> Kriegserinnerungen des Matrosen Helmut Heidbrink (2): "Man will doch etwas sehen von der Welt."

Kriegserinnerungen des Matrosen Helmut Heidbrink (2): "... man freut sich immer, wenn es wieder woanders hingeht. Man will doch etwas sehen von der Welt."

Dieser Eintrag stammt von Renate Nicklisch aus Hamburg, 2015

 

Einführung zu den Kriegserinnerungen des Matrosen Helmut Heidbrink (1923-1944)
      
Ich bin Jahrgang 1944 und die Nichte des Verfassers. Den Krieg kenne ich, wie viele meines Jahrgangs somit nur aus Erzählungen der Eltern (wenn sie denn darüber gesprochen haben) und später aus Filmen und Dokumentationen. In der Schule sind wir im Geschichtsunterricht bis zum 2. Weltkrieg nicht vorgedrungen und so kam das Interesse bei mir erst sehr viel später auf.
Durch meine Mutter, die nun mit ihren 90 Jahren anfängt in ihren Schubladen aufzuräumen, kam ich in den Besitz der Tagebücher meines Onkels. Beim Durchlesen festigte sich in  mir der Gedanke, dass man solche Aufzeichnungen nicht einfach in der Versenkung verschwinden lassen sollte. Auch für unsere Kinder und Enkelkinder müssen wir die Erinnerung an die deutsche Geschichte bewahren.
Ich weiß, es gibt schon sehr viele geschriebene und veröffentliche Tagebücher. Jedes für sich ist ein privates Zeitzeugnis. Das ist gelebte Geschichte, die nach dem Lesen mit Sicherheit im Gedächtnis bleibt.
Auch haben mich diese Aufzeichnungen selbst dazu gebracht, in der Zentralbibliothek und im Internet zu recherchieren, inwieweit sie mit dem Geschriebenen identisch sind.
Für mich war es eine spannende Sache, in die Vergangenheit einzutauchen.
In dem Werk VERDAMMTE SEE (Ein Kriegstagebuch der deutschen Marine) von
Cajus Bekker fand ich viele Ausführungen bestätigt.
Wichtig war mir auch aufzuzeigen, wie euphorisch die jungen Männer in die Ausbildung zum Soldat der deutschen Wehrmacht gegangen sind und an den Sieg geglaubt haben. Vielleicht haben sie auch letztendlich geahnt, dass sie den Frieden nicht mehr miterleben werden.
Die Tagebücher sind bis auf wenige Ausnahmen wortgetreu und nur durch wenige Änderungen in der Rechtschreibung übernommen worden.

Kriegserinnerungen des Matrosen Helmut Heidbrink
Begonnen mit dem Eintritt in die deutsche Wehrmacht am 30. November 1941

11. Jan. 1942

Ich bin seit gestern in einer anderen Kaserne. Etwa ¼ Std. von der alten Kaserne
entfernt. Mit 8 Mann auf der Stube. Es ist hier viel gemütlicher. Nur unsere alte
Stube ist versetzt worden. Das ist geschehen wegen Ansteckungsgefahr von
Krankheiten, welche einige Leute bekommen hatten. Unsere Stube war nun der
Krankheit verdächtig u. deshalb sind wir für 11 – 15 Tage von der Truppe isoliert.
Ausgang ist gesperrt. Innerhalb 1 Std. musste gestern die Stube geräumt sein.
Mit Sack u. Pack im Dunklen u. der Kälte einer Januarnacht umziehen.
Ich denke, so muß es im Ernstfall sein. Ja, so. – Der Dienst geht weiter. –
Den Umzug u. das daran anschließende „Rein Schiff“ in der neuen Kaserne bis nachts
um 12 vergesse ich so leicht nicht.


16. Jan. 1942

Zum ersten Mal habe ich Nachtwache. Es ist 3 Uhr früh. Ich habe von 2 – 4
auf der U.v.D.-Stube (Unteroffizier vom Dienst) zu wachen. Kann tun was ich will, nur keinen Krach machen und nicht einschlafen.  
In der Kaserne hier habe ich mich schon wieder sehr gut eingelebt, aber es heißt,
dass wir in ein paar Tagen wieder zur alten Kaserne zurück können.
Das ist sehr schade. Hier oben ist es nämlich schöner als unten.
Der Dienst auf dem Kasernenhof hört so langsam auf.
Es geht jetzt mehr ins Gelände. Das ist manchmal sehr fabelhaft.
Mit Gasmaske üben ist augenblicklich an der Reihe.
Auch meine ich, dass der Dienst im Ganzen nicht mehr so streng ist wie am Anfang.
Na, in ein paar Tagen ist die Infanterieausbildung zu Ende. Es geht dann wahrscheinlich
zu den Schulen der einzelnen Laufbahnen. –
Jedenfalls war die Rekrutenzeit für mich bis jetzt ein schöner Teil meines Lebens.
 
