> Manfred Bresler: Der Todesmarsch 1945

Manfred Bresler: Der Todesmarsch 1945

Dieser Eintrag stammt von Manfred Bresler (* 1932) aus Frankfurt/M.(bresler@tmp.fh-frankfurt.de) 09.01.2000:

Durch den Tod eines Pferdes kurz vor Karlsbad war unser Flüchtlingstreck gezwungen, an Ort und Stelle zu bleiben. Das war aber nicht möglich, das Dörfchen war zu klein! So kamen wir in einen Ort in der Nähe, wo ein großer Maierhof Arbeitskräfte suchte. Wir wurden mit einem Gespann abgeholt, im Dorf Zwolln (heute: Stvolny) verteilt und hatten das erste Mal seit Monaten Zeit, alle unsere Sachen auszupacken. Diese Tätigkeit muß alle sehr beansprucht haben, denn erst als es dunkel wurde, bemerkten wir: In keinem der Räume, auch nicht der unserer Wirtsleute, hing eine Lampe, es gab keinen Schalter, keinen Stecker - keine Elektizität!! Doch auch das wurde gemeistert, gab's kein Licht, gab's mehr Schlaf.

Alles normalisierte sich so stark, daß ich sogar wieder zur Schule gehen mußte! Naja, viel brachte das nicht, flog ein Rabe oder irgend ein Vogel am Fenster vorbei, brüllte jemand: "Tiefflieger!!", jeder stürzte über jeden und der Unterricht war gelaufen, die wohl 18 oder 19-jährige Lehrerin war machtlos! Ich erinnere mich, daß sie kleiner als ich war!! Schließlich war es mit der Schule vorbei, Tiefflieger gab es wirklich, sie beschossen einem auch beim Brotholen. Der Weg war damals weit bis nach Manetin, dafür gab es dort blütenweißes Brot.

Völlig ungefährdet waren die Bewachungen des Todesmarsches, der eines Tages in Zwolln auftauchte. Hatte ich geglaubt, eigentlich schon genug erlebt zu haben für meine damals 13 Jahre, so sollte es nun erst richtig grausam werden. Auch heute nach über 50 Jahren sträubt sich alles in mir, wenn ich es aufschreiben soll.

Erst munkelte man etwas von Einquartierung, etwa 8.000 Mann sollte das kleine Dorf aufnehmen, schon befürchtete man verstärkte Luftangriffe, denn es konnte sich ja nur um Militär handeln. Und dann kamen sie, eigentlich querfeldein, eine Masse, aus der man keine einzelnen Menschen erkennen konnte, grau-gestreift, die Köpfe gesenkt, die Hände in den Ärmeln der erbärmlich dünnen Jäckchen versteckt, immer 8 oder gar 12 Frauen nebeneinander. Auch beim besten Willen konnte man kein Ende der Menschenmasse erkennen. Auffällig elegant daneben die Bewacherinnen, in einem feldgrauen Kostüm den üblichen Uniformen durch die silbernen Knöpfe angeglichen. Zum engen Rock wurden Stiefeln getragen und jede der Aufseherinnen hatte am Handgelenk eine Lederpeitsche baumeln. Soldaten mit Gewehr waren zu dieser Masse nur eine Handvoll zugeteilt.

Ich wußte nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte, heute glaube ich, daß ich mich geschämt habe in einem Ausmaß, das ich noch nicht kannte. Mein Spielplatz, die Dorfstraße, war mir erstmal genommen, zum Glück ist der Dorfplatz in Zwolln groß genug, Kommandos wurden gebrüllt, irgendwie wurden aus der Masse Gruppen gebildet - ich weiß es nicht, ich war von der Straße verbannt. Unser Wirt, Herr Lifka, hatte eine große Scheune, die war voll gefüllt worden mit diesen Frauen und der Lifka hatte sofort Streit mit den SS-Leuten: Sie hatten verlangt, einen Kartoffeldämpfer voll Schweinekartoffeln zu garen, um damit die Frauen zu füttem. Lifka lehnte das ab, er wollte richtige Speisekartoffeln dämpfen, aber er konnte sich nicht durchsetzen gegen die Verbrecherqlique. Kaum war dieser Streit zu Ende, gab es neuen, es gefiel dem erzkatholischen Mann nicht, daß die Frauen einzeln ihre Notdurft auf dem zentral im Hof gelegenen Misthaufen erledigen mußten, die Schreierei war noch lauter und länger als vorher, aber es nutzte nichts, unter Androhung von Strafmaßnahmen mußte sich der alte Mann wieder fügen.

