> Manfred Müller: Kindheit auf Java

Manfred Müller: Kindheit auf Java

Dieser Eintrag von Manfred Müller (*1932) aus Berlin (sprmm@gmx.de) von Mai 2011 stammt aus dem: Biografie-Wettbewerb Was für ein Leben!

/lemo/bestand/objekt/mueller_001 Mein Vater war als Botaniker in holländischen Diensten auf Java, wo ich 1932 in Surabaja geboren wurde. Mit zu meinen ersten Erinnerungen gehört unser Wohnhaus in der Embong Tandjong 17, dort lebte ich mit meinen Eltern und meinen drei Geschwistern. Es war ein großes Haus im klassischen kolonialen Baustil. Eingeschossig. Die linken Zweidrittel der Vorderfront nahm eine breite Marmortreppe mit sechs Stufen ein. Darüber trat man ein in eine überdachte Vorhalle, von der man in einen großen Vorraum kam, hinter dem sich unser Wohn- und Esszimmer anschloss. Meine Mutter hatte darin ihre Ecke mit ihrem Schreibtisch, von dem aus sie uns und das Personal dirigierte und das Hauswesen organisierte.

Wir hatten 8 "Bedienten". Einen sereng, das war Djojo Sasmito - hier rechts im Bild, ein wohl aus guter, alter Familie stammender Javane, über dessen Abstammung und Herkunft gerätselt wurde, ohne dass man Klarheit gewinnen konnte. Er war der Mittler zwischen den malaiischen "Bedienten" und dem "tuan besar" (in wörtlicher Bedeutung "großer Herr", d.h. Herr des Hauses). Der Chauffeur Urip, ein Gärtner, die Köchin Siti, und mehrere Reinemach- und Waschfrauen, zwei Hausjungen, Sulejman und Karto. Von dem Gärtner erzählten meine Eltern, dass er einen Spazierstock in die Erde stecken könnte, um daraus eine Pflanze wachsen zu lassen. /lemo/bestand/objekt/mueller_002 Mit dem Chauffeur gab es immer wieder Ärger. Er wollte meiner Mutter nicht gehorchen, nur meinem Vater. Da aber mein Vater sehr häufig und auch lange unterwegs war, ließ sich diese Eigenheit nicht überbrücken. Sie entließ den Urip also. Wenn der Vater wieder zurück war, musste Urip wieder eingestellt werden. Kismet: "Der Mann hat eingestellt, deshalb kann Frau nicht entlassen". Eine besondere Stellung hatte Juffrouw (Fräulein) Fitje, eine Ambonesin. Sie war unser Kindermädchen, welches sich rührend um uns bekümmerte und die wir heiß liebten. Sie sprach - wie alle "Eingeborenen" - das typisch malaiisch gefärbte holländisch.

Eine nicht gerade einfache landestypische Eigenschaft der Javanen war, dass es vorkam, dass sie am nächsten Tage nicht zur Arbeit erschienen. Sie kamen erst dann zurück, wenn sie wieder Geld brauchten. Meine Eltern gehörten sicherlich zu den besser situierten Europäern. Ein solch mehr oder minder großzügiger Lebenszuschnitt indessen war für die Kolonialeuropäer nicht ungewöhnlich. Das Einkommen der Weißen lag vergleichsweise sehr hoch, während das der zugleich erheblich genügsameren Javaner gering war.

/lemo/bestand/objekt/mueller_004 Mit Javanern auf der Straße und unseren Bedienten sprachen wir malaiisch, mit den Holländern, unseren Spielkameraden und wir Geschwister untereinander sprachen holländisch. Zuhause mussten wir deutsch sprechen. Ohne Mühe sind wir so dreisprachig aufgewachsen. Wir wechselten die Sprachen mit dem jeweiligen Gesprächspartner. Wir hatten drei natürliche Muttersprachen.

Unser (Kinder-)Leben spielte sich in unserem großen Garten ab. Den Garten grenzte eine hohe Mauer nach hinten ab. Die Mauerkrone war gespickt mit herausragenden Flaschenscherben, die ein Übersteigen verhindern sollten. Durch eine Tür in dieser Mauer gelangte man an einen hinter dem Grundstück fließenden Kanal, einen sloot. Wir durften den Garten nicht verlassen. Es wäre dort am sloot zu gefährlich. Wahrscheinlich aber sprachen hygienische Gründe für das Verbot. Der anfallende Abfall wurde in diesen Kanal gekippt und alles Abwasser dort eingeleitet. Es war die damals übliche Kanalisation. Uns gruselte natürlich, wenn wir dort eine tote Katze oder einen toten Hund sahen.

Unsere Kleidung bestand aus einem "Spielhöschen", einer Latzhose ohne Ärmel und mit kurzen Beinen. Die Luft war beständig warm, tropisch warm und schwül. Besonderes Vergnügen hatten wir in der Regenzeit, wenn die tropischen Wolkenbrüche sich im Garten zu Überschwemmungen aufstauten und wir darin herum plätschern durften. Mein Spielkamerad war der gleichaltrige holländische Nachbarssohn, Geisje. Er war einziges Kind in seiner Familie und fühlte sich natürlich bei uns unter den vielen Kindern ganz wohl. Mit javanischen Kindern haