> Lothar Gerhardt: Erlebnisse als 17-Jähriger im Zweiten Weltkrieg

Lothar Gerhardt: Erlebnisse als 17-Jähriger im Zweiten Weltkrieg

Dieser Eintrag stammt von Lothar Gerhardt (1928-2013) aus Weißwasser, März 2010:

Lothar Gerhardt wurde am 19. März 1928 in Stolzenburg-Glashütte geboren. Im Jahr 1929 zog er mit seinen Eltern nach Weißwasser. Von 1934 bis 1942 besuchte er die Volksschule in Weißwasser und absolvierte von 1942 bis 1944 eine Lehrausbildung als Reichsbahn-Assistent bei der Deutschen Reichsbahn, ebenfalls in Weißwasser. Im Januar 1945 erhielt er als 17-jähriger die Einberufung in das Wehrertüchtigungslager in Görlitz. Am 13. Mai 1950 heiratete er Isolde Thau in Weißwasser. Seine Tochter Sabine Gerhardt kam am 23.09.1950 in Weißwasser zur Welt. Lothar Gerhardt arbeitete bis zu seiner Rente als Angestellter bei der Deutschen Reichsbahn in Weißwasser. Hier berichtet Lothar Gerhardt über seine Erlebnisse als 17-jähriger während der letzten zwei Monate des Zweiten Weltkrieges:


In der Nacht vom Di. 30 / Mi. 31. Januar 1945 klingelte es bei uns Sturm. Ein Bote  kam mit der sofortigen Einberufung zum Wehrertüchtigungslager in Görlitz. Ich mußte  noch einen weiteren Teilnehmer verständigen. Er wohnte auf dem Neuteichweg rechts hinter dem Haus Privatzki. Der frei herumlaufende Hund hätte mich fast gebissen, aber ich  konnte gerade noch meinen Auftrag erfüllen.
In aller Eile wurden die wichtigsten Sachen gepackt und bevor es dann mit dem P 781 um 6.48 Uhr nach Görlitz losging, hatte mein Vater noch einen wichtigen Hinweis für mich.  Mein Junge, der Krieg ist sowieso verloren. Paß gut auf Dich auf! Du darfst nicht vorne  sein, auch nicht der Letzte, immer unauffällig in der Mitte Dich aufhalten. Deine Mutter und  Oma werden dann in Großmonra in Thüringen sein. Mein Vater war vom Werk reklamiert. In der Luisenhütte, wo er seit einiger Zeit als Meister arbeitete, wurden kriegswichtige  Glasteile für Mienen hergestellt.
Der Krieg hatte inzwischen längst Deutschland erreicht. Die Russen standen an der Oder, Breslau wurde zur Festung erklärt und mit großer Verzweiflung verteidigt. Flüchtlinge  und Wehrmachtstransporte versperrten die Straßen und es war bitter kalt.  Die Alliierten hatten im Westen ebenfalls Deutschland erreicht und waren im ständigen  Vormarsch. Die Deutsche Reichsbahn hatte den Eil- und Schnellzugverkehr eingestellt. Es wurde nur noch der Regionalverkehr bedient. Und selbst hier kam es zu Einschränkungen und Verspätungen. Hervorgerufen durch die massiven Luftangriffe und Zerstörung der Bahnanlagen.
In Görlitz angekommen mußte ich feststellen, daß es auf dem Bahnhofsgelände vieles  durcheinander ging Viele Flüchtlinge bevölkerten die Bahnsteige und die Empfangshalle.  Nun fuhr ich mit der Straßenbahn zur Schule in Rauschwalde am Fuße der Landeskrone. Hier bekamen wir als Quartier einen Klassenraum zugewiesen. In dem waren ca. 15  Doppelstockbetten aufgestellt. Natürlich gab es in dieser Schule keinen Unterricht mehr. Auch die anderen Schulen der Stadt Görlitz waren geschlossen.
Am nächsten Tag wurden wir eingekleidet. Es waren graue Kombinationen, ähnlich einem Trainingsanzug. Die Ausbildung hatte ausschließlich militärische Ziele. Geländespiele,  Schießübungen mit dem Karabiner 98 und dann auch noch mit der Panzerfaust. Abgespannt kamen wir täglich vom Außendienst, immer am Fuße der Landeskrone. Wir waren ca. 100 Jungen im Alter von 15-17 Jahren. Die Verpflegung war sehr dürftig. Wir hatten immer großen Hunger, aber zu wenig zu essen. Es waren immer noch winterliche Temperaturen. Unsere Sachen konnten bis zum nächsten Tage gar nicht  richtig trocken werden. Aber danach fragten unsere Ausbilder nicht. Die Ausbilder waren  Angehörige der Wehrmacht und sie waren streng und rücksichtslos mit uns. So vergingen die ersten Tage im selben Rhythmus bei immer noch Frostgraden.

