> Liesel Lentz: Das Kriegsende 1945 in Karlsbad

Liesel Lentz: Das Kriegsende 1945 in Karlsbad

Dieser Eintrag stammt von Liesel Lentz-Ungar aus Coesfeld, 31.05.2002:

Als ich nach unserer Hochzeit am 29.Juli 1941 mit meinem Mann nach Karlsbad fuhr, haben wir uns nicht gedacht, daß wir diese schöne Stadt so bald und unter so schmerzlichen Umständen verlassen müßten. Unser schönes freundliches Haus Hartenstein oben über dem Tepltal, in luftiger Höhe, hatte mein Mann schon vor unserer Hochzeit bauen lassen. Es war eine kleine Insel des Friedens, umgeben von grünen Wiesen vor dem bewaldeten Dreikreuzberg im Hintergrund. Über der Haustür bot ein Rundbau, ein großzügig ausgebauter Erker, einen wundervollen Blick die Straße hinunter in Richtung auf die Karlsbader Altstadt. Das ganze Haus war geräumig und beherbergte außer unserem Vater noch zwei Familien und uns. 1942 und 1943 wurden unsere Kinder geboren, zwei Mädchen.

All die Jahre bis zum Kriegsende ging es uns gut. Wir hatten ja alles, und mein Mann, er war Arzt, mußte nicht an die Front. In den letzten Kriegswochen fragten wir uns oft: Was soll werden, wie wird der Tscheche sein Regiment beginnen. Man ahnte nichts Gutes. Vom Westen kam der Amerikaner näher, vom Osten der Russe. Jeder hatte den frommen Wunsch, daß der Amerikaner Karlsbad besetzen möge. Es kam leider anders. Am 6. Mai 1945 zogen die Russen ein. Die traurige Nachricht ging von Haus zu Haus, und bald sah man die kleinen Russenwagen mit Pferden bespannt, herantrappeln. Wir Deutschen bekamen von den Tschechen unsere Anweisungen diktiert, es durfte niemand mehr die Straße betreten ohne weiße Armbinde, nur zu bestimmten Zeiten durfte man das Haus verlassen, alle deutschen Schilder mußten entfernt werden und binnen 2-3 Stunden jedes Haus russisch oder tschechisch beflaggt sein. Als das getan war, warteten wir mit Spannung und Schrecken der kommenden Dinge.

Ganz bald hörte man Wagengerassel, Getrampel: sie kamen in Scharen und bauten auf den Wiesen rund um unser Haus ihre Lagerplätze auf. Das war ein Leben. Keine Minute hatten wir Ruhe. Bis spät in die Nacht war draußen reges Treiben. Die Russen kochten, schwatzten, sangen, waren bester Laune. Dazwischen stampften und wieherten ihre wohlgepflegten Pferde. So verliefen die ersten zwei Tage. Dann zog diese Schar ab. Wir wollten schon aufatmen, aber es folgte ein neuer Ansturm. Es wimmelte überall von Russen. Da klingelte und trampelte man an unserer Haustür. Ein russischer Offizier ließ sich unser Auto aus der Garage fahren und stellte sein eigenes hinein. Nach kurzer Zeit machte er das wieder rückgängig und fuhr davon. Jetzt kam dauernd russischer oder tschechischer Besuch. Jeder nahm sich, was ihm gefiel. Zum Glück sprach mein Mann gut tschechisch. Aber wir waren ganz der Willkür unserer Feinde ausgesetzt. Jeder, dem es gerade paßte, besichtigte unser Haus. Von uns nahm man keine Notiz. Die Wiesen waren wieder voll belagert. In der Stadt sah es nicht besser aus. Das schöne Karlsbad! Abends spät wurde alles illuminiert. Raketen stiegen hoch. Vom Berg herunter sah man diese unheimliche Pracht - so unheimlich schön - mit wehmütigem Herzen. Eine schwere Zeit begann.