Auch, wenn man einige Male bei größter u. schärfster Kälte geschwitzt hat,
so hat man das nach dem Dienst meistens vergessen u. sich gegenseitig
aufgemuntert u. lustig gemacht.


Ede, 28. 1. 42

Seit ein paar Tagen bin ich wieder in unserer Kaserne. Das altbekannte Leben
geht weiter. Wegen des starken Winterwetters ist kaum Außendienst gewesen.
Heute ist Tauwetter. Wir haben einen Ausmarsch mit einer Marschsicherungs-
Übung gemacht. Die Infanterieausbildung ist zu Ende.


1. Febr. 1942

Komme nun dazu, weiter zu schreiben. Am 28. musste ich aus irgendeinem
Grund plötzlich aufhören. Hatte geschrieben, dass die Infanterieausbildung
zu Ende wäre. – Eigentlich ja.
Aber es sind in der Abt. wieder Fälle von ansteckenden Krankheiten vorgekommen,
und zwar dermaßen, dass die ganze Abt. gesperrt ist. Ich bin wieder mit unserer
Gruppe isoliert. Mehrere Gruppen liegen hier noch. Wir sind wieder in der Kaserne, wo wir damals waren. Nur in einem anderen Gebäude.
Der Infanteriedienst geht weiter. Wann Schluß ist, ist fraglich.
Also wieder abwarten.


15. Febr. 1942

Quarantäne beendet. Gott sei Dank. Es war zuletzt wie im Gefängnis.
Nicht mal mehr auf den Hof hinaus durfte man. Von Kantinenbesuch überhaupt
keine Rede. Eigentlich auch verständlich wegen der Ansteckungsgefahr für Andere. Dann der ewige Kresolgestank. Grauenhaft.
Nun bin ich wieder im alten Quartier. Eigentlich müssten wir schon hier sein.
Aber wegen den Krankheiten immer Verlängerung.
Heute kamen sogar schon die neuen Rekruten. Sie mussten wieder nach Hause
geschickt werden. An Land gehen kann man auch hier nicht. Die Abt. ist immer
noch gesperrt.
Alles Mögliche wird immer getan, um keine neuen Krankheitsfälle hervorzurufen.
Vor ein paar Tagen sind wir geimpft worden. In jeden Unterarm eine Spritze.
Untersuchungen finden auch alle paar Tage statt. Möchte wissen, wann das
hier ein Ende nimmt. –
Während wir hier sitzen, braust der Krieg in allen Erdteilen weiter. Luft- u. Seeschlacht
im Kanal. Japan erobert Singapur. Die deutsch-italienischen Streitkräfte stehen
fast wieder an der ägyptischen Grenze. In Rußland toben die grauenhaften
Winterschlachten weiter. –
Das starke Winterwetter hat hier nachgelassen.
Es wurde auch Zeit, denn so langsam wird man Schnee u. Eis doch leid.


21. April 1942

Finde nun Zeit und Muße, meine Eintragungen fortzusetzen. Von den letzten Zeilen
bis hierher hat sich viel ereignet. Zirka 4 Wochen war ich noch in Holland.
Die Zeit war ausgefüllt mit Geländeübungen u. Gefechtsszenen. Das war sehr
amüsant.
Plötzlich u. ganz unerwartet erhielten ein Kumpel u. ich von der Kompanie Bescheid,
dass wir abkommandiert würden. Ich konnte es gar nicht fassen. Als Erster
Holland zu verlassen. In einer herrlichen Frühlingsreise erreichten wir nach
2 Tagen F., die nördlichste Stadt Deutschlands.
Hier waren wir zu einem Kursus gerufen. 5 Wochen hat das gedauert. Das Leben
war dort schön, bloß, man musste sich sehr anstrengen, um alles mitzukriegen.
Habe den Kursus auch mit einer ziemlich guten Note bestanden. Darf deswegen
auch das rote Kursusabzeichen auf dem linken Unterarm tragen.
Bin als J.W.L. nun frontfähig. Nur ist es leider noch nicht soweit.
 Vor einigen Tagen bin ich hierher gekommen. Zur Insel W. (Wangerooge) in der Nordsee im Durchgangslager.
Nach einer sehr schön verlaufenden Fahrt hierher erlebe ich den Frühling,
den heißersehnten Frühling, in diesem schönen Seebad. Blicke nun wie Millionen
spannend in die nächste Zukunft.
Der strengste Winter seit 140 Jahren verlässt so langsam Mittel- u. Osteuropa u. damit auch Rußland, wo unsere Kameraden vom Heer in diesen Monaten grausam vom Schicksal auf ihren wirklichen inneren Wert gewogen worden sind, wie es der Führer sagte.
Wann werden die Feinde fallen? Der Gegner wehrt sich noch, er wartet auf den
Todesstoß. Er will nicht kapitulieren, er hat alles auf eine Karte gesetzt.
Er weiß, worum es geht. Die Vorsehung wird entscheiden. Sie wird so viel Elend,
welches durch diese Staaten in die Welt gesetzt wurde, bringen u. wird nichts
ungesühnt lassen.

