> Kurt Kämpf: Kriegsende in Pankow

Kurt Kämpf: Kriegsende in Pankow

Dieser Eintrag stammt von von Kurt Kämpf (1903-1994) aus Berlin:

Tagebuchaufzeichnungen von Kurt Kämpf: 20. April 1945 bis 29. Juni 1945
Eingereicht von Gudrun Kämpf, Hamburg, Juli 2011
(Übertragung aus dem Original mit geglätteter Rechtschreibung,in Klammern gesetzten Erklärungen und Satzzeichen im März 1997 von Helmut Kämpf.Geschweifte Klammern {...} bezeichnen Klammern, die auch im Original stehen).

/lemo/bestand/objekt/kaempf001 20.4. abends zwischen 7 und 9 Uhr war der erste Artilleriebeschuss auf Pankow, ca. 8 Schuss. Vormittags war ich noch in Karow bei Frl. Knorr und habe Geschirr vergraben. Abends war Karow schon russisch. Mittags bin ich ins Werk gefahren, essen. ARGUS glich einem Heerlager. Abends machte ich mir im Keller mein Nachtlager zurecht und schlief trotz mäßigem Geschieße einigermaßen. Der Russe soll in Blankenburg sein.

21.4. Sonnabend bin ich mit dem Rad nach Birkenwerder gefahren und habe hinter dem Kreuz (am Grabe der ersten Frau Charlotte Reincke) das Tagebuch vergraben. Als ich auf dem Friedhof war, haben russische Flieger mit Bordwaffen geschossen - nicht auf uns. Auf dem Zurückweg habe ich im Dorf Flüchtlinge aus Kiehnwerder (im Oderbruch) getroffen. Bauer Schmidt sein Gehöft in Ernsthof ist schon abgebrannt. Nachmittag fuhr ich zum Güterbahnhof Schönhausen (heute Pankow) und habe unter Fliegerbeschuss Kartoffeln organisiert. Da habe ich auch die ersten Toten gesehen. Der Russe war in Heinersdorf.

22.4. Sonntag. Die Geschäfte mussten offen haben. Unter starkem Beschuss. Die Leute standen im Hausflur an, auf der Straße war es zu gefährlich. Als ich am Nachmittag in unserem Keller aß, schlugen vor Mühlenstr. 20 vier Bomben ganz dicht beieinander ein. Es war ein wüstes Durcheinander. Bei uns ist alles entzwei. Mit Bangen schlief ich in unserem Keller. Der Russe war bis Schönhausen. Wir haben im Laden organisiert noch und noch.

23.4. Montag. Überall zerstörte die Artillerie die Wohnhäuser. Der Russe war in der Berliner Str. und wollte mit dem Panzer die Florastr. zu uns zufahren, da er durch die Panzersperre unter der Mühlenbrücke nicht durchkam. Es war nun das erste Mal Panzerbeschuss. Ein Kollege backte in Fr. Leßles zerstörter Küche (Parterre rechts) eine Unmasse Eierkuchen. Ich machte mir ein Weckglas auf, Kartoffeln zu. Hinterher Eierkuchen. Ich war zum Platzen voll. Der Panzer war bis Grunowstr. und ging wieder zurück.

24.4 nachts zum 24.4. Ich legte mich hin und beschäftigte mich mit dem Gedanken, ob es wahr sein könnte, dass zwischen Russland und Amerika-England die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind ??? Bei Einbruch des Abends: Panzergeräusch. Er kam wieder die Florastr. hoch bis Ecke Mühlen. Schoss tüchtig, drehte, fuhr die Mühlen lang bei uns vorbei. Keiner schoss ihn ab. Das Aas kam wieder, fuhr die Florastr. lang und brachte Infanterie mit. Ich hörte die Kommandos des "Uräh" schräg über die Ecke. Gegen Morgen war alles bei uns feindfrei. Es kamen viel Truppen.

24.4. Ich habe die Hausdurchbrüche durchschlagen (vorgeschriebene Fluchtmöglichkeit bei Bombenschaden). Wir haben Wasser aus den Wohnungen aus den Eimern (Löschwasser) geholt. Es wurde rationiert, denn es ist schon 3 Tage keins zu kriegen. Gegen Mittag kamen Frauen und Kinder und erzählten Greuel von den Russen, die die Keller kontrolliert haben. Es wurde geglaubt, und gleich wollten alle weg. Ich zog mit bis in die Nähe der Kirche Wollank Ecke Soldiner. Die anderen gingen weiter. Ich blieb da die halbe Nacht, dann kamen Truppen, die sich von Pankow absetzten. Ich schloss mich an, ging bis zur Schule hinter der Panke.

25.4. Mittwoch. Nach halbdurchwachter Nacht versuchte ich wieder nach Pankow zu kommen. Ich kam bloß bis zur Osloer Str. Hinter der Soldiner Str. sollte schon der Russe sein, also wo ich vorher war. Ich logierte mich in der Reinickendorfer Str. 30 ein und schmiedete Pläne, wie ich mit dem Kumpel nach Mecklenburg komme. Zu Mittag hatte ich Junge- Erbsen-Konserve, die ich gegen Zigaretten eingetauscht hatte, und ein Stück Brot, Kartoffeln lagen doch alle in Pankow. Die wird wohl der Russe aufessen.

26.4. Donnerstag. In der Nacht war viel Beschuss durch Flieger. Ich versuchte vormittags nach Pankow zu kommen und machte auch so eine Runde. Nach Pankow ging's nicht. Ich sah so viel Elend, halbe Menschen lagen rum. Das was das schlimmste. Mittag Reis und Blaubeeren. Nachmittag versuchte ich wieder durchzukommen - ging nicht. Oldenburger - Osloer war der Russe, also wieder zurück. Spät abends organisierten wir aus einem angeschossenen Laden Lebensmittel.. Deutsche Verstärkung soll kommen ??? Es wird nicht mehr viel geglaubt. Des Abends schoss der R(usse) die Badstr. runter.

27.4. Freitag. Der Russe hat uns in der Nacht noch nicht besucht. Er hätte nun können die Pankstr. lang fahren. Vormittags kam ich bloß bis vor die Exerzierstr. Da schoss der Russe entlang. Also werden wir wohl ohne nach Pankow zu kommen nach Mecklenburg abhauen, wenn's noch geht. Mittag Pellkartoffeln. Und Hering. Kartoffeln eingetauscht: 5 Pfund 5 Zigaretten. Der Beschuss war wieder sehr stark von allen Seiten. Wir sollen eingekesselt sein. Stündlich ändert sich das Bild. Verstärkung soll kommen. Kein Mensch glaubt das. Nachmittag konnte ich schon etwas weiter nach Pankow - bis Osloer. Überall lagen Tote.

28.4. Sonnabend. Vormittag ging ich durch deutsche Sperren - Prinzenallee - Wollankstr. - Florastr. - da merkte ich erst, dass ich auf russischem Gebiet bin. Ich packte Anzug und Wäsche. Das Fahrrad war gestohlen. Ich kam tatsächlich wieder unbehelligt zurück.. Bevor ich auf deutsches Gebiet kam, machte ich die weiße Armbinde wieder ab. Zu Mittag gab es Reis mit Zucker. Nachm. wollte ich nochmal bis Soldiner Kirche, das ging nicht mehr - Beschuss. Die Toten wurden irgendwo begraben, in den Hausvorgärten, in Parks, natürlich alles unter Beschuss.

/lemo/bestand/objekt/kaempf002 29.4. Sonntag. Ein trauriger Sonntag trotz des schönen Wetters. Der Geschützdonner wird immer stärker. Ich wollte immer wieder nach Pankow durch, aber mit Sack und Pack geht es schlecht. Überall liegen Tote. Bei aller Aufregung denke ich wenig an die Familie. Mittag gab es Reis und Schokoladenpulver. Am späten Nachmittag brach ein russischer Panzer in der Reinickendorfer Str. durch. Es kamen mehr. Die Nacht war trotzdem reichlich ruhig. Der Panzer soll ja zurückgedrängt worden sein. Ich glaube nicht mehr an Deutschlands Stärke. Wo seid ihr, meine Lieben?