Zwei russische Offiziere suchten Quartier und beschlagnahmten die obere Wohnung. Frau G. kam zu uns mit ihrer kleinen Tochter. Nach kurzer Zeit wimmelte das Haus von Russen, einer ganz und gar verwilderten Bande. Unser Haus wurde der reinste Taubenschlag, Türen und Fenster standen offen. 15 bis 29 Russen rumorten in Küche und Keller, im Wohnzimmer, im Treppenhaus. In unserem Garten, hinter dem Haus, wurde gekocht, mit Töpfen, Porzellan, Eßgeschirr aus unserem Haushalt. Wir Frauen hatten den ganzen Tag zu tun mit dem Reinigen der dreckigen russischen Uniformen, daran Kragen aufzunähen und den allgemeinen Schmutz wegzuputzen. Schon am 2. Tag strotzte unser Wohnzimmer vor Dreck und Gestank. Bis nachts um 4 wurde unvorstellbar Krach geschlagen. Das Radio brüllte. Parkett und Teppich wurden mit schweren Stiefeln betrampelt. Wir schufteten wie die Stallmägde. Mein Mann schlug sich redlich mit den Russen durch. Er zechte mit ihnen, kippte sich dabei den Schnaps über die Schulter, und hielt so die Nächte mit ihnen durch. Wir Frauen schlugen uns auch durch. Aber abends, wenn die Kerle uns zu Leibe rücken wollten, waren wir nicht mehr zu sehen. Mit meines Mannes Hilfe krochen wir in einen kleinen Bodenraum. Mein Mann schob dann einen Küchenschrank vor die Luke. Dieses Versteck haben die Russen nie gefunden.

Wenn diese Männer alle so betrunken waren, daß sie nur noch schliefen, erlöste mein Mann uns, damit wir uns noch ein wenig ausstrecken konnten zum Schlafen. Die Kinder, sechs von drei Familien, bekamen eine Schlaftablette. Sie schliefen so fest, daß sie von dem Radau direkt nebenan nichts hörten. Der Raum für die Kinder war den Russen tabu. Nie hat ein Russe die Kinder gestört. Überhaupt hatten sie Kinder sehr gern. Sie bekamen manchen schmierigen Kuß und Schokolade dazu. Die Russenwirtschaft in unserem Haus hatte aber auch eine gute Seite. Wir hatten immer gut und reichlich zu essen, ganze Töpfe voll Suppe wurden uns gebracht und zwar so reichlich, daß unsere Nachbarn noch davon profitieren konnten. Alle anderen Leute, die nicht auf diese Weise unterstützt wurden, mußten hungern. Es gab drei Wochen lang nichts zu kaufen. Russen und Tschechen verschlangen alles und sahen mit Genugtuung, wie die Deutschen darben mußten. Es hieß immer: "Die Gestapo hat es mit uns noch viel schlimmer gemacht".

Der russische Koch in unserem Garten, ein sehr großer, starker Mann, den ich vom großen Gartenfenster aus beobachten konnte, winkte mir eines Tages zu, und gab seinem Gehilfen einen großen Topf voll Essen, den er mir heraufbringen sollte. Das tat er nun alle Tage und wie schon gesagt, sehr reichlich. Als einmal einer seiner Vorgesetzten Zeuge der Essensübergabe wurde, schrie er den Koch an. Aber der wußte sich zu helfen, er legte den Arm um mich und sagte: "Dafür ich schlafen mit scheene Frau." Das fand der Chef richtig. In Wirklichkeit benahm der Koch sich einwandfrei. Er hatte z.B. auch Freude daran, mir Bilder von seiner Familie zu zeigen. Nachts schlief er auf dem Balkon auf dem nackten Boden.

Beim Einzug der russischen Offiziere entstand eine Situation, die fast schlimm ausgelaufen wäre. Einer der Herren wollte nicht in die obere Wohnung ziehen mit der Begründung: "Nein, ich bleiben hier bei scheene Frau. Sie ist so honigsüß." Dabei legte er den Arm um meine Schulter. Mein Mann geriet in Wut und wollte sich schimpfend auf ihn stürzen. Zum Glück war eine Ungarin, eine Freundin von uns, in der Nähe. Sie beherrschte mehrere Sprachen. Es gelang ihr, meinen Mann und den Russen zu beschwichtigen. Es gelang ihr auch, den Mann zu bewegen, sich in der leeren Wohnung häuslich niederzulassen.

In der oberen Wohnung hausten russische Offiziere. Eines Abends wurde ich dorthin befohlen. Klopfenden Herzens und mit zitternden Knien ging ich nach oben.. Dort saßen mehrere Männer um den Tisch herum beim Kartenspiel. Einer kam auf mich zu, übergab mir seine Uniformjacke und befahl:"Kragen annähen!" Ich setzt mich auf die Couch, auf der gerade niemand saß und begann meine Arbeit. Der russische Offizier setzte sich dicht neben mich, ich rückte auf, er rückte nach. Da rückte ich noch einmal auf und setzte mich so, daß ich ihm den Rücken zukehrte. Ich nähte, so schnell ich konnte und stand auf. Der Russe machte neue Annäherungsversuche. Da warf ich ihm die Uniformjacke zu und zwar so geschickt, daß sie ihm ins Gesicht flog. Dann rannte ich unter dem brüllenden Gelächter der anderen Männer aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Als ich unten mein Erlebnis erzählte, konnte mein Mann kaum glauben, daß ich heil davon gekommen war.