7. Juni 1942

Bin gestern vom ersten Heimaturlaub zurückgekehrt. Ja, es kam sehr schnell.
Vater hatte am 13. Mai Genesungsurlaub u. ein Gesuch nach hier gemacht,
damit wir uns mal wieder sähen. Er ist nämlich wieder k.v. geschrieben u. wir wissen
nicht, ob er nicht doch noch zum Einsatz kommt.

Also hieß es plötzlich, ich könnte in Urlaub fahren. Urlaub – welch ein Wort!
Wie oft hatte ich vorher davon geträumt und gefaselt. Nun war es soweit, am 20. Mai.
Eigentlich war ich gar nicht froh, hatte mir nämlich an der rechten Hand eine
Verletzung bei der Arbeit zugezogen und am Kinn hatte sich eine Infektion entwickelt.
Daher schien es mir auch gar nicht so außergewöhnlich, dass ich in Urlaub fahren konnte. Es schien mir einfach selbstverständlich.
Hatte nun bis Hamm gute Eisenbahnverbindung.
Mußte dort 5 Std. warten. Bin solange ins Soldatenheim gegangen. Im Morgengrauen
des 21. Mai ging’s weiter. Dann war ich in meiner Heimatstadt Hagen angelangt.
Es kommt mir alles so komisch vor. Ich warte auf die Straßenbahn. Die Straßen
scheinen mir so eng. Menschen gehen zur Arbeit und sehen mich an oder meine ich das nur. Da kommt die Bahn. Ich fahre in mein Wohnviertel.
Ich stehe vor der Tür meiner Eltern. Sie wissen nicht, dass ich komme. Ich klingele
3 – 4 Mal. Es wird nicht geöffnet. Sie schlafen noch. Jemand kommt die Treppe hinauf. Es ist meine Schwester. Sie kommt vom Nachtdienst. Sie ist platt. Nun gehen wir in die Wohnung. Sie weckt Eltern u. Bruder. Freudig, feierliche Begrüßung. Ich packe mein Paket aus. Etwas Frischgemüse u. Gewürz, welches ich dort oben kaufen konnte, ist Mutter willkommen, denn so etwas ist sehr knapp. Wir trinken Kaffee und erzählen
uns viel.
Die ersten Tage verbringe ich im Bett. Das Geschwür ist so schlimm geworden, dass ich richtig krank bin. Dann aber geht’s wieder.
Ich besuche Verwandte u. Bekannte. Leider regnet es die ganze erste Woche, auch Pfingsten. Gehe mit den Eltern oder meinem Freund Gregor oft ins Kino. Dann wird das Wetter herrlich u. sommerlich. Schlafe mich aus, gehe spazieren.

Weil es so klares Wetter ist, beginnt eines Nachts Fliegeralarm. Sogar mehrmals am
Tage. Es bleibt dann jedoch ruhig. Dagegen nachts ein Inferno vom Getöse der Flak.
Mehrmals kommen feindliche Flieger im Scheinwerferkegel. Oft sehe ich Flugzeuge brennend in die Tiefe stürzen. Gleich riesigen Fackeln stehen u. fallen sie
über dem Ruhrgebiet.
In dieser Zeit fallen die Terrorangriffe der Briten gegen Köln u. andere Städte. Sie wollen damit die zweite Front aufstellen. Es wird ihnen nicht glücken. Sie mussten mit hohen Verlusten bezahlen.
Nachdem ich nun dieses Alles in der Heimat u. auch noch andere Nöte gesehen habe,
weiß ich erst recht, warum wir eingezogen sind; um unser Volk u. die Angehörigen
von dieser Lage zu befreien. Von diesem Piratentum.


8. Juni 1942

Weiter sei noch zu erwähnen, dass ich meinen Arbeitgeber besuchte. Ein reichliches
Geldgeschenk wurde mir zuteil. –
Dann war plötzlich der Tag der Rückreise gekommen. Allzuschnell  waren die schönen
Tage vorbei.

Nun bin ich wieder hier. Es geht alles wie bisher.