30.4. Montag. Vormittag 1/2 9 Uhr zogen die ersten Russen ein. Es ging alles ruhiger als man sich dachte. Uhren wollten sie haben, den Frauen taten sie nichts, im Gegenteil: sie gaben ab. Von Reinickendorfer Str. 30 bis Ecke Wiesenstr. standen gleich sechs Geschütze. Zu Mittag gab es wieder Reis. Nachmittag ging ich organisieren. Brot bei Wittler habe ich nicht mehr bekommen. Also essen muss ich aber. Jetzt liegen wir also in der russischen Front. Ich könnte jetzt mit Leichtigkeit nach Pankow gehen, will aber bis morgen warten. Spät abends bekam ich von einem Russen 10 Kilo Brot.

1.5. Dienstag. Kalt war' s. Ich hatte noch einiges gepackt, da ging die Parole "In Pankow sind Straßenkämpfe". Ich versteckte den organisierten Wagen im Keller und bin noch geblieben. Heute gab es Bückling mit Weizenflocken zu Mittag. Vorm. und nachm. habe ich organisiert. Nachmittag aus zwei kaputten Fahrrädern eins gemacht, denn meins hat die russische Wehrmacht gebraucht. Nun hatte ich wieder eins. Wer weiß, wie lange. Am späten Nachmittag musste ich mit dem Handwagen eine Kiste Schnaps zur Schulstr. fahren, es war doch 1. Mai. Trauriger 1.5. Gegen Abend kamen Frauen und Kinder, die aus ihren Wohnungen Kösliner Str. gewiesen waren.

/lemo/bestand/objekt/kaempf003 2.5. Mittwoch. Die ganze Nacht hörten wir Gesinge, Schnaps war genug, und Frauen holten sich die Russen. Gegen Mittag ging ich erst mal mit wenig Gepäck nach Pankow. Ich war der erste, der zurückkehrte. Die Wohnung war total zerwühlt. Nachmittag haute ich mit dem Handwagen und Sack und Pack ab. Ich musste diese Nacht noch im Keller schlafen, da doch oben wieder alle Türen und Fenster rausgerissen waren (von den Bomben am 22. 4. vermutlich). Aber ich hatte doch die Sachen aus(gezogen) und ein richtiges Zudeck.

3.5. Donnerstag. Ich ging nach gut durchschlafener Nacht wieder zum Wedding. Holte Pappen aus der Schule. Mein Kumpel war nicht da. Also zog ich mit dem Stapel Pappe nach Pankow. Ich kam an Pferdekadavern vorbei, die von der Bevölkerung abgezogen und ausgeschlachtet waren, denn Fleisch gab es nicht. Was sollten die Leute machen. Die Toten wurden einfach in den Parks begraben. Ich hatte Kartoffeln zu Mittag. Das ist ein Genuss nach dem langen Reisessen.

4.5. Freitag. Nach ruhiger Nacht habe ich den ganzen Tag genagelt, immer in der Hoffnung, dass die Familie mal kommt. Zu Mittag gab es Kohlrabi und Kartoffeln. Frl. Knorr aus Karow war hier. Peter aus dem Schwarzwald, der wollte heim. Ich gab ihm ein Rad, er mir Büchsenfleisch. Ich will das alles aufheben, denn das Essen wird noch knapp werden. Abends musste ich weit nach Wasser gehen.

5.5. Sonnabend. Um ½ 6 hab ich mich nach Brot angestellt, 10 Uhr ein 1000 g-Brot erhalten. Vorm. ein bissel genagelt am Klo, da war alles abgerissen. Mittag habe ich mir Reis gekocht, aber zuviel. Ich werde noch drei Tage essen. Nachmittag Schutt aus der Florastr. vergraben - alle. Abends war ich recht müde, musste aber noch nach Wasser gehen. Wenn ich nun noch 14 Tage hier wühlen kann, dann könnten meine Lieben kommen.

6.5. Sonntag. Ich hatte mir vorgenommen, nicht so zu arbeiten, aber das geht ja gar nicht. Also immer wieder ran - Balkon. Frau Leßle hatte auch einige Wünsche, gab mir dafür Möbel. Mittag Reis. Nachmittag fuhr die erste Lokomotive mit viel Gepfeife über die Brücke. Nachm. Teilte ich den Florastr.-Vorgarten in Beete und Rundteil ein und bepflanzte es mit Fette Henne. Lebensmittelkarten gab es auch, in russischer und deutscher Sprache. Die Kaufleute stellten Kundenlisten auf. Na denn los.

