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Manfred Gratz: Flucht aus Ostpreußen

Dieser Eintrag stammt von Manfred Gratz (*1937) aus Schwedt/Oder, Mai 2015:

Von Tannenberg nach Tolkemit

Ein Schrei erschüttert das kleine Dorf in Ostpreußen: „Der Russe ist da!“ Wir schreiben Sonnabend, den 20. Januar 1945 vormittags, ich sah die russischen Panzer über die Felder auf uns zukommen. Warum so viele Erwachsene vor einem Russen panische Angst entwickelten, blieb mir, einem 7-jährigen aufgeweckten Jungen nicht lange verborgen. Da kam nicht einer, sondern sehr, sehr viele. Wir waren überrascht, denn der Großdeutsche Rundfunk berichtete immer noch über schwere Kämpfe im entfernten Warschau. Das kleine Dorf war Tannenberg, historisch weltbekannt. Hier hatte nach der offiziellen Geschichtsschreibung die deutschen Generalfeldmarschälle Hindenburg und Ludendorff die Wende an der Ostfront im ersten Weltkrieg erzwungen und die russische Armee in den ostpreußischen Sümpfen eingekesselt und vernichtet und damit Revanche genommen für die Niederlage des Deutschen Ordens 1410 gegen die polnisch-litauisch-russischen Verbündeten in der Schlacht bei Tannenberg/Grunwald.

Ich warf das große Küchenmesser weg, mit dem ich den Russen bekämpfen wollte. Denn vor der Schule, in der wir wohnten, wartete einer der letzten LKW der zurückgehenden Wehrmacht auf uns. Nach heutigem Wissen vermute ich, dass es sich um Reste der 2. Deutschen Armee handelte. Die besten Chancen rechneten Sie sich für einen Flucht in Richtung Nordwesten (Marienburg) aus, um dort die Wechsel zu überqueren. Der Fahrer gab uns zwei Minuten. Draußen war knallharter ostpreußischer Winter, viel Schnee und minus 20° Celsius.

Was man in zwei Minuten ergreifen kann, wenn man seine Wohnung für immer verlassen muss, besonders wenn man nichts vorbereitet hat, kann sich jeder vorstellen. Mein 5-jähriger Bruder war nicht da. Er war bei der Oma, 40 km weiter westlich. Wir sollten ihn erst ein Jahr später in einem kleinen mecklenburgischen Dorf wieder finden. Wir kletterten, zusammen mit mehreren Frauen und Kindern, auf die Ladefläche des LKW. Wir kamen aber nur 500m bis an den Friedhof. Das Fahrzeug stoppte, weil Tiefflieger uns angriffen. Herunter vom Wagen und rein in den Straßengraben! Das machte mir richtig Spaß, es genauso zu machen wie die Soldaten, die von einer Grabenseite zur anderen sprangen, je nachdem von wo die Geschosse geflogen kamen. Die Flieger, die sehr langsam flogen, bildeten einen Kreis über uns und schossen aus Maschinengewehren.

Direkt über mir suchte ein etwa 15 jähriger Junge hinter einem Baum Schutz. Mit Entsetzen sah ich, wie eine MG-Salve quer von oben nach unten in seinen Körper einschlug. Als er langsam vor meine Füße in den Straßengraben rutschte und der bisher weiße Schnee sich blutrot färbte, hatte ich begriffen was Krieg bedeutet. Er muss sofort tot gewesen sein, weil keiner der Erwachsenen Notiz von der Katastrophe nahm, jeder hatte wohl mit sich zu tun.

Bevor die Panzer Tannenberg angriffen, musste erst die sowjetische Luftwaffe ran. Die Russen rechneten selber mit fanatischem Widerstand an dieser Traditionsstätte des deutschen Militarismus. Monatelang waren rund um Tannenberg durch die Bevölkerung Panzergräben ausgehoben, Schützenmulden gebaut, Unterstände und Verbindungswege angelegt worden. Als die Russen wirklich kamen, standen der Wehrmacht keine Truppen zur Verfügung. Sie konnte nur noch eine Sondereinheit stellen, die die Leiche Hindenburgs und seiner Frau wegschafften. Es blieb nicht einmal genug Zeit das Denkmal vollständig zu sprengen. Aus 500m Entfernung mussten wir mit ansehen, wie die Schule mit unserer Wohnung und all unserem Hab und Gut in Flammen aufging. Mein Vater war bis zu seiner Einberufung Lehrer an dieser Schule gewesen. Er erlebte diese Tragödie nicht mehr. Er war für Führer, Volk und Vaterland am 22. Juni 1941, dem ersten Tag des Russlandfeldzuges, an der ostpreußisch-litauischen Grenze gefallen.

Durch die unnötigen Fliegerangriffe auf Tannenberg gewannen wir einige Stunden Vorsprung, die am Ende beinahe noch gereicht hätten, um den Russen zu entkommen. Für meine Mutter brach eine Welt zusammen als sie mit eigenen Augen die russischen Panzer sah, sie glaubte immer noch, dass die Wehrmacht die Russen wie im 1. Weltkrieg vertreiben könnte, schließlich war Tannenberg seit 700 Jahren nie erobert worden. Unseren LKW mussten wir bereits nach 20 km stehen lassen, weil kein Benzin mehr da war. Von nun an ging es zu Fuß weiter. Wir zogen in einer Kolonne mit etwa 10 von Pferden gezogenen Munitionswagen, die dazu gehörenden Panzerabwehrkanonen waren hinten an den Wagen angebunden. Ich hatte Glück und durfte auf einem Munitionswagen mitfahren. Plötzlich tauchten hinter uns auf der Straße 8 russische Panzer auf. Überraschender Weise griffen Sie nicht an, sondern reihten sich „friedlich“ hinter unserer Kolonne ein und fuhren im Schritt hinter uns her. Wie ich heute weiß, gehörten diese Panzer zur Vorhut der 2. russischen Panzergardearmee, die den Befehl hatte schnell auf Elbing vorzustoßen und dabei möglichst langandauernde Kämpfe zu vermeiden. Diese 8 Panzer hatten einen beträchtlichen Vorsprung vor den restlichen russischen Kräften.