In der Nacht vom Di., 13. /Mi, 14. Februar 1945 stiegen wir auf das Dach unserer Schule  und sahen ganz in der Ferne einen Feuerschein. Erst am nächsten Tag erfuhren wir aus dem Radio, daß in der vergangenen Nacht ein Großangriff durch anglo-amerikanische Luftstreitkräfte auf die Stadt Dresden erfolgte.
Am Morgen des 16. Februar 1945, es war ein Freitag, mußte wir alle auf dem Schulhof  antreten. Alle des Jahrganges 1928 mußten heraustreten Uns wurde dann eröffnet, daß  wir zum Reichsarbeitsdienst einberufen werden.
Sogleich machten wir uns auf den Weg. Aber es sollte zunächst ein Fußmarsch bis nach Löbau sein. Wettermäßig hatte sich der nahende Frühling ganz leicht bemerkbar gemacht. Es war noch frisch, aber der meiste Schnee war verschwunden. Die F 6, auf der wir uns gen Löbau bewegten, war voller Flüchtlinge, die aus dem Osten nach Westen  strömten. Es wimmelte so von Autos, Lastwagen, Pferdegespannen und Handwagen. Und mittendrin auch noch Wehrmachtsfahrzeuge. Nur sehr langsam kamen wir  voran. Unterwegs plagte uns der Hunger und nichts Eßbares war für in Aussicht. Da kamen wir an einer Fleischerei vorbei. Aber unser Wunsch, hier etwas für den großen  Hunger zu bekommen, ging nicht in Erfüllung. Der Fleischermeister gab uns zu verstehen, daß er selbst nichts hatte. Draußen aber war ein Handwagen mit lauter Fleisch und Wurstwaren aufgestellt. Sicher wollte die Fleischer-Familie auch flüchten. So waren  wir gezwungen, zur Selbsthilfe zu greifen. Aus dem Handwagen bedienten wir uns reichlich mit den feinsten Wurstsorten. Dieser Vorrat sollte uns dann für einige Tage reichen! Erschöpft von dem langen Fußmarsch kamen wir dann am späten Abend in Löbau an. Hier fanden wir Unterkunft in einem Kino, direkt am Bahnhof gelegen. Hier war es  wenigstens schön warm, aber einen Film bekamen wir natürlich nicht zu sehen, obwohl  wir es uns auf den Kinositzen recht bequem gemacht hatten. Die Ruhe tat unseren müden Gliedern richtig gut.
Ich ging noch zum Bahnhof in Löbau und versuchte lange, eine telefonische Verbindung  zum Bahnhof in Weißwasser zu erlangen. Das gelang erst nach einigen Versuchen. Die Telefonverbindung wurde über die Basa-Leitung (Bahn-Selbst-Anschluß) hergestellt. In der Vermittlung in Weißwasser machte ein Fräulein Dienst, die ich auch kannte, aber  ihr Name fällt mir nicht mehr ein. Sie berichtete mir, daß keine Züge mehr verkehren, immer mehr Flüchtlinge aus den Ostgebieten durch Weißwasser kommen. Die Leute in  Weißwasser wurden auch schon für eine Evakuierung vorbereitet. Aber ein genauer Termin war noch nicht bekannt.
Kurz nach Mitternacht mußten wir dann das Kino verlassen. Im Bahnhof stand ein Zug,  bestehend aus Güterwagen, bereit, um uns abzubefördern. Die einzelnen Güterwagen waren mit einem eisernen Ofen und Gestellen mit Stroh belegt ausgerüstet, die uns als Nachtlager dienen sollten. Vom Magazin des Bahnhofs haben wir uns dann erst mal  Briketts verschafft, damit wir uns eine warme Bude machen konnten. Es begann schon zu tagen, als sich unser Güterzug in Bewegung setzte. Trotz des geheizten Ofens in Güterwagen haben wir sehr gefroren. Wir hatten ja weder Decken noch Mäntel zur Verfügung.
