedhof, wenn es nicht zu weit ist.

Es ist still geworden in uns, in so vielen Menschen, die sich frei fühlen von jeder Schuld an dieser großen, einmaligen Tragödie. Wir haben es gewußt; alles haben wir gewußt vom stillen Mord an den Gerechten, von der Arroganz und Überheblichkeit, von der Wertlosigkeit der vielen Mitläufer, von den Dieben und Schmarotzern in leitenden Stellungen, von der jämmerlichen Verräterseele des Käuflichen bis zur käuflichen Schauspielerin und dem nadelgeschmückten Stümpern auf den höchsten geistigen, künstlerischen und kulturellen Stellen.

Wir haben Viehwagen vorüberfahren sehen, hinter deren mit Eisenstangen und Stacheldraht vergitterten Luftklappen die todesblassen Gesichter gefangener Juden vorüber rollten in den sicheren Tod und mußten schweigen, um unser Leben, um das arme Leben zu behalten.

Wir haben arbeiten müssen über alle Kraft, wir haben gehungert und gefroren, wir sind ausgebombt und mit dem Rest unserer Habe umgezogen.

Was taten sie im letzten Kampf um Berlin? Was taten die letzten Kämpfer der SS? Möge es die Nachwelt nicht vergessen. Sie vertrieben mit Flammenwerfern Frauen und Kinder aus den Bunkern, um selber darin kämpfen zu können. Sie richteten an der Kantstraße ein Auffangkommando ein und hingen hier einzelne Soldaten an der Straße auf, die den hoffnungslosen Kampf abgebrochen hatten.

Eines der traurigsten Kapitel deutscher Kriegsführung ist das Verhalten der SS bei den Kämpfen um den Alexanderplatz. Das zerstörte Polizeipräsidium, das Warenhaus Tietz, von dem der gewaltige Unterbau noch stand, der Bahnhof und die U-Bahn mit den umliegenden Häusern waren noch nach tagelangen erbitterten Kämpfen in den Händen der SS. Ganz in der Nähe aber an der Kirche liegt ein gewaltiger Tiefbunker, in welchem 2.000 Menschen Schutz gesucht hatten. Der Bunker hatte eine Entbindungsstation, Sanitätsräume für Verwundete usw. und war überfüllt.

Acht Tage lang hatte der Kampf getobt. Mit Fliegerbomben hatte es angefangen, nun war der Ring um die Belagerten geschlossen. Es gab keine Lebensmittel, kein Licht, kein Wasser und kein Verbandszeug mehr. Männer, Frauen und noch mehr Kinder starben. Verwundete starben, Mütter starben bei oder nach der Geburt. Die Toiletten fließen nicht mehr ab, Verwesungsgeruch macht sich bemerkbar, wird unerträglich. Der Arzt sieht keinen Ausweg mehr, er befürchtet den Ausbruch von Typhus und befiehlt, die weiße Flagge zu hissen. Als der Bunkerwart die Flagge hißt, kommt ein SS-Kommando und befiehlt dem Bunkerrat bei Androhung sofortiger Erschießung, die weiße Flagge einzuziehen, was der Mann auch tut.

In der Nacht versuchen einige hundert Männer und Frauen aus dem Bunker zu entfliehen, sie werden von der SS mit Maschinengewehren zusammengeschossen. Da wagen es die übrigen nicht mehr, ergeben sich in ihr Schicksal.

Das ist das Ende vom "totalen Krieg". Verkündet von einem Scharlatan, der ein Staatsmann sein wollte und bejubelt von einer Schar Auserwählter, die, satt und geborgen, eingeschläfert vom Wohlleben, damals noch nicht ahnten, daß der totale Krieg den Drücker von der Tür zu ihrem Leben schon in der Hand hielt.

lo