> Lisa Schomburg: Schülerin im Dritten Reich

Lisa Schomburg: Schülerin im Dritten Reich

Dieser Eintrag stammt von Lisa Schomburg (*1930 ) aus Hamburg, Interessengruppe "Senioren Schreiben und Lesen", Seniorenbüro Hamburg , Juni 2004 :

Wie so manche Nacht gab es auch wieder in der letzte Alarm. Die Sirenen heulten ihr Auf und Ab und ich wurde aus dem Schlaf gerissen. Zuerst war ich natürlich furchtbar müde, doch dann kam die Erkenntnis, dass wir ja erst nach der großen Pause in der Schule sein müssen, wenn der Alarm bis in die frühen Morgenstunden dauert. Auf dem Schulweg fanden wir am nächsten Morgen so manchen Flaksplitter und - wenn in der Nähe Bomben explodiert waren, auch einige Bombensplitter, die bei uns Kindern höher im Kurs standen, was unsere Tauschaktionen betraf.

Um 12 Uhr gab es noch einmal eine Pause und wir erhielten eine Schulspeisung. Es war immer die gleiche Suppe, hergestellt aus Magermilch und etwas Geriebenen, es könnte Zwieback gewesen sein. Die Suppe war mit Süßstoff gesüßt und schmeckte ganz gut.

Unser Gymnasium war noch unbeschädigt, so daß wir jeden Tag Unterricht hatten, mit Ausnahme, wenn in der Nacht vorher ein Großangriff auf Hamburg stattgefunden hatte und wir zu viele Stunden im Bunker oder Keller verbringen mußten. Der große Bunker mit den 4 Flak-Geschützen oben drauf stand (und steht immer noch!) nicht weit von unserem Gymnasium entfernt. Meine Mutter pflegte lieber zu Hause zu bleiben und unseren eigenen Keller aufzusuchen, der jedoch nur vor Bombensplittern sicher war. Wenn die Zeit noch reichte und wir die feindlichen Flugzeuge noch nicht brummen hörten, gingen wir zu Nachbarn, die einen sicheren Keller als wir besaßen. Der Bunker war viel zu weit entfernt, wir hätten etwa 45 Minuten gehen müssen und ein Auto besaß niemand in unserer Umgebung.

Manchmal heulten die Sirenen auch während unseres Unterrichtes. Dann mußten alle Kinder aus dem Lyzeum und dem Gymnasium der Jungen in die Kellerräume, die unter den Klassenräumen lagen. Einesteils fanden wir es interessant, mit den Jungen zusammen zu sein, doch es gab einige Kinder, die wirklich große Angst hatten, weil sie nicht zu Hause bei ihren Eltern sein konnten. Was wäre, wenn wir durch einen Bombenhagel von unseren Eltern getrennt würden?!

Eines Nachts wurde der Güterbahnhof Wilhelmsburg bombardiert. Dies war seinerzeit der größte Verschiebebahnhof in Norddeutschland. Da das Gymnasium luftlinienmäßig nicht weit entfernt lag, wurde es von Sprengbomben getroffen, die eigentlich für den Güterbahnhof gedacht waren. Die Tommies warfen erst Sprengbomben, um Gebäude und Schienenstränge zu zerstören, dann änderten sie den Kurs und warfen auf ihrem Rückweg Brandbomben in das schon entstandene Chaos, so daß eine Feuersbrunst ausbrechen mußte, der niemand mehr Herr wurde.

Nun war das Lyzeum zerstört, wir konnten nicht mehr zur Schule gehen. Es blieb uns also nur abzuwarten, was mit uns weiter geschehen sollte. Ich war bereits 14 Jahre alt. Die Großangriffe auf Hamburg fanden 1 Jahr zuvor statt, sie zogen sich aber vereinzelt auch noch bis 1944 hin. Ganze Stadtteile lagen in Schutt und Asche und es gab enorm viele Tote. Nun befürchteten meine Eltern, daß der Süden Hamburgs, die Industriegebiete die nächsten Ziele der Tommies waren. Dadurch bestand auch für die Häuser, die in nächster Nähe des Güterbahnhofs standen, Gefahr. Aus diesem Grunde brachte meine Großmutter mich nach Malchow in Mecklenburg zu meiner Tante und Cousine. Gerade in dieser zeit, im Juni 1944, wurde meine kleine Schwester geboren. Ich wollte nach Hause zurück. Da ich 14 Jahre lang Einzelkind gewesen bin, konnte ich es kaum erwarten, unser Baby zu sehen. Ich habe die kleine Bärbel dann oft und gern gefüttert mit einem flüssigen Brei aus gekochten Kartoffeln, dem Kartoffelwasser zugefügt wurde und Citretten, die in Tablettenform, in dem Brei zerdrückt, beigemischt wurden. Die Citretten besitzen Vitamin C und waren äußerst wichtig für Babies. Irgendwie gedieh die Kleine auch und ich fuhr stolz mit ihr mit dem damals üblichen Einheitskinderwagen spazieren.