Weder die deutschen Soldaten mit den Panzerabwehrkanonen noch die russischen Panzer wollten einen Kampf riskieren.Unsere Kolonne wich nach einiger Zeit auf den zugefrorenen Schillingsee aus auf dem wir ca. 10 km, parallel zur Hauptstraße, an Osterode vorbei, und dann weiter nach Mohrungen fuhren. In der Abenddämmerung konnte ich die Panzer genau zählen. Es waren acht, die sich deutlich vom hellen Schnee abhoben. Sie fuhren in hohem Tempo in Richtung Osterode. Dort hörten wir, wie sie wild um sich ballerten, offensichtlich ohne Gegenwehr. Mit hoher Sicherheit verbrachten sie auch die Nacht dort.

Der See war besser befahrbar als die Straße, so dass wir im Morgengrauen Liebemühl erreichten. Wir konnten damals nicht wissen, dass in eben dieser Nacht der letzte Zug vom Bahnhof Liebemühl in Richtung Deutschland abgefahren war. In diesem Zug saß unsere gesamte Verwandtschaft einschließlich Oma Augstin und Opa Gratz und auch mein Bruder Peter. Zu ihrem Glück hatte mein Großvater Adolf Gratz, auch ein Lehrer, die Lage richtig eingeschätzt und die 15 km von Osterode nach Liebemühl mit fast allen seinen Enkeln im Eilmarsch zurücklegt. Sie erreichten den Bahnhof und den letzten Zug noch rechtzeitig. Seit damals liegt der Bahnhof unberührt im Dornröschenschlaf. Selbst das Bahnhofsschild „Liebemühl“ in deutscher Sprache und der Bahnsteig sind noch so wie damals. Als die Polen 1945/46 in Ostpreußen angesiedelt wurden, hatten die Russen die Gleise mitgenommen und die Strecken wurden von den Polen nie wieder aufgebaut. 60 Jahre später veranstaltete ich mit meinem Bruder und sieben meiner Cousins und Cousinen, die sich damals retteten, eine Erinnerungsreise. Heute leben sie in aller Welt verteilt, von Berlin und Gera über Wien bis Johannesburg (Südafrika) und waren vorher nie wieder in Ostpreußen. Sie fielen auf die Knie und küssten ein verbliebenes Schienenstück, weil ihnen durch die geglückte Flucht meine Erlebnisse erspart blieben.

Da wir in der Nacht die russischen Panzer wieder überholt hatten, wurden wir wieder von ihnen eingeholt und mussten erneut von der Hauptstraße runter. Über Nebenstraßen und das Eis des weltbekannten Oberländer Kanals erreichten wir die Kleinstadt Mohrungen. Der Tross hielt, ich war eingeschlafen. Bis zum Bahnhof waren es nur 250 m. Während alle anderen Flüchtlinge mit ihren letzten Habseligkeiten zum Bahnhof liefen, ging meine Mutter ohne mich und unser Gepäck mit, um zu fragen, ob überhaupt noch ein Zug fährt. Leider fuhr der Zug bereits los, während meine Mutter unterwegs war, um mich und das Gepäck zu holen. Wir sahen nur noch die Rücklichter.

Deshalb zogen wir weiter mit dem militärischen Tross in Richtung Elbing. Wir erreichten bei Preußisch-Holland wieder die Hauptstraße von Ostrode nach Elbing und Marienburg. Am 23. Januar, kurz vor Elbing holten uns die 8 russischen Panzer zum dritten Mal ein. Wir wichen erneut aus und erreichten über Nebenstraßen Elbing. Elbing hatte über 100.000 Einwohner plus Flüchtlinge, sowie starke militärische Besatzung und einen Stadtkommandanten hatte, der zu allem entschlossen war - Oberst Schoepffer hatte.

Während wir uns von Nordosten einen fürchterlich steilen Rodelhang mit Pferd und Munitionswagen und den Panzerabwehrkanonen (PAK) nach Elbing hinunter quälten, schlichen sich die 8 russischen Panzer einzeln gut getarnt auf der Hauptstraße im Flüchtlingsstrom an den Wachen vorbei in das Zentrum der Stadt. Dort sammelten sie sich immer noch unbemerkt und begannen wild um sich feuernd, Panik zu verbreiten.

Es war der 23. Januar 1945 am späten Nachmittag. Es dunkelte bereits. Da die Soldaten mit den Panzerabwehrkanonen sich im Stadtgebiet befanden unterstanden sie jetzt der Befehlsgewalt des Stadtkommandanten. Wir wussten nicht wohin, deshalb blieben wir bei der PAK, auf deren Wagen wir gesessen hatten. Die Panzerabwehrkanonen wurde gedeckt in Stellung gebracht. Es dauerte nicht lange, da tauchte der erste Panzer auf der Bildfläche auf. Ich erschrak mächtig über den lauten Knall „unserer“ PAK. Eine Granate reichte, der Panzer brannte sofort. Die Jagd auf die Panzer dauerte die ganze Nacht. Ständig hörten Meldungen von den Panzerjägern. Am Morgen waren vier Panzer vernichtet, einer wurde verlassen vorgefunden und drei Panzer waren einfach verschwunden. Die Reste der Truppen, mit denen wir ja ab Tannenberg mitgezogen waren, wurden zur Verteidigung Elbings eingesetzt. Noch war Elbing in deutscher Hand. Sollten die Russen aber Elbing einnehmen und bis zum Frischen Haff vordringen, wäre der Fluchtweg nach Westen abgeschnitten.

