> Kurt Elfering: Bahnfahrten um 1930

Kurt Elfering: Bahnfahrten um 1930

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (1922-2014) aus Schwerte, Mai 2011:

Als Kind wuchs ich in Schüren im Ruhrgebiet auf. Das Leben für ein Kind in der damaligen Zeit war schon sehr aufregend. Es war immer etwas los. Zum Beispiel gab es das Abenteuer Eisenbahn. Mein Onkel und meine Tante wohnten in Langschede. Zu besonderen Anlässen oder auch zwischendurch machten wir Familienbesuche. Die waren für mich atemberaubend. Zu Fuß ging es zum Aplerbecker Südbahnhof, dann mit dem Zug nach Schwerte. Wenn die Lokomotive zischend und dampfend auf dem Bahnhof ankam, war das schon ein Wunder für sich. Wenn der Zug stand, begann die Einsteigerei. "Einsteigen und die Türen schließen" war die letzte Mahnung. Dann hob der Bahnhofsvorsteher die Kelle, und der Zug setzte sich schnaufend in Bewegung.

Die Telegrafendrähte tanzten an den Fenstern auf und ab, und wir durchführen den Aplerbecker Wald. Jetzt kam die nächste Sensation. Durch einen Tunnel fuhren wir Schwerte entgegen und erreichten zischend und dampfend den Schwerter Bahnhof. Hier musste umgestiegen werden, und unter dem Eindruck der großen weiten Welt erlebte ich das Eisenbahngeschehen auf dem damaligen großen Umsteigebahnhof "Schwerte Hauptbahnhof". Für zehn Pfennige konnte ich mir immer dann am Automaten auf dem Bahnhof gebrannte Mandeln ziehen.

Endlich kam unser Zug, der uns nach Langschede bringen sollte. Zischend hielt er vor uns, und die Einsteigerei begann wieder. Die Türen knallten, und schon ging es weiter. Der Schaffner erschien und kontrollierte die Billetts. Da die Personenwagen damals noch am Wagen entlang Trittbretter hatten, wanderte der Schaffner während der Fahrt von Abteil zu Abteil. In Schwerte Ost und in Geisecke wurde noch einmal gehalten, und dann kam Langschede. Jetzt hatten wir noch ein paar Minuten zu laufen, und dann waren wir da. Am Abend lief das gleiche Theater rückwärts ab, und ein internationaler Reisetag war beendet.

Heute ist Langschede mit der Eisenbahn nicht mehr erreichbar. Der Zug von Schwerte hat seine erste Haltestation in Fröndenberg. Alle Zwischenbahnhöfe sind stillgelegt, weil sie sich nicht mehr "rechnen".

Die Städte des Ruhrgebietes waren damals mit der Eisenbahn untereinander total vernetzt. Es gab den sogenannten Ruhrschnellverkehr. Diese Züge waren besonders gekennzeichnet und sorgten für die schnellsten Verbindungen unter den Städten. Sie hielten auch an allen Vorortbahnhöfen und kleineren Gemeinden. Wenn mal ein Zug verpasst wurde, nahm man eben den nächsten Zug. Wie das alles ohne Computer funktionierte, ist heute unbegreifbar. Alle Züge standen im Kursbuch mit den entsprechenden Abfahrtszeiten.

Heue weiß fast kein Mensch mehr, was ein Kursbuch eigentlich war. In diesem Buch waren alle Züge des Personenverkehrs erfasst. Es gab regionale Kursbücher und ein überregionales für das gesamte Reichsgebiet. Für uns hier war das Buch für Rheinland/Westfalen zuständig. Im vorderen Bereich waren aber alle Fernstrecken der Reichsbahn mit allen D-Schnellzügen und Eilzügen einschließlich Ankunfts- und Abfahrtszeiten untergebracht. Im Hauptbereich waren alle weiteren Züge des Bereiches Rheinland/Westfalen aufgeführt. Beiliegend in den Büchern war eine große nummerierte Eisenbahn - Streckenübersicht. Die Strecke Bielefeld-Köln z. B. hatte die Nr. 217. Wenn ich jetzt die Seite mit der Nr. 217 aufschlug, hatte ich die ganze Strecke mit allen Bahnhöfen und Abfahrtzeiten offen vor mir liegen. Das war im Grunde sehr einfach, aber leider kamen viele Reisende mit diese Lektüre nicht klar. Diese Bücher waren aber spannend wie ein Krimi.

Wenn ich dann mal am Dortmunder Hauptbahnhof war, machte ich des öfteren eine Bahnhofsbesichtigung. Jeder größere Bahnhof hatte sein eigenes Innenleben. Es fing schon in der Bahnhofshalle an. Wenn man sie betrat, war man von der großen weiten Welt eingefangen. Rechts waren Fahrkartenschalter, links die Gepäckschalter. Die Wartesäle 1. und 2. Klasse brachten optisch Ruhe in das Geschehen. Es fehlte auch nicht der Bahnhofsfriseur. Ein Postkarten- und ein Zeitschriftenstand belebten ebenfalls die Halle. Was auch nicht fehlte, waren eine kleine Bahnhofsschenke und ein kleiner Verpflegungs- und Getränkeladen. Ein Bahnbeamter stand als Auskunftsberater ebenfalls zur Verfügung. Da es damals noch eine Bahnpolizei gab, sorgten zwei Bahnpolizisten für Sicherheit und Ordnung. Damals waren Bahnhöfe noch Anziehungspunkte und Repräsentationsgebäude einer Stadt.