7.5. Montag wurde wieder Schutt beseitigt. Ich holte auch die ersten Kartoffeln unter dem neuen Regime. 5 Pfund pro Woche. Zwei Uhr Feierabend bei der Schuttarbeit. Nachm. Wie üblich nageln. Einige Möbelstücke von Frau Leßle hole ich mir weg. Für Helfen hat sie die mir gegeben, und ich muss doch ranschaffen. Denke doch, dass die Familie in vier Wochen zusammen ist. Jetzt hätte es noch keinen Zweck, hier zu sein. Kein Wasser, kein Licht, kein Gemüse, kein Fett. Ob das so bleibt?

8.5. Dienstag. Balkon hergerichtet. Schuttarbeiten. Frau Leßle bisschen geholfen. Dach dicht gemacht. Abends noch mal Schutt gefahren. Bei herrlicher Sonne auf dem Dach viel an die Familie gedacht.

9.5. Mittwoch. Schuttarbeit. Badewanne organisiert. Teichmann (2. Etage links) gestorben. Nachm. wieder Schuttarbeit. Beide Tage zu Mittag Bratkartoffeln. In der Stadtmitte sollen schon wieder Kämpfe sein. So ein Blödsinn. Ich kann das nicht verstehen. Abends l ½ Std. nach Wasser.

9.5. Mittwoch. Heute soll Himmelfahrt sein (kann nicht stimmen). Ick hab nischt gemerkt. Zwischen 9 und ½ 10 war ich mit Gohlke (Eing. Florastr., kassierte nach Frau Leßle die Miete) vor die Bürgermeisterei wegen Arbeit hinbestellt. Nach drei Stunden Warten war noch keine Aussicht auf Abfertigung. Wir sind gegangen und haben im Haus gearbeitet. Mittag habe ich mir von Kartoffelflocken so 'ne Pampe gekocht. Ich habe ja großen Appetit auf Fleisch. Nachm. habe ich meine Küchentür eingebaut. Es ist alles eine scheußliche Arbeit, die nimmt kein Ende. Ach Mutti, komm doch helfen.

10.5. Donnerstag. Ich weiß nicht genau, ob das Datum und der Tag stimmt. Jedenfalls hatte ich eine ganz schlechte Nacht. Ich konnte bis ein Uhr nicht einschlafen, immer hatte ich dich, Edith, vor Augen unter schlimmen Vorstellungen. Des Morgens früh fuhren wir nach dem Friedhof mit dem Handwagen. Vater Teichmann in einer Kiste. Er wurde von uns selbst begraben. Von da aus ging ich zu ARGUS (Flottenstr. in Reinickendorf). O Schreck. Es wird alles (die Maschinen} abgerissen. Ich nahm mein Arbeitszeug usw. und zog nach Hause, nageln und Garten vorm Haus machen.

11.5. Freitag. Heute bekam ich mein Fleisch. Ich hab gleich für den ganzen Monat genommen. Gulasch gemacht. Ich wollte erst einwecken für meine Bande, wenn die kommt, aber der Heißhunger auf Fleisch war doch zu groß. Nachm. holte ich fünf Pfund Spinat. Das ist eine Arbeit, den putzen. Und denn kein Wasser. Na, ich habe bloß l x gewaschen, er hat ja zwischen den Zähnen geknirscht.. Ist egal. Alle Tage war herrliches Wetter. Ich gönnte mir auch immer etwas Zeit für meine l(iebe) Sonne.

12.5. Sonnabend. Heute gab es 1/4 Pfd. Zucker auf drei Wochen. Sonst habe ich aus dem Keller schon etwas wieder raufgeholt. Dann wieder das Dach verschmiert. Ich ging auch noch mal zu ARGUS, durfte aber dieses Mal nicht rein. Unterwegs las ich bei der Brotfabrik Mühlenstr. 17, dass Leute eingestellt werden. Ich nahm Arbeit an. Der Betrieb ist fast ausgebombt. Da gibt es für mich viel zum Reparieren. Zuerst werde ich ja wohl auch Schutt müssen schippen.