Jetzt stand vor uns die Frage, was wir tun sollten. Wir hätten in Elbing bei der Truppe bleiben können. Am 26. Januar bekamen wir die Möglichkeit mit einem LKW nach Tolkemit an das Frische Haff zu fahren. Dann wollten wir über das zugefrorene Haff auf die Nehrung und weiter nach Danzig flüchten. Diese Möglichkeit erschien meiner Mutter besser als in Elbing zu bleiben. Offensichtlich wählten viele Flüchtlinge diesen Weg. In Tolkemit fanden wir, zusammen mit einigen anderen Flüchtlingen, eine verlassene Bleibe für die Nacht. Es war die Villa einer Nazigröße. Wir fanden Sachen, die ich noch nie gesehen hatte: Schokolade, Bohnenkaffee und Alkohol in jeder Form. Nachdem wir ausgiebig geschlemmt hatten, legten wir uns schlafen.

Überleben in Tolkemit

Eine gewaltige Detonation riss mich aus dem ersten Schlaf. Eine Wand fehlte und durch die aufgerissene Decke konnte ich den sternklaren Januarhimmel sehen. Träume ich oder war das Realität? Abgehackte Kommandos in einer mir fremden Sprache signalisierten mir sofort, die Russen sind da! Eine ungeordnete Flucht begann. Halb angezogen stolperten meine Mutter und ich in das untere Stockwerk. Da erschütterte eine zweite Explosion das Gebäude. Irgendjemand stieß mich die Kellertreppe runter, dann brach das Haus zusammen. Im Keller herrschte Panik. Vier SS-Männer in schwarzer Uniform mit dem bekannten Totenkopf und der Hakenkreuzbinde um den Arm fuchtelten mit ihren Pistolen herum. „Raus mit euch aus dem Keller!“, schrieen die Frauen. „Wenn die Russen euch hier finden sind wir alle geliefert“. Das war den Hitlerschergen auch klar. Solange die russischen Soldaten noch mit der Sicherung ihres Erfolges beschäftigt waren, bestanden noch Chancen zu entkommen. Die 4 Männer spähten durch die Kellerfenster. Es war zwar niemand zu sehen, doch umso mehr zu hören. Die Russen feierten ihren Sieg mit Wodka. Kurz entschlossen kletterten die Vier durch die Fenster raus aus dem Keller und in den Vorgarten. Gespannte Stille. Sekunden vergingen, dann hämmerten nur die MP 41. Keine Pistolenschüsse antworteten. Im April lagen Reste der Leichen, vor allem abgenagte Knochen, immer noch herum, keiner hatte Zeit, sie wegzuräumen.

Als es hell wurde, begannen die russischen Soldaten den Keller zu untersuchen. Wir, das heißt etwa zehn Personen, nur Kinder und Frauen, hatten uns in einen toten Kellergang zurückgezogen und mit Decken zugedeckt. Alle hatten fürchterliche Angst erschossen zu werden. Die Russen hatten eine Kellerwand eingedrückt, eine Flak und eine PAK in Stellung gebracht.

Dann begannen sie sich an den reichen Vorräten zu laben. Zuerst am Alkohol. Den Flaschen wurden einfach mit dem Bajonett der Hals abgeschlagen und egal ob dabei Glas in die Flasche gefallen war oder nicht, wurde der Inhalt in einem Zug getrunken. Als einem Russen ein riesiger Schinken aus seinen Armen glitt, konnten wir nicht anders. Schnell war der leckere Bissen unter unserer Decke verschwunden. Als die ersten Zivilisten im Keller auftauchten, um Kohlen für die eisernen Öfen zu holen, die die Russen oben in dem Trümmerhaufen aufgestellt hatten, begannen auch wir uns auf den Auszug aus dem kalten Keller vorzubereiten.

Da im großdeutschen Reich jeder mit „Heil Hitler“ zu grüßen hatte, kamen die Frauen auf die Idee uns Kinder mit dem Gruß „Heil Stalin“, vorzuschicken. In gebückter Haltung, an der Flak vorbei, krochen wir nach oben. “Heil Stalin“ stotterte ich leise, als ich den ersten Russen sah. Da geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte. Der Russe strich mir mit der Hand über meinen kahl geschorenen Kopf und sagte freundlich etwas auf Russisch. Dafür begannen sich andere Soldaten sofort für meine Mutter zu interessieren. Einer packte sie an den Handgelenken, hob ihre Arme hoch und rief: „Uri“. Und ehe meine Mutter es begriffen hatte, war sie ihre Armbanduhr auch schon los. Eine Uhr war für jeden Russen damals ein Wunderwerk der Technik. In diesem Augenblick begann das ein Gefecht. Wir verschwanden schnell in einer Seitenstrasse und versteckten uns in einem Haus. In Tolkemit war die Hölle los. Für uns war es unmöglich aus der Stadt zu entkommen. Wir waren inmitten heftiger Kämpfe gefangen. Eben noch waren hinter dieser Ruine noch die Deutschen, da waren im gleichen Augenblick auch schon die Russen da. Zu diesem Zeitpunkt konnten weder die russischen Flieger noch die schwere Artillerie eingesetzt werden. Alles spielte sich im Nahkampf ab. Als in unserem Haus, das inzwischen nur noch eine Ruine war, plötzlich die deutschen Soldaten auftauchten, war die Hoffnung groß. Ich kletterte mit einem deutschen Soldaten in der Ruine nach oben und zeigte ihm eine russische Maschinengewehrstellung, die uns schon seit Stunden beschoss. Der Russe hatte sich gut getarnt, unter einem Dachfirst eingenistet. Mit seinem Präzisionsgewehr gab der deutsche Soldat einige gezielte Schüsse ab. Dann sagte er: “Der Iwan belästigt euch nicht mehr“. In den Morgenstunden waren die Deutschen wieder weg, ohne uns mitzunehmen. Und der Russe, ein schwarzbärtiger Kaukasier, stand an unserer Schlafstelle. Er musterte mich, kam aber zu der Erkenntnis, dass ich nicht geschossen haben kann, ich war ihm wohl zu klein. Mit seinem krummen Säbel schlitzte er nur unsere Betten auf und suchte nach „Fritz“. Der war aber weg. Die deutschen Soldaten wurden allgemein mit dem Vornamen Fritz betitelt. Umgekehrt wurde nur vom Iwan gesprochen.