Unser Haus wurde 6 Monate später, im November 1944, auch zerstört. Wir waren durch einen Zufall nicht in unserem eigenen Keller. Die plötzliche Idee meiner Mutter, doch noch zu den Nachbarn zu gehen - es war gerade noch genügend Zeit dazu - hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet. Das Haus erhielt auf der einen Schmalseite einen Volltreffer, die zweite Sprengbombe traf den Stallanbau. Die Fenster hingen lose, schräg in den Angeln und dahinter hingen die Fußböden in der Luft. Die noch verblieben Mauern hatte breite Risse. Seltsamerweise stand unser großer Küchenschrank noch an seiner Stelle auf einem fast schräg herabhängenden Fußboden und - wie ein Wunder - obendrauf mein Kanarienvogel Hänschen, in seinem Käfig. Hinter dem Küchenschrank gab es keine Wand mehr. Dieses Bild vergesse ich nicht. 'Hänschen' hat seitdem keinen Pieps mehr von sich gegeben. Er vegetierte noch einige Zeit so dahin, bis mein Vater ihn erlöste. Ich war sehr traurig, denn ich mir hatte mir noch viel Mühe gegeben. Der Verlust all meiner Spielsachen, Bücher, Fotos etc hatte mich nicht so getroffen.

Unsere verwandten Nachbarn nahmen uns für die nächsten Monate in ihrem großen Hause auf. Meine Mutter saß täglich in unserem Trümmerhaufen unserer Hausruine und putzte Steine. Sie war eine echte Trümmerfrau. Durch unsägliche Anstrengungen, nebenbei das Baby Bärbel versorgen und für die inzwischen einmarschierten Tommies die Wäsche waschen und Khaki-Hemden mit allen Fältchen bügeln gegen einen Lohn von einem Stück Seife und einer Tafel Cadbury's Schokolade, hat sie zu unserem Wohlbefinden beigetragen. Dies war bereits in 1945, mein Vater war noch an der Güterabfertigung tätig und bereitete in seiner Freizeit unser Grundstück, welches etwa 100 m von unserem zerstörten Haus entfernt lag, für den Bau eines Behelfsheimes vor, für welches meine Mutter tagtäglich Steine putzte und mit einem Handwagen zu dem Bauplatz fuhr. Mein Vater konnte bald einen Stall auf dem Grundstück bauen, worin wir unsere Hühner unterbrachten. Die Eier benötigten wir zum Tausch für Zement und Rohrleitungen. Heimlich hat mein Vater in diesem Stall ein Schwein gehalten. Als es später in dem fertige Keller geschlachtet wurde, durfte niemand etwas davon wissen. Es war also ein 'schwarzes' Schwein. Jemand hatte dem Schwein die Schnauze zugehalten, damit es nicht quiekt. Mit dem Fleisch und der Wurst konnten meine Eltern weiteren Zement, Mörtel, Kalk und Wasserleitungen für unser Behelfsheim eintauschen und es fiel natürlich etwas für uns ab. Freunde halfen beim Schlachten und Wurstmachen und erhielten natürlich auch ihr Teil. Das war eine große Hilfe und wir fühlten uns irgendwie glücklich und waren kurzzeitig ganz vergnügt.

Erst nach dem Kriege, 1946, konnte ich wieder eine Schule besuchen, dies war die Handelsschule in Harburg. Das Gymnasium wurde während dieser Zeit notdürftig hergerichtet. Als meine Eltern die Nachricht erhielten, daß der Unterricht wieder aufgenommen werden kann, bei Mitbringen eines Stuhles von jedem Schüler, war ich bereits etwa 4 Wochen Handelsschülerin und wollte nicht mehr zurück.

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