Gestern traf ich zum ersten Mal mit einem Kameraden von Holland aus der Rekrutenkompanie zusammen. Es wären noch einige Kameraden hier, sagte er. So trifft man ab u. zu alte Bekannte wieder.
Ich nenne so etwas Schicksal. Bin nun gespannt, wie das Schicksal in Zukunft mit mir
spielen wird. Ja, alles ist nur ein Spiel. Das ganze Leben eines Menschen bis zu seinem
Tod. Und ist er tot, so kommen neue. Sie setzen das Spiel fort. Unendlich…….


7. Juli 1942

Schreibe wohl heute das letzte Mal hier auf Wangerooge in dieses Buch.
Komme mit vielen Kameraden übermorgen nach F.  Was es dort gibt, ist nicht bekannt.
Ist egal. Freue mich jedenfalls, von hier fortzukommen. Denn es war hier zu einsam,
obwohl wir in den letzten heißen Sommertagen in der Nordsee baden konnten.
Aber man freut sich immer, wenn es wieder woanders hingeht. Man will doch etwas
sehen von der Welt. Und das ist das Schönste bei der Kriegsmarine, alle paar Monate ein neues Kommando.
Bin nun gespannt, ob es bald an den Feind geht. Also immer noch abwarten.
Der Krieg ist trotz großer Siege in den letzten Wochen noch nicht am Ende.


15. Juli 1942

Seit dem 10. bin ich nun wieder hier in Flensburg auf der T.S.  (Anm.: Torpedoschule)
Jedoch aber auch im Durchgang. Bis jetzt ist noch kein fester Dienst gemacht worden,
soll jedoch noch kommen. Als wir hier anlangten, wusste man nicht, was man mit uns
anfangen sollte. Na, ich hoffe jetzt, dass wir nicht so lange hier bleiben. Vielleicht geht’s bald irgendwohin, wo mehr los ist. Die Fahrt nach hier verlief soweit ganz gut.
Am 9.7. war um 5 Uhr Wecken, nachdem wir kurz vorher noch einen schönen
Fliegeralarm hatten und es mächtig gebumst hat.

Dann ging die Fahrt gegen 7 Uhr los.
Die Überfahrt zum Festland war schön und ruhig. Auf der Küstenstation bekamen wir
einen extra Waggon, einen holländischen 3. Klasse (Sitze alle gepolstert).
In der einen Hälfte verstauten wir die Seesäcke, weil in diesem Teil die Fensterscheiben fehlten, welche in der vorhergehenden Nacht durch eine Bombe herausgeflogen sind. Wir stiegen ein und ab ging’s durchs schöne Fries- u. Oldenburgerland. An einigen Orten hatten wir längeren Aufenthalt. Überall sind die Spuren des sinnlosen Krieges, den England gegen die Bevölkerung herauf beschworen hat, zu sehen. Ausgebrannte Häuser, abgedeckte Dächer, Bombentrichter in Feldern u. Äcker. Militärische Anlagen sind tatsächlich selten oder gar nicht beschädigt. Hier und da sieht man Haufen Hunderter  Brandbomben, die nicht gezündet haben, und die man zur Entschärfung gesammelt hat. –

Gegen Abend kommen wir nach Bremen. Eine Stunde Aufenthalt haben wir. Sie wird dazu genutzt, uns Bremen anzusehen. Auch hier das gleiche Bild.
An einigen Stellen zerstörte Wohnhäuser friedlicher Bürger, Frauen u. Kinder. Bremen ist an und für sich eine sehr schöne Stadt; mir jedenfalls hat es von der baulichen Seite aus gesehen sehr gut gefallen. Das Rathaus, der Dom, die alten Giebelfassaden der Kaufmannshäuser und –speicher usw. Schade, dass wir so wenig Zeit hatten.
 
Dann muß ich noch erwähnen, dass Jupp N. u. ich kurz vor der Abfahrt in eine Kellerwirtschaft gingen u. ein Stammgericht ohne Eßmarken verzehrten. Dieses wäre uns beinahe zum Verhängnis geworden, denn als wir am Bahnhof ankamen, sind die Kameraden samt Transportführer schon zum Bahnsteig. Da wir nun weiter keine Ausweise haben, will uns die Streife nicht durchlassen. Nach längerem Bitten und Flehen bemüht sich doch ein Posten, die Richtigkeit unseres Flehens zu kontrollieren. Mit Mühe und Not erreichen wir beide den Zug. Nun geht’s weiter. Die ganze Nacht durch, bis wir glücklich um 6 Uhr hier in F. anlangen. –
Nun sitze ich hier wieder auf derselben U.v.D.-Stube wie damals beim Kursus und habe M.v.D. (Maat v. Dienst). Untergebracht bin ich auch wieder in der Maaskaserne, nur eine andere Stube.
Muß nun jetzt wieder warten der Dinge, die da kommen sollen.

 

 

 

          

                                       

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