Diese Kämpfe gingen bis Ende Januar. Danach hatten die Russen so viele Kräfte herangeführt, dass sie letztlich die Deutschen besiegten. Damit war eine Flucht über das zugefrorene Haff für uns unmöglich geworden, der Rückweg nach Elbing war auch versperrt. Mit der endgültigen Sicherung von Tolkemit hatte sich die Rote Armee einen 10 - 15 km breiten Zugang zum Frischen Haff gesichert. Jetzt brach für uns erst richtig die Hölle los. Die Deutschen schossen von drei Seiten auf Russen in Tolkemit und damit auch auf uns. So lagen wir unter deutschem Beschuss von der Nehrung, die nur 10 km entfernt liegt. Von Osten aus dem Kessel Heiligenbeil und von Westen aus dem Weichseldelta und Elbing.

Wir hatten uns in den Ruinen so gut es ging versteckt. Intakte Häuser gab es kaum und wenn wurden sie von den Russen genutzt. Wir lebten nur von Salve zu Salve. In den Feuerpausen mussten wir irgendetwas zum Essen heranschaffen. Die Geräuschkulisse des Krieges war mir inzwischen gut bekannt. Ich konnte zwischen Pistolenschüssen, MPI und Maschinengewehren, sowie Artilleriebeschuss mit unterschiedlichem Kaliber unterscheiden. In diesen Tagen lernte ich ein neues Geräusch kennen. Die Einschläge waren begleitet von einem ansteigenden pfeifenden Ton. Die Wirkung war verheerend. Ich zog jedes Mal den Kopf ein. Ein Teil unserer Gruppe glaubte nebenan in einem zerstörten Keller einen besseren Platz gefunden zu haben. Mit zwei Jungen dieser Gruppe hatte ich mich gerade angefreundet. Ein gewaltiger Einschlag eines solchen Geschosses und wo eben noch der Keller war, war jetzt nur ein tiefer Trichter. Erde, Steine, Menschen- und Mauerreste flogen über uns hinweg.

Heute weiß ich, dass wir es mit dem Beschuss der Schweren Panzerkreuzer Prinz Eugen, Scheer und Lützlow aus der Danziger Bucht zu tun hatten. Unser Hauptproblem war es, etwas zu essen zu besorgen. Da die Frauen sich vor Vergewaltigungen fürchteten, trauten sie sich nicht aus den Verstecken heraus. Deshalb lag die Versorgung voll in den Händen der Kinder. In jeder Feuerpause war Ausschwärmen angesagt. Zuerst fanden wir noch Nahrung in den zerbombten Häusern. Die besten Chancen aber hatten wir in den Kellern, in denen die ehemaligen Besitzer Eingewecktes aller Art gelagert hatten. Auch gefrorene Kartoffeln verschmähten wir nicht. Die Bewohner hatten, bevor sie geflüchtet waren ihre Haustiere einfach freigelassen. Auch unsere Oma hatte ihr Pferd Liese vom Wagen losgebunden und wie ihren anderen Haustieren die Möglichkeit gegeben sich selbst zu versorgen. In der Kampfzone Tolkemit irrten viele Haustiere frei umher. Für uns kam es nur darauf, nach jedem Feuerwechsel schnell angeschossene oder tote Tiere zu finden und den Frauen zur Zubereitung zu übergeben. Einmal entdeckten zwei andere Jungen und ich ein angeschossenes junges Schwein. Wir konnten es in einer Ecke stellen und stachen mit Messern wahllos darauf ein. Das Schwein quiekte und versuchte verzweifelt zu entkommen. Es dauerte zwar eine Weile, aber schließlich haben wir es getötet.

Natürlich gingen wir auch zu den Russen betteln. Je nach Laune bekamen wir entweder einen Tritt in den Hintern oder tatsächlich ein halbes Brot. Wir lernten schnell zu erkennen, wann sie gute Laune hatten. Im Allgemeinen waren die Russen kinderlieb. Wenn sich die Chance ergab, haben wir die Russen auch etwas zu Essen geklaut. Einmal gelang es uns sogar einen etwa 20kg schweren Sack mit braunem Zucker zu erbeuten. Wir hatten noch nie braunen Zucker gesehen und trauten uns zuerst nicht davon zu essen.

Es kam vor, dass die Russen Brot an die deutschen Zivilisten verteilten. Wir mussten herausfinden wo es in den Kampfpausen verteilt wurde und uns rechtzeitig anstellen. Eines vormittags, gerade als die Verteilung begann, ging der Beschuss von der Nehrung schon wieder los. Als in unmittelbarer Nähe die Granaten einschlugen, stoben die Menschen auseinander. Wir brachten noch die Kaltschnäuzigkeit auf, einen kleinen Augenblick zu warten, bis alle weg waren. Jeder schnappe sich erst noch zwei Brote. Inzwischen war uns aber der Rückweg versperrt, denn die Explosionen nahmen zu. Wir flüchteten kurz entschlossen in einen russischen Bunker. Die Russen staunten nicht schlecht, als in ihrem Bunker drei Jungen mit sechs Broten auftauchten. Wer da glaubte, dass die russischen Soldaten, ausreichend versorgt wurden, der irrte aber gewaltig.