Als unser Haus noch nicht lange besetzt war, schellte es wieder einmal Sturm an der Haustür. Da ich nicht sofort zur Stelle war, schlug der Soldat mit seinem Gewehrkolben die Türfenster ein. Wie ich dann im selben Augenblick öffnete, warf ich ihm vor, daß er doch nicht gleich alles kaputt schlagen solle. Da wurde ich sanft von hinten angetippt und zurück gezogen. In ziemlich gutem Deutsch warnte mich ein anderer Russe, daß ich mir solche Sachen gefallen lassen müsse, um Schlimmerers zu verhüten. Dieser Russe blieb nun fast ständig bei mir, wohin ich auch ging und behütete mich auf diese Weise. Er saß in der Küche bei mir, wenn ich dort beschäftigt war, erzählte mir von seiner Familie und unter anderem auch, daß er im KZ gesessen hatte. Für alle dort erlittene Pein habe er sich an den Deutschen rächen wollen. Aber nun, da er doch noch lebend da herausgekommen sei, könne er sich nicht mehr rächen. Er sei zu glücklich. Ein guter Mensch. Dazu kann man nur sagen: "Hoch klingt das Lied vom braven Mann."

Die Russen lebten in Saus und Braus, raubten und plünderten, brachen unsere Vorratskammern auf. Man konnte nur noch stumpf und gleichmütig auf bessere Zeiten hoffen und den Tag herbeisehnen, an dem die Horde abziehen würde. Und wirklich zogen sie eines Morgens in aller Frühe ab. Den Schmutz, den sie hinterließen, beseitigten wir gern in der Erleichterung, endlich wieder Herr im eigenen Haus zu sein. Aber die erhoffte Ruhe gab es nicht. Jeden Tag klingelte es mehrere Male: Tschechen kamen herein, besichtigten das Haus, nahmen aber keine Notiz von uns. Mein Mann, der ja tschechisch sprach, konnte einige am Gartentor abfertigen. Aber die Tschechen vermehrten sich wie Fliegen, sie wurden immer spitzfindiger, holten aus den Wohnungen was sie wollten, verschleppten Männer ins Bergwerk und forderten immer mehr Ausweisungen. Dann schellte es plötzlich Mord und Brand im ganzen Haus. Sechs Männer befahlen uns mit vorgehaltenem Revolver binnen einer halben Stunde das Haus zu verlassen. So sehr wir uns beeilten, so sehr wurden wir dabei bedrängt und gehetzt. Ein Polizist leerte dabei einen unserer Koffer mit Luftschutzgepäck aus. Mein Mess-Gebetbuch fiel heraus. Er hob das Buch auf und sah mich höhnisch grinsend an. Ich nahm es ihm ab, legte meine Finger darauf und sagte: "Alles, was Sie uns heute antun, wird Gott ihnen vergelten." Aus seinem betroffenem Gesicht konnte ich ablesen, daß er mich verstanden hatte. Dann jagten sie uns aus dem Haus. Wir standen mit Koffern und Kinderwagen auf der Straße. Wohin?

Gegen Abend konnte uns eine Frau in der Nähe für eine Nacht unterbringen. Und, wie von unsichtbarer Hand geführt, kamen uns zwei junge, ehrliche Tschechen zu Hilfe. Wir haben nie erfahren, woher diese beiden jungen Männer kamen, die uns auf einem Fuhrwerk durch die tschechische Sperre manövrierten und ins Niemandsland brachten, und so den Übergang in die amerikanische Zone ermöglichten. Nach Wochen voller Mühsal und dank mancher Hilfe hatten wir die letzte Hürde hinter uns und waren auf deutschem Boden. Auf dem Weg zu meinen Eltern im Münsterland zeigten sich uns viele mißmutige Gesichter. Niemand wollte sich unsrer erbarmen, die Häuser waren zerstört, die Menschen aus den Städten in den Dörfern zusammengedrängt. Geliebte, ersehnte Verwandte, auch ausgebombt, taten aber für uns, was sie konnten. Gott hatte uns immer wieder geholfen, wir hofften auf auch weiter auf seinen Schutz. So gelangten wir schließlich und endlich durch das zertrümmerte Industriegebiet nach Coesfeld. Das erste, nicht zerstörte Haus auf dem Weg in die Stadt war die "Villa Nonhoff", das Haus meiner Eltern.

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