13.5. Sonntag. Da hab ich bis 8 Uhr geschlafen - vielmehr im Bett "Friedemann Bach" fertig gelesen. Nach dem herrlichen Mittag - Gulasch, Salzkartoffeln und Gemüse - ging ich zu meiner Arbeitsstelle zwei Autoräder an einen Pferdewagen machen über die heiße Mittagszeit, denn auf dem (Teer-)Dach war es mir doch zu warm. (Vater war ein leidenschaftlicher "Sonnenanbeter", der Balkon hatte nur bis ½ 11 Uhr Sonne.) Abends hab ich auf dem Balkon gesessen, da dachte ich viel an euch. Ich will euch Nachricht zukommen lassen. Die Bahn soll ja von Bernau bis Danzig fahren. Aber die Lokführer sind Russen.

14.5. Montag. Brotfabrik. Wagen fertiggemacht und geschippt. Es ist Gott sei dank etwas kühler. Heute fängt die Schule an.

15.5. Dienstag. Brotfabrik gearbeitet. Vormittag zur Schmiede gegangen (Schönholzer Str. l, zu Schlebitz) und sechs Eisen aufgeschlagen, nach zehn Jahren das erste Mal wieder ein Pferd beschlagen. Aber es geht noch gut. Zum Abend habe ich mir Kartoffelpuffer gemacht. Bin ich satt! Ein Stubenfenster verglast. Heute gab es auch das erste Mal wieder elektrisches Licht. Mutti, komm doch bald.

16.5. Mittwoch. Der übliche Tagesablauf, bloß nachmittags noch 40 Sack Mehl helfen aufladen. Zwei Stunden länger gemacht. Da sind immer zwei Zentner drin. Ich war kaputt.

17.5. Donnerstag. Die letzten Wagen fertiggemacht. Zwei Stunden früher Feierabend gemacht. Zuhause am Topfspind gebaut. Flurspind gebaut. Nun war es auch wieder ½ 11, als ich ins Bett kam. Es ist gut, dass es Farbe zu kaufen gibt. Ich habe beides schön gestrichen.

18.5. Freitag. * Helmut, ich gratuliere dir, kleiner Junge. Hoffentlich lebst du noch. Och, wirst schon. All meine Arbeit hier an der Wohnung hätte gar keinen Sinn, wenn ich nicht dächte, dass ihr mal eines Tages ankommen würdet. Sonst verlief der Tag heute recht, recht traurig. Ich habe viel an dich gedacht. Ob du Kuchen hast? Ob dir irgend jemand etwas schenken kann? Ach bitte, bitte, liebes Schicksal, schicke mir doch meine Familie recht bald, ich habe zu essen und soviel Arbeit.

19.5. Sonnabend vor Pfingsten. Der Tag wie all anderen. Um 6 Uhr auf nach Wasser, um 8 Uhr zur Arbeitsstelle. An dem Ofen repariert. Heute bekam ich Fleisch, 500 g, mein Festbraten. Frl. Knorr kam und backte mir einen Kuchen mit, also hatte ich auch Kuchen zum Fest. Und trotzdem: Auf alles will ich verzichten, wenn ihr hier wäret. Es ist aber noch zu früh, dass ihr kommt: Die Wasserschlepperei. Abends habe ich zwei Fenster verglast aus
Stücken, dann unten das letzte Stück Garten bepflanzt.

20.5. Sonntag, Pfingsten. In Russland gibt es ja so was wohl nicht. Ich führ des Morgens zu Frl. Knorr mit dem Rad und habe einen Teil von dem vergrabenen Geschirr geholt. Mein Mittag hat gut geschmeckt, von soviel Fleisch hätten wir alle etwas haben können. Nachmittag ½ 1 bis abends habe ich müssen Kartoffeln schippen gehen, weil ich in der Partei war. Also war ich am 1. Festtag so richtig hundemüde am Abend. Vor lauter Arbeit hat man nicht Zeit, an euch zu denken.

21.5. Montag. Bis 11 Uhr im Haus Wasserkeller saubergemacht. Dann den ganzen Tag in der Wohnung rumgemurkst. Küchentür und kleine-Stube-Tür richtig gemacht. Mittag gekocht. Konserven, Kohlrabi. Mein Gott, waschen müsste ich auch. Wenn ich wüsste, ihr lebt nicht mehr, würde ich mir mit der Wohnung nicht solche Mühe geben., ach es ist zum Heulen. Heute habe ich auch das erste Wasser aus dem Hauskeller geholt. Mühe geben sich ja die Russen, alles was recht ist.

22.5. Dienstag. Ich habe an zwei Öfen die Schieber repariert, Backöfen natürlich. Es ist sehr schmutzig. Die Arbeitsanzüge werden alle schön bunt: mal schwarz, mal weiß vom Mehlladen, mal rot vom Rost. Abends 7 Uhr holte mich der Pankower Schmiedemeister (Schlebitz) aus der Schönholzer Str. zum Bürgermeister. Da wurde mir dann Arbeit bei der Roten Armee zudiktiert. Hufbeschlag und Wagen rep. Bis jetzt habe ich bei der Brandenburgischen Brotfabrik 40 Stunden. Geld soll es ja später geben.

23.5. Mittwoch. Der 1. Tag (bei der) Roten Armee (in der Wilhelm-Kuhr-Str. Ecke Schulzestr.). Die erste Arbeit war zwei Hintereisen bei einem Pferd aufschlagen, das schon lange barfuß ging und lahm war, mit Bauerneisen. Vor 15 Jahren habe ich vielleicht die letzten aufgeschlagen. Es ging. Essen gab es da, viel Fleisch. Kommt bloß bald, damit ihr essen helfen könnt. Nachm. hat mir ein Russe mein geklautes Rad geklaut. Also werde ich wieder eins klauen. Herrliche Zeiten.

24.5. Donnerstag. Die Uhr ist mal wieder eine Stunde vorgestellt. Ich hab es nicht gewusst. Kommt auch nicht drauf an. Heute viel Pferde beschlagen. Mutti, du hättest deine Freude an mir, weil ich so nach Pferd rieche. Erst wenn ich hinkomme, esse ich. Von drei Frauen habe ich schon erfahren, dass sie ihren Evakuierungsort verlassen mussten und nach ihrem Heimatort mussten. Na, ihr kommt ooch bald. Heute habe ich angefangen, Wände zu putzen. Mörtel habe ich organisiert.

25.5. Freitag. Wieder zur Roten Armee. Viel Wagenarbeit. Das ist so die richtige Dorfarbeit. Abends fragten mich drei Frauen mit je zwei Kindern nach Unterkunft. Ich hatte ja keine. Die kamen aus dem Osten und wollten nach dem Westen. Als ich zurückkam, standen sie noch immer und fragten Leute. Ich sage: Kommt mit. So schliefen alle neun in der kleinen Stube, ich in Frl. Knorrs Stube. Die waren halb verhungert und verdreckt. Na, so wirst du auch bald ankommen. Mehrere Male hatten alle Russen. Maria Paul Mühlheim a. d. Ruhr Hausbergstr. 31.

26.5. Dieselbe Leier. Ich hatte mir bloß den Wecker mitgenommen, denn den Russen ihre Uhren gehen ja ½ bis l Stunde falsch und ich muss doch zu Hause auch noch etwas machen. Heute habe ich etwas geputzt, dann den Hof helfen saubermachen. 22 Karren. Heute haben die Russen Keller kontrolliert und dabei meine lange Dauerschlackwurst geklaut, die habe ich schon 1/4 Jahr und wollte sie für euch lassen. Ist das nicht zum Heulen, wo ich schon immer Heißhunger auf Wurst hatte.

27.5. Sonntag. Ruhetag. Schön wär's ja. Ich habe Dachpappe gelegt, damit wenigstens Küche, kleine Stube und Korridor ganz bestimmt regendicht sind. Nachmittag habe ich Wände geputzt, in der Küche Fensterrahmen neu eingemauert. Abends sechs Uhr kamen wieder Russen in die Keller und haben mir alle Vorräte, die ich für die Familie zurückgelassen habe, mitgenommen, sogar Konserven und Eingewecktes. Ja, soo sieht nun der verlorene Krieg aus.

28.5. Montag. Heute habe ich das erste Mal müssen bis abends sechs Uhr arbeiten. Nun habe ich noch weniger Zeit, zu Hause was zu machen. Etwas Glas habe ich mir mitgebracht. Um ½ 12 nachts legte ich mich hin.

29.5. Dienstag. Einen alten Federboden schleppte ich mit nach Hause, denn der eine ist doch in Polen geblieben. Erst Dacharbeit, dann an dem kaputten Bett gearbeitet. Den Federboden geändert und wieder um 11 Uhr todmüde ins Bett gefallen, nachdem noch Schutt vom Hof gefahren wurde.

30.5. Mittwoch. Alles dasselbe. Abends am Dach gearbeitet.

31.5. Donnerstag. Dito. Schreibschrank bekommen.

1.6. Freitag. Dito. Viel Späne mitgebracht. Abends noch Schutt weggekarrt. Ich bin fast alle Tage ½ 12 schlafen gegangen, das ist nach Sonnenstand ½ 10, denn wir haben russische Zeit.

2.6. Sonnabend. Sollte ich bis sieben arbeiten. Das geht doch nicht, ich muss doch zu Hause was machen.

3.6. Sonntag. Auf dem Dach gearbeitet. Ich glaube, jetzt ist auch das Treppenhaus dicht. Es war schönes Wetter. Ich war viel auf dem Dach. Des Morgens habe ich gewaschen. Ach, wenn du doch bald kommen möchtest. Mittag hatte ich noch von den Russen - Erbsen. Abends ging ich Besuche machen um nicht soviel zu grübeln. Es wurde 12 Uhr nachts, als ich schlafen ging. Zu meinem Geburtstag wirst du wohl hier sein.

4.6. Montag. Späne und zwei Stühle bekommen.

5.6. Dienstag. Ich habe zu Hause nichts gemacht, ich war todmüde. Es ist geflaggt: Russisch, Franz., Engl., Amerikan. Es ist ordentlich bunt.

6.6. Mittwoch. Heute wollte ich früher schlafen gehen, aber es war doch wieder 11. Ich hatte geputzt und gewaschen. Ach komm doch.

7.6. Donnerstag. Bank mitgebracht. Ich hatte Einquartierung. Franz Schuhmacher Kolberg Ramlerstr. 1. Die wollen nach Schlawe i. Po(mmern), kommen von Brandenburg.

8.6. Freitag. Es war wieder sehr heiß. Abends habe ich an der Bank geändert. Es war wieder ½ 12 zu schlafen gehen.

9.6. Sonnabend. Nach heißem Tag abends an der Bank gebaut und mein Fleisch für euch eingeweckt. Ach kommt doch.

10.6. Sonntag. Ohne euch. Neugierig sehe ich auf die Straße, wenn Kinderwagen quietschen, vielleicht seid ihr's. Es sieht schlimm in mir aus, und Schuld haben die verfluchten Alten in Birkenwerder. Noch 12 Tage, dann sollt ihr doch hier sein (zu Vaters Geburtstag).

11.6. Mo. Die Bank ist fertig. Mein Gott, werden wir jemals drauf sitzen? Die Hausbewohner machen mir ja Hoffnung, dass ihr noch lebt. Immer öfter kommt mir das Weinen an. Ich bin doch feste dabei, alles so und noch schöner herzurichten wie es war. Die Räume selbst noch nicht, denn wenn die fertig sind und du kommst nicht, werde ich die Wohnung los. Über die Bastgeflechtbank wirst du dich freuen. Ich baue noch einen Hocker dazu. Ihr Lieben, kommt doch.

12.6. Dienstag. Als ich Feierabend nach Hause kam, hab' ich mich ein bissel hingelegt. Bin gleich eingeschlafen - so müde.

13.6. Mittwoch. Ich habe mich fiebernd um 7 Uhr, als ich nach Hause kam, gleich hingelegt. Der Tag war eine Qual.

14.6. Donnerstag. Nach dem Schwitzen war alles wieder gut, ich habe sogar abends am Hocker gebaut. Es ist schlechtes Wetter schon mehrere Tage und ihr seid auf der Landstraße ohne Regenschutz. Es ist ein Jammer. Und die Birkenwerderschen (die Eltern) haben Schuld.

15.6. Freitag. Wieder Regenwetter. Abends weckte ich wieder mein Fleisch für euch ein.

16.6. Sonnabend. Ich war heute auf dem Nachweis wegen dem Geld. Da sagte da eine Angestellte: "Na, sie werden da solange arbeiten, bis wir einen andern Schmied gefunden haben." Ich weiß aber, dass die nicht so dicke rumrennen.

17.6. Sonntag. Herrlicher Sonnenschein. Ich war viel auf dem Dach. Die Hoffmann erzählte mir, dass sie geträumt hat, ihr seid gekommen. Und sie ist ein Sonntagskind.

18.6. Montag. Abends am Klavierstuhl gearbeitet - Bastgeflechtsitz. Du liebst doch so etwas, und du sollst nach aller Entbehrung und Pein Freude haben.

19.6. Dienstag. Nach Feierabend auf dem Dach gelegen und so manches Mal nach Nord-Osten gelispelt: "Mutti, komm doch". Manche Leute sagen, dass die Deutschen da geschlagen werden. Ich leide hündisch sehr - und Schuld haben die Alten.

20.6. Mittwoch. Mit drei Frauen über Radunskis (Aufg. Florastr. ) das Dach gehoben.

21.6. Donnerstag. Des öfteren guckte ich die Schulzestr. entlang, das geht von meinem Arbeitsplatz sehr gut. Ich dachte, ihr kommt mich holen. Morgen sollt ihr doch da sein.

22.6. Freitag. Ihr sitzt irgendwo und weint, dass ihr nicht bei mir sein könnt. Du, l(iebe) Mutti, wirst mein Bild in der Hand haben, vielleicht ein Blümchen, ein paar Tränen, und wirst in liebevoller Sehnsucht an mich denken. So weinen wir beide, und es wäre nicht nötig, wenn die Alten. Mein Geburtstag verlief wie jeder andere. Abends gratulierten mir Hoffmanns mit Blumen, l Flasche Bier, Kaffeemischung. Einen kleinen Schuppen habe ich auf dem Hof für den Wagen gebaut. Eine Tante Kämpf (Hedwig}brachte noch Grüße aus Birkenwerder. Die sollen da sehr hungern. Schad't nischt, ihr auch. Ich habe dann noch l Glas Fleisch und l Gl. Kohl eingeweckt.

23.6. Sonnabend. Ein Kohlglas ist aufgegangen. Ich habe es nicht gegessen, sondern noch mal geweckt für euch, so wurde es wieder ½ 12.

24.6. Sonntag. In der Nacht hatte ich ganz starkes Nasenbluten. Als ich am Tage was tun wollte, fing es wieder an. Also lag ich still auf dem Dach in der Sonne in dem Gedanken, sie scheint euch allen. Bloß ihr habt Hunger, ich nicht.

Es geht auf Vollmond. L. Mutti, meine Augen schauen so oft hin, du sollst meine Bitten, meine Wünsche von der blanken Scheibe lesen.

Heute erfuhr ich das erste Mal, dass auch Flüchtlinge aus dem Polnischen kommen. Nach Peinigung und Strapazen kommen sie hier an. Auch habe ich heute meinen Bohnenkaffee gegen l Pfd. Zucker getauscht, denn die Kinderlis brauchen Zucker.

25.6. Montag. Ich konnte nicht arbeiten, denn das Nasenbluten geht nun schon den dritten Tag. Ich war auch zum Arzt, aber der steckte bloß blutstillende Watte ein. Das kostet 4 M.. Das kann ich auch. Morgen will ich in ein Krankenhaus gehen. Was soll das werden.

26.6. Dienstag. Ich konnte wegen Nasenbluten nicht arbeiten.

27.6. Mittwoch. Nächte und Tag kein Bluten.

28.6. Donnerstag. Doch zur Charite. Es ist jetzt besser. Bestandsaufnahme: Möbel, Wäsche, da Pg.- (Parteigenossen-) Sachen rausgeholt werden. Heute traf ich die ersten Danziger.
Kommt ihr?

29.6. Freitag. Und wieder kucke ich vom Fenster zur Florastr.-Ecke, ob ihr im 1/2 11-Abendzug wart. - Nein. -

(Hier endet das Tagebuch. Demnach müssen wir, d.h. Mutter Edith, damals 34 Jahre alt, Schwester Charlotte, 8 Jahre alt, Schwester Gudrun, l l/2 Jahre alt und ich, 6 Jahre alt, am 30. Juni in Berlin angekommen sein. Die Heimkehr aus dem Evakuierungsort, die als Flucht vor der Roten Armee begann, führte über Danzig, Landsberg a. d. Warthe und Rüdersdorf bei Berlin, wo Tante Hilde, damals 39 Jahre alt, die uns hochschwanger begleitete und in diesem Zustand von russischen Soldaten in den Wald gezerrt worden war, am 25. Juni Cousin Ulrich zur Welt brachte.)

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