Im Gegensatz zu den US Boys wussten sie nur zu gut was Hunger bedeutet. Der Handel um das Brot war hart aber fair. Für eine relativ sichere Bleibe waren wir bereit zwei Brote abzugeben. Die Soldaten wollten drei Brote. Wir blieben hart. Sie hätten uns auch alles wegnehmen und mit einem Fußtritt aus dem Bunker werfen können. In der Kampfzone Tolkemit hatte niemand Zeit, deutsche Waffen zu entsorgen. Eierhandgranaten und Gewehre lagen überall herum. Wir Jungen hatten eigentlich im Umgang mit diesen Waffen genügend Erfahrungen gesammelt. Trotzdem kam es zu einem Vorfall bei dem ich einen anderen Jungen beinahe erschossen habe. Georg, er war etwa zwei Jahre älter als ich. Wir spielten wieder einmal Krieg. Jeder hatte einen Karabiner in Anschlag gebracht. Die Russen hatten den Gewehrschaft abgeschlagen, um die Waffe unbrauchbar zu machen. Ich zielte liegend aufgelegt über Kimme und Korn genau auf seine Stirn und zog am Abzug - ein Schuss ging los. Erschrocken blickte ich auf Georg - er war völlig unverletzt. Ich hatte ihn aus 2 Meter Entfernung nicht getroffen. Kaum zu glauben! Mit den Eierhandgranaten gingen wir an das Wasser auf Fischfang. Eine äußert effektive Methode an frischen Fisch zu kommen. Die Art zu fischen hatten wir uns bei den Russen abgeguckt. Im unmittelbaren Bereich der Wasserexplosion überlebt kein Fisch, man konnte sie einfach an der Wasseroberfläche einsammeln. Wir glaubten, dass wenn man die Handgranate nach dem Scharfmachen zu früh in das Wasser wirft, sie nicht explodiert. Deshalb warteten wir nach Entfernen des Splintes noch 3 Sekunden. Wir hatten immer Glück!

Leider brach jetzt auch noch der Typhus aus. Eine Mutter in unserer Unterkunft erkrankte. Sie starb und hinterließ eine 12 jährige Tochter und einen 8 jährigen Sohn. Als ich erkrankte, war meine Mutter der Verzweifelung nahe. Ich war schon nicht mehr ansprechbar, hatte sehr hohes Fieber, Durchfall und fantasierte. Medikamente gab es natürlich keine. In ihrer Verzweifelung rannte meine Mutter los und sie kam tatsächlich mit einer russischen Ärztin wieder. Die sagte nur: „Typhus“, zuckte mit den Schultern und ging. Beim Hinausgehen steckte sie meiner Mutter unauffällig ein Medikament zu. Ich vermute sie tat es heimlich, weil Medikamente knapp waren und die Versorgung der russischen Soldaten Vorgang hatte.

Als Beschuss durch die Deutschen nachließ, verließen wir Tolkemit und zogen in ein Haus in einem Dorf ganz in der Nähe. Leider kann ich mich an die genauen Umstände nicht mehr erinnern. Ich vermute, dass es Ende März oder Anfang April gewesen sein muss, da am 29. März die Schlacht um den Kessel Heiligenbeil endete und damit auch der Beschuss von Tolkemit durch die Deutschen aus dieser Richtung. Außerdem wurden die Panzerkreuzer abgezogen. Lediglich von der Nehrung (Kahlberg) und aus dem Weichseldelta schossen die Deutschen noch bis zum Kriegsende auf Tolkemit. Damit hatte sich unsere Situation deutlich verbessert. Wir waren kaum noch Artilleriebeschuss ausgesetzt und es war auch leichter etwas zu Essen zu besorgen. Deshalb konnte ich mir ein „Hobby“ zulegen. Ich war ein richtiger Pferdenarr. Bei der Oma auf dem Hof durfte ich schon mit 5 Jahren ein Panjepferd reiten. Es war ein kleineres Pferd, das wir von der Wehrmacht als Ausgleich erhalten hatten. Da ich das Pferd aber nicht in den Galopp bekam, was ja erst richtig Spaß macht, ließ ich mir einen Trick einfallen. Auf dem Heimweg vom Feld kommend saß ich immer auf dem Panjepferd, das im Schritt hinter dem Wagen, den das Pferd „Liese“ zog, hinterher ging. Der Trick bestand nun darin, dass ich mit beiden Händen nur einer Seite des Zügels zog, was zur Folge hatte, dass das Pferd sich auf der Stelle zu drehen begann und wenn der Abstand zum Wagen groß genug war, brauchte ich nur den Zügel loslassen und ab ging die Post. Inzwischen war ich fast 8 Jahre alt und in den letzten Wochen gewaltig gereift. Ein Pferdenarr war ich trotzdem geblieben und immer wenn ich ein herrenloses Pferd entdeckte, ging ich auf Jagd, um es zu fangen. Teilweise hatte ich mehrere Pferde versteckt. Natürlich musste ich die Pferde auch versorgen. Es war aber leichter für die Pferde etwas zu finden, als für uns etwas aufzutreiben.

An einem Nachmittag sah ich, wie ein Soldat mit zwei meiner Pferde angeritten kam. Vor dem Unterstand in dem die Russen ihren Stab eingerichtet hatten, sprang er vom Pferd herunter. Mit einem Strick band er sie notdürftig an den Resten eines Gartenpfahles an. Mein Entschluss stand sofort fest. Die Pferde hole ich mir zurück. Ich schlich mich zwischen die Pferde. Als kleiner Junge war es immer schwierig auf ein großes Pferd zu steigen. Ich schob das andere Pferd hinter den abgebrochenen Gartenpfahl, so dass der Russe mich nicht gleich entdecken konnte. Ich band die Pferde los, kletterte schnell auf den Pfahl und sprang von dort auf das Pferd. Als ich auf dem Pferd saß, sah ich noch wie der Soldat mit der MPi wild um sich fuchtelnd, aus dem Unterstand gerannt kam. Mit dem Ende des Stricks schlug ich auf die Pferde ein. Erschocken sprangen sie im Galopp los. Ich krallte mich an der Mähne fest. Im selben Augenblick hörte ich wie die Kugeln der MPi 41 über mich hinwegpfiffen. Da hatte ich mächtig Glück gehabt. Heute glaube ich, er wollte die Pferde nicht verletzen. Aber einen, flach auf dem Rücken eines Pferdes liegenden Jungen zu treffen ist nicht leicht.