Ich habe an diesem Tage mehr gelernt, als in vielen Jahren davor und danach!! Doch mein Part für diesen Tag stand noch aus, und wenn ich mit einer Feder schreiben würde, spätestens hier würden meine Finger streiken. Bei Lifkas hatte ich mich mit kleinen Hilfsdiensten eingekratzt, denn da eigentlich kein Mann auf dem Hof war, war auch die kleinste Hilfe willkommen. So war es seit Wochen meine Aufgabe, gegen Abend für das Vieh Rüben zu schnitzeln, das geschah in einem Anbau an der Scheune und mein "Lohn" war eine dicke Scheibe Brot mit Sirup. So geschah es auch an diesem Tag, aber kaum begann ich mit meiner "Arbeit", als ich Stimmen neben mir hörte, der Schuppen hatte zur Scheune mehrere Löcher in die eigentlich die Deichseln der Wagen hineingehörten, aber Wagen waren eben keine da, alles lag voller Rüben. Erst achtete ich nicht auf die Stimmen, es war wohl auch eine mir fremde Sprache und ich wußte ja, daß die Scheune voller Menschen war.

Plötzlich wurden die Stimmen direkter, ich fühlte mich angesprochen: "Hallo, Junge, was machst Du da?" "Ich schnitzele Rüben fürs Vieh!" "Siehst Du den Posten vor der Tür?" "Ja, aber der erzählt mit jemanden dort drüben!" "Gut, laß Dir nichts anmerken, arbeite normal weiter, aber gib mir durch das Loch hier ein paar von den Schnitzeln!" Ich entsetzt: "Nein, das kann man doch nicht essen!!" "Oh, Junge, wenn du wüßtest, wir bekommen fast nichts zu trinken, wir haben alle riesigen Durst und wir möchten die Rübenschnitzel aussaugen, um den Durst zu stillen!" Ich arbeitete wie ein Verrückter, das Vieh hat nicht viel bekommen an diesem Tag, immer wieder wurde ich gewarnt vor dem Posten, aber der ahnte nichts.

Hinter der Mauer wurden die Fragen genauer, wo ich her wäre, wo meine Eltern sind, wie wir hierher kämen und schließlich, wo die Front verlaufen würde. Auch ich hatte Fragen: Warum sie so behandelt würden, was sie angestellt hätten und wo sie herkämen - und dann kam die Antwort, daß sie alle nur "eingesperrt" wären, weil sie Jüdinnen wären und ob ich wüßte, was Juden wären. Mir entwischte ein doofes "Und das ist alles??" Schließlich kam die Tochter vom Lifka mit meinem "Arbeitslohn", ich wurde angemeckert, weil so wenig Rüben gemahlen waren, aber mein Stück Brot hatte ich in der Hand. Da kam wieder die Stimme aus der Scheune, erst wollte sie wissen, wer das war, dann, ob das täglich mein Lohn wäre und schließlich die Erklärung, daß die Frauen seit Monaten kein Brot mehr zu essen hatten. Sie bat mich, das Stück Brot ihr durchzureichen, ich zögerte, aber dann tat ich es doch - und in der Scheune prügelten sich die Frauen um einen Bissen Brot!!!

Das werde ich nie vergessen und es geht mir bis heute nah, was Menschen anderen Menschen antun können. Meinen Verwandten muß ich an diesem Tag ziemlich verstört vorgekommen sein, am nächsten Tag kam der Horror zum schändlichen Abschluß: Ein Rollkomando der SS durchstöberte die Scheunen, in denen Häftlinge geschlafen hatten, fanden wohl auch ein paar, gleich behauptete man, die wollten fliehen, daß eine Erschöpfung hätte vorliegen können, war diesen Menschen nicht zugestanden worden. Auf die Frage, was man mit ihnen machen würde, war die lapidare Antwort: "Das werden die schon merken!" Im Nachbarort Rabenstein (heute: Rabstejn) stellte man sie auf die Brücke der Schnella und erschoß sie!! Dort lagen sie tagelang, bis der Spuk endgültig vorbei war!

Damals und noch bis zur Wende in Tschechien glaubte ich, daß es sich um Häftlinge aus dem KZ Theresienstadt gehandelt hätte. Erst danach erfuhr ich, daß dieser Todesmarsch schon in Niedersachsen, Hessen und Thüringen begonnen hatte. Man war mit der Bahn bis Scheles (heute: Ziehle) gekommen, dort lud man u.a. über 60 Tote aus und begrub sie außerhalb der Friedhofsmauer, sie waren ja nicht katholisch. Der Rest marschierte etwa vier Wochen zwischen der russischen und der amerikanischen Front hin und her, bis sie Anfang Mai 1945 in der Gegend von Pilsen befreit wurden. Nach dem Krieg hat man in Scheles aus der Begräbnisstätte eine Gedenkstätte gemacht und dort die Rekruten vereidigt. Niemanden stört es bis heute, daß die Gedenkstätte ein über vier Meter hohes Kreuz ziert, obwohl jüdische Frauen dort verscharrt worden sind.

lo