Eine Bahnsteigkarte konnte man für zehn Pfennige am Automaten ziehen und hatte damit die Genehmigung, die Bahnsteige zu betreten. Wollte man eine Reise tun und eine Fahrkarte kaufen, begab man sich zum Fahrkartenschalter und löste ein Billett. Zum Beispiel nach Bremen. Obwohl es noch keine Computer gab, ging es ganz fix. An einer großen Trommel wurde gedreht, dann ein Schieber mit einem Zeiger auf Bremen gestellt. Nachdem ein kräftiger Hebel betätigt wurde, fiel die Fahrkarte in eine Wanne. Eine kleine, gut unterzubringende Fahrkarte bekam man dann für sein Geld ausgehändigt.

Heute bekommt man mit viel Getue am Computer ein Riesenformular eines Fahrscheines mitsamt einer Schutzhülle überreicht, welche man nirgendwo unterbringen kann. Das Ding passt weder in eine Brieftasche noch in eine Geldbörse. Es hat einfach kein Format. Das oben genannte kleine Billett landete meistens in der kleinen Westentasche, und dann ging es zu den Bahnsteigen. Vorher musste man aber noch durch die Sperre. Hier wurde die Fahrkarte geknipst, und man war erst jetzt berechtigt, zu den Bahnsteigen zu eilen. Ein langer, gut ausgebauter Tunnel führte unter dem Bahngelände bis zum Nordausgang. Von diesem Tunnel gingen rechts und links die Treppen zu den jeweiligen Bahnsteigen hoch. Da damals alle naselang irgendein Zug den Bahnhof verließ oder auch einfuhr, war immer etwas los. Auf dem anderen Gleis war soeben der Zug aus Braunschweig eingetroffen, und es begann ein großes Gerenne. Zeitungs- und Würstchenverkäufer liefen am Zug hin und her und priesen ihre Waren an. Ebenso boten Kofferträger ihre Dienste an. Elektro-Paketkarren fuhren zu den Gepäckwagen, um die Fracht hin- und herzuladen.

Ein Bahnmann mit der Auskunftsmütze bewegte sich auf dem Bahnsteig und stand für Auskünfte jeglicher Art zur Verfügung. Meistens wusste er auch alles. Wenn nicht, blätterte er dreimal im Kursbuch, und schon herrschte Klarheit. Der soeben eingefahrene Zug wurde wieder zur Weiterfahrt nach Aachen klargemacht. Der Lautsprecher forderte die Fahrgäste auf, einzusteigen und die Türen zu schließen. Der Bahnsteigaufseher hob seine grüne Kelle, und zischend setzte sich der Zug in Bewegung. Die Schilder für den Aachener Zug wurden wieder in die Stellage eingeschoben und die Anzeigeschilder für den nächsten Zug wieder herausgezogen.

Auf der anderen Seite des Bahnsteiges wurde der Zug nach Bremen angemeldet. "Es hat Einfahrt der D-Zug nach Bremen. Von der Bahnsteigkante zurücktreten!"- usw. Zischend fuhr er an der Bahnsteigkante entlang und kam quietschend zum Stehen. Ein D-Zug sah damals ganz anders aus als heute. Vorne war eine Riesenlok, ein schnaufendes und dampfendes Kraftpaket mit zwei Meter hohen Rädern, und einen riesengroßen Kohlentender hinter sich herschleppend. Die Wagen waren längst nicht so komfortabel wie heute. Es gab noch die dritte Klasse mit unangenehmen Holzbänken, die zweite Klasse schon besser mit gepolsterten Bänken und Rückenlehnen. Bei der ersten Klasse war es schon der reinste Luxus. Eine Bank hatte drei gepolsterte Sitze mit Rückenlehnen. Außerdem war das Abteil auch etwas breiter, und man hatte dadurch mehr Beinfreiheit. Es war die Eleganz der Zwanziger Jahre.

Die einzelnen Wagen waren mit Harmonikabälgen miteinander verbunden, die über die Puffer zum anderen Wagen führten. Hierdurch konnte man über einige Wagen zum Speisewagen gelangen, der sich etwa in der Mitte des Zuges befand. Ein Speisewagen war damals ein Luxusrestaurant auf Rädern. Ein Speisewagenkellner schritt mit einem Gong durch alle Gänge des Zuges und tat kund, dass man zum Mittagessen im Speisewagen Platz nehmen könne.

Am Ende des Zuges waren immer ein oder zwei Gepäck- bzw. Postwagen. Was damals auch noch wichtig war, waren die Kurswagen. Ein D-Zug von Dortmund nach Basel hatte z. B. zwei Kurswagen dabei. Einer ging nach Trier und ein zweiter nach Konstanz. Der Wagen nach Trier wurde in Koblenz abgekoppelt und an einen Trierer Zug angehängt. Der Wagen nach Konstanz wurde in Offenburg umgekoppelt. Die Fahrgäste, die von Dortmund nach Trier wollten, stiegen gleich in den Trierer Kurswagen und brauchten nicht umzusteigen. Ebenso machten es die Fahrgäste nach Konstanz. Diese Kurswagen waren extra gekennzeichnet. Das Kurswagensystem war früher für Fernreisende eine bequeme Angelegenheit.

Heute ist das ganze Bahngeschehen eine nüchterne und nackte Angelegenheit. Die Bahnhöfe sind reine Zweckbauten. Die ehemalige Romantik ist den Rechenmaschinen zum Opfer gefallen. Ruhestand ist teuer, und darum halten die Züge heute nicht länger als zwei Minuten.

lo