Auf dem Rückweg nach Bergfriede

Der Krieg war vorbei! Hitler tot! Berlin gefallen! Deutschland hatte bedingungslos kapituliert! Es war der 9. Mai 1945. Von der Nehrung und aus dem Weichseldelta wurde aber immer noch auf uns geschossen. Dem Russen, der uns die Prawda zeigte, in der die bedingungslose Kapitulation veröffentlicht war, dem antwortete meine Mutter: „Nichts weiter als russische Propaganda!“

Mitte Mai glaubten wir dann doch, dass der Krieg vorbei ist. Meine Mutter wollte zurück nach Bergfriede, da sie dort ihren zweiten Sohn, meinen Bruder Peter bei seiner Oma zurückgelassen hatte. Sie konnte ja nicht wissen, dass die beiden mit einem der letzten Züge Ostpreußen verlassen hatten. Wir verließen endlich das Frische Haff nach 103 Tagen in der Kampfzone. Im Wesentlichen mussten wir die gleiche Strecke zurück, die wir im Januar auf der Flucht vor den russischen Panzern zurückgelegt hatten. Das bedeutete rund 100 km südwärts in das innere Ostpreußens.

Ein kleines Pferdchen, ein Pony hatte ich noch retten können. Einen Kinderwagen mit ganz großen Rädern hatte ich schon lange vorher beiseite geschafft. Unsere zusammengelesene letzte Habe war schnell verstaut. Mit einem Kumt und einer Leine konnte das Pony den Wagen leicht ziehen. Wir kamen aber nur bis zum Kaisergut in Cadinen, wo über viele Jahre Pferdezucht betrieben wurde. Dort hatten sich schon die ersten Polen eingenistet. Die nahmen uns einfach das Pony weg und behaupteten es wäre vom Gut und das Gut würde ab sofort ihr Eigentum sein. Wir begriffen, wer jetzt das Sagen in Ostpreußen hatte. Offensichtlich waren die meisten Deutschen geflohen. Ab sofort änderten wir unseren Weg und verließen die Hauptstraße. Jetzt musste ich den Kinderwagen schieben.Wir umgingen größere Ortschaften. Bevor wir um Unterkunft oder um etwas zu Essen baten, beobachteten wir eine Zeit lang die Häuser, um böse Überraschungen auszuschließen. Plötzlich lag die Straße vor uns!

In den letzten 4 Monaten hatte ich genug tote Menschen gesehen, aber was ich hier sah, überstieg meine Vorstellungskraft. Waren das, was da auf der Straße und neben der Straße lag, tote deutsche Soldaten? Es gab keinen Zweifel, da überall Erkennungsmarken herumlagen. Wir konnten sogar erkennen, welche Einheiten hier gekämpft hatten. Auf der Straße war für meinen Kinderwagen nur schwer vorwärts zu kommen. Überall lagen Leichenteile, viele offensichtlich schon viele Wochen, andere erst seit kurzer Zeit. Wir versuchten den Wagen durch das Chaos zu schieben.  Wenn er sich festgefahren hatte, trat ich mit den Füßen gegen die Leichenteile, um ihn wieder flott zu machen. Manchmal kamen wir nur weiter, wenn wir den Kinderwagen gemeinsam ein Stück trugen. Meine Mutter begann Erkennungsmarken zu sammeln, sie hatte vor, die Angehörigen zu benachrichtigen. Unter der Last drohte der Kinderwagen zusammenzubrechen, deshalb nutzte ich jede Gelegenheit, um ihn heimlich zu erleichtern. Es waren keine vollständigen Leichen, nur Leichenteile: Hände, Arme, Beine, Köpfe, angefressene Rumpfteile und undefinierbare Stücke. Wir hatten uns Tücher vor den Mund und die Nase gebunden, weil der Gestank nicht zu ertragen war. Fliegen, Raupen und Maden aller Art, Vögel, vor allem Raben hielten Festschmaus. Besonders in Erinnerung blieben mir die Füchse, die es nicht mal für nötig hielten bei unserer Annäherung die Flucht zu ergreifen. Ich habe in den folgenden 60 Jahren keinen Horrorfilm gesehen, der sich mit der Wirklichkeit, die wir erlebt haben, vergleichen lässt.

Ich habe sehr lange bei der Vorbereitung für die Niederschrift meiner Erinnerungen nach der Lage der Straße auf verschiedenen Karten gesucht und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass sie im Raum südöstlich von Preußisch Holland liegen müsste. Wahrscheinlich lagen dort so viele Tote, weil die Russen ein Artilleriesperrfeuer auf diese Straße geschossen hatten. Damit wollten sie einen Ausbruch aus dem Kessel Ostpreußen verhindern.
Wie lange wir unterwegs waren, bis wir Bergfriede erreichten, kann ich nicht mehr sagen aber bestimmt einen Monat, da wir nur auf Nebenwegen gegangen waren. Als wir den Drewenssee erreicht hatten, wurde unsere Spannung ganz groß, um den See herum, aus dem Wald kommend, erkannten wir unser Bauernhäuschen. Es stand noch, das mehrstöckige Nachbarhaus war vollkommen zerstört. Am Bahnhof vorbei, über die Felder schleichend, näherten wir uns dem Hof. Eine fremde Frau kam aus der Küche und ging an die Pumpe. Von der Oma und meinem Bruder Peter war nichts zu sehen. Noch hatten wir etwas Hoffnung, sie doch noch zu finden. Entschlossen betraten wir den Hof, die Frau an der Pumpe blickte nur kurz auf, sie hatte genügend Flüchtlinge gesehen. Als sie aber begriffen hatte, dass wir die rechtmäßigen Besitzer waren, erschrak sie dann doch.
Es war Jadwiga Theoderowitsch, eine Polin, die mit ihrer Familie bisher am Bug gelebt hatte und von den Russen aus ihrer Heimat umgesiedelt worden war. Sie wusste was Vertreibung bedeutet. Leider konnte sie über den Verbleib von unserer Oma und Peter nichts sagen. Sie gab uns etwas zu essen, hatte allerdings selber nicht viel. Sie gab uns ein Dach über den Kopf, indem sie die Kammer räumte, in der zu unserer Zeit die Magd Sophia, eine polnische Volksdeutsche, gewohnt hatte. Zur Familie Theodorowitsch gehörte Ihr Ehemann Josef und ein Sohn in meinem Alter.