Am gleichen Tage kamen wir aber nur bis kurz hinter Dresden. Die Umleitung um den  Dresdner Hauptbahnhof kostete Stunden, da die Bahnanlagen durch feindliche Fliegerangriffe ziemlich zerstört waren. So ging unsere Fahrt, wenn auch sehr schleppend, immer weiter. Unterwegs mußte immer wieder brennbares Material für unseren Ofen besorgt werden. Das geschah hauptsächlich durch die Entnahme von Kohle und Koks von den Güterwagen der vorbeiziehenden Güterzüge. Mir gelang es sogar, eine herumliegende warme Decke zu organisieren. Das war natürlich eine Wohltat. Die Fahrt ging so über Karl-Marx-Stadt - (heute Chemnitz) - Zwickau - Plauen - Hof - Wiesau - Weiden - Schwandorf - Regensburg bis nach Landshut.
Unterwegs gab es noch 2 Erlebnisse. Während der Morgenstunden hatten wir Aufenthalt  in Wiesau. Hier standen wir auf einem Nebengleis und beobachteten Schulmädchen, die mit der Eisenbahn zur nächsten Schule fahren wollten. Aber der zur Abfahrt stehende Zug hatte noch keine Lok. Da sagte die Mädchen: Heute müssen wir aber lange auf das  Bockerl warten. Gemeint war dabei die fehlende Lokomotive. Die Mädchen verwöhnten uns mit einigen Süßigkeiten, auf die wir lange Zeit verzichten mußten.
Aber das schlimmste Ereignis erwartete uns auf während des Aufenthaltes im Bahnhof Schwandorf. Hier waren außer unserem Zug auf den Nachbargleisen noch weitere Züge  abgestellt. Ein Güterzug mit Munition und ein Lazarettzug. Kurz nach unserem Eintreffen im Bahnhof, es war nach Mitternacht, gab es einen heftigen Fliegerangriff. Der traf den Zug mit den verwundeten Soldaten. Auch der Munitionszug wurde in die Luft gesprengt. Es gab danach heftige Detonationen, einen hellen Feuerschein ein lautes Aufschreien der Verwundeten. Wir wußten gar nicht, was mit uns geschehen war. Aber danach wurden wir dazu eingeteilt, den im Lazarettzug getroffenen Soldaten Hilfe zu leisten. Was wir dabei erleben mußten, ist nicht mit Worten zu beschreiben. Überall im Bahnhof lagen Gliedmaßen der Getroffenen herum, Tote gab es in reichlicher Zahl. Wir wollten zwar helfen, wußten aber nicht wie. So etwas Grausames hatten wir noch nicht erlebt. Ich mußte dabei das erste Mal an die Worte meines Vaters über die Unsinnigkeit des Krieges denken. Wie recht hatte er doch. In den Morgenstunden kamen dann Helfer des Roten Kreuzes und ein Einsatzkommando des Katastrophendienstes. Aber die Gleisanlagen des Bahnhofs waren so in Mitleidenschaft gezogen, daß wir 2 Tage einen Zwangsaufenthalt hatten. Wir bekamen endlich wieder einmal etwas Warmes zu essen und von den Begleitern des Lazarettzuges reichlich kalte Verpflegung. Aber von den erlittenen Eindrücken ist uns der Appetit ziemlich vergangen.

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