Das Leben in Bergfriede

Leider erkrankte meine Mutter schwer und musste zur einer Operation ins Lazarett nach Osterode. Jetzt war ich ganz auf mich alleine gestellt. Zum Glück gab es doch noch einige wenige deutsche Jungen in Bergfriede. Da die polnischen Jugendlichen ständig auf uns Jagd machten, hatte ich Angst. Deshalb legte ich mir 2 Eierhandgranaten zurecht, die ich noch aus meiner Zeit am Frischen Haff versteckt und im Kinderwagen nach Bergfriede geschmuggelt hatte. Zwischen Jadwigas Sohn und mir herrschte friedliche Koexistenz .Von Jadwiga bekam ich Pirogen zu essen, das waren herrlich schmeckende Teigtaschen, gefüllt mit allem Möglichen. Dafür half ich ihr, im Gegensatz zu Vater und Sohn, auf dem Hof und auf dem Feld. Es war bei der Kartoffelernte, Jadwiga hatte sie im Mai 1945 noch gepflanzt und ich hatte bei der Pflege geholfen. Plötzlich kam ein russischer Jeep mit 4 Soldaten auf das Feld gefahren und ohne ein Wort zu sagen, begannen sie unsere schon ausgegrabenen Kartoffeln aufzuladen. Mit einem Wutgeheul und erhobener Kartoffelhacke stürzte sich Jadwiga auf die Soldaten. Blitzschnell hatten diese ihre MP im Anschlag. Das machte Jadwiga noch wütender. Mit einem Gemisch von polnischen und russischen Flüchen und Beleidigungen stürzte sie sich auf die Soldaten. Ehe die sich versahen, hatte sie dem ersten Russen auch schon die Hacke über den Kopf gezogen. Die Soldaten merkten erst jetzt, dass sie es nicht mit einer deutschen Frau zu tun hatten. Zwei Soldaten packten Jadwiga und versuchten sie festzuhalten. Mit einem Aufschrei ging einer der Soldaten zu Boden und hielt sich den Unterleib, Jadwiga hatte ihn wohl an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Jetzt fassten auch die anderen polnischen Frauen Mut. Es entwickelte sich eine schöne Schlägerei. Als auch noch polnische Männer herbeigeeilt kamen, gab es keinen Zweifel mehr, wer der Sieger sein würde. Da nutze ich die Chance noch eine offene Rechnung zu begleichen und trat einem der Russen kräftig in den Hintern. Die Russen waren heilfroh, dass sie mit ihrem Jeep, ohne Kartoffel gerade noch entkamen.

Josef, Jadwigas Ehemann, wurde Bürgermeister von Bergfriede. Sofort nutzte er seine Stellung aus, um das Grundstück mit Haus vom deutschen Fleischermeister Gajewski zu besetzen. Dessen Familie war geflüchtet, er war in russischer Gefangenschaft. Als mein Bruder und ich Anfang der siebziger Jahre zu Besuch in Bergfriede waren, erfuhren wir folgende Geschichte: Als Gajewski 1949 aus der Gefangenschaft zurück kam, blieb er in Bergfriede. Da er als guter Fleischermeister eine hervorragende Wurst herstellte, ließen ihn die Polen nicht weiter nach Westen reisen. Josef der Bürgermeister, musste ihm sein Haus zurückgeben. Er heiratete die einzige Frau deutscher Herkunft im Ort und hatte mit ihr 2 Kinder. Gajewski war deutscher Nationalist. Er weigerte sich, auch nur ein Wort polnisch zu lernen, geschweige zu sprechen. Folgende Episode kursiert bis heute in Bergfriede. Wenn ein Pole zu ihm kam und es kamen viele, die ein Schwein geschlachtet haben wollten, dann mussten sie ihr Anliegen in einem einwandfreiem Deutsch vorbringen.

Fast alle Polen kamen deshalb mit einem vorgefertigten Zettel, auf dem sie ihre Bitte formuliert hatten. Wer trotzdem beim Ablesen stotterte oder einen Aussprachefehler machte, wurde weggeschickt. Zu Besuch bei der Familie Gajewski erlebten wir folgende Situation. Seine Tochter war 14 Jahre alt. Sie war inzwischen eine stolze Polin geworden und verstand angeblich kein Wort deutsch. Beim gemeinsamen Abendessen entwickelte sich folgendes Gespräch: Tochter fragt den Vater auf polnisch: „Darf ich heute zur Disko?“ Der Vater verseht kein Wort, die Mutter übersetzt dem Vater. Der Vater sagt: „Ja, aber nur bis 22:00 Uhr“ Mutter übersetzt der Tochter. Der Vater kommt in Wut, weil die Mutter übersetzen muss, er revidiert seine Entscheidung sagt jetzt: „Keine Disko!“ Jetzt versteht die Tochter auch ohne Übersetzung und wird wütend. „Hättest doch lieber gleich verstehen sollen“, sagt Gajewski.

Doch nun wieder zurück in das Jahr 1945. In Bergfriede wurden die Deutschen immer weniger und es kamen immer mehr Polen an. Ohne dass die Polen viel Druck ausüben mussten, benutzten immer mehr Deutsche die Transporte in Richtung Berlin. Mit meiner Mutter war über ein Verlassen der Heimat nicht zu reden. Sie wollte Ostpreußen nicht verlassen, 700 Jahre war es deutsch gewesen, Polen gab es hier nur zur Erntezeit als Gastarbeiter. In Bergfriede begann für die polnischen Kinder die Schule. Ein Besuch der Schule hätte für mich sowieso nur Prügelei bedeutet und bei dem Kräfteverhältnis kam das für mich überhaupt nicht in Frage. Für meine Mutter war undenkbar, dass ihr Sohn zusammen mit Polen in eine Schule geht. Also keine Schule für mich.

Ich wollte in jedem Fall weg, nach Deutschland. Für Ende Dezember 1945 war wieder ein Transport angekündigt. Josef Theodorowitsch, der Bürgermeister wollte uns natürlich loswerden, um Haus und Hof mit Land problemlos zu kassieren. Ich hatte meiner Mutter klipp und klar gesagt: “Ich fahre mit dem Transport!“. Ich hatte eine Adresse auswendig gelernt für den Fall, dass meiner Mutter etwas passiert oder wir auseinander gerissen werden: Bernhard Augstin, Bochum im Ruhrgebiet, Herne Str. 309. Bernhard war der älteste Bruder meiner Mutter, der schon in den zwanziger Jahren in das Ruhrgebiet ausgewandert war. Einen kleinen Gummiwagen, der auf zwei Rädern fuhr, begann ich mit dem Notwendigstem zu beladen. Es kam der Tag der Abfahrt. Doch mit dem Gummiwagen konnte ich nicht losfahren, jemand hatte mir ein Rad abgebaut und es versteckt. Bis heute weiß ich nicht, ob es Josef war, der meinen Wagen haben oder meine Mutter, die meine Abreise verhindern wollte. Mir war klar, wenn ich konsequent zum Bahnhof gehe, kommt meine Mutter bestimmt hinterher. Ich hatte außerdem heimlich beobachtet, dass auch sie Reisevorbereitung getroffen hatte. So habe ich meine Mutter quasi zur Abreise gezwungen!

Reise in die neue Heimat

Eine endlose Fahrt im Viehwagen eines Zuges bei klirrender Kälte, ohne Heizung Richtung Westen begann. Oft standen wir tagelang auf der Stelle. Das Jahr 1946 hatte angefangen und der Zug hatte die Oder immer noch nicht überquert. Erst im Januar wurden wir 10km nördlich von Schwan in Hucksdorf/ Mecklenburg ausgeladen und in ein Lager an der Warnow gebracht. Bis dahin hatten wir überhaupt keine Verbindung zu den deutschen Besatzungszonen gehabt, wir wussten gar nichts. Endlich, nach Tagen der Ungewissheit kam eine Postkarte von Onkel Bernhard aus Bochum, an den meine Mutter sofort geschrieben hatte. Meiner Mutter zitterten die Hände, so dass sie die Nachricht gar nicht lesen konnte. „Zeig mal“, sagte ich. Da fiel mir auf, dass ich gar nicht lesen kann, weil ich kaum Buchstaben kannte. Inzwischen waren andere Leute im Lager aufmerksam geworden. Eine Frau die hinter meiner Mutter stand, rief: „Da steht, Peter und Oma leben! Sie befinden sich in Augzin, Kreis Parchim in Mecklenburg.“ Da hielt uns keiner mehr im Lager. Schnell hatten wir herausgefunden wo Augzin liegt. Jetzt fuhren wir in einem richtigen, beheizten Zug, auch wenn wir bis Zidderich stehen mussten. Ein wenig erschrocken waren wir dann doch, als der Zug scheinbar auf offener Strecke hielt, kein Bahnsteig kein Bahnhofsgebäude, nur ein schiefes Schild mit der Aufschrift „Zidderich“ Wir waren angekommen. Bis zum Ort Zidderich mussten wir einen halben Kilometer laufen. Es war gegen Morgen und der Milchwagen nahm uns von Zidderich mit, bis nach Techentin. In die Molkerei hatte auch der Milchwagen aus Augzin die Milch gebracht, deshalb brauchten wir nur umsteigen. Die so genannte Straße von Techentin nach Augzin übertraf alle Straßen, die ich bisher gesehen hatte. Sie war nicht mit Steinen gepflastert, sondern mit Holz. Man hatte Baumstämme in 30cm lange Kloben zersägt und mit der glatten Fläche nach oben in den Sand eingegraben. Mit den Jahren verfaulte aber etwa die Hälfte der Kloben. Eine Fahrt mit dem Pferdewagen ergab, dass immer ein Rad in einem tiefen Loch und ein anderes Rad gerade auf einem intakten Holzklotz war, weswegen wir heftig durchgeschüttelt wurden. Es war zwar bitterkalt, uns war aber trotzdem warm, denn wir sollten in wenigen Minuten unsere Oma und den Peter wieder sehen. Plagemann, der den Milchwagen fuhr, informierte uns, dass es beiden gut ging und sie bei seinem Nachbarn untergekommen waren. Die Oma hatte den Begriff Mutter gegenüber dem Peter nie gebraucht und nach einem Jahr hatte er seine Mutter vergessen. Als der Milchwagen auf den Hof des Nachbarn einfuhr, stand draußen unter der Türklinke ein kleiner Junge. Als wir vom Wagen herunter kletterten fragte er meine Mutter: „Bist du Tante Hanna?“ „Nein“, antwortete sie mit Tränen in den Augen, „Ich bin deine Mutter und das ist dein Bruder Manfred.“ Ein Jahr hatten wir uns nicht gesehen. Besonders froh war unsere Oma, weil sie endlich die Verantwortung für Peter los war. Beide waren ohne nennenswerte Probleme, in Liebemühl in den abfahrtbereiten Zug gestiegen und auf direktem Wege in wenigen Tagen in Mecklenburg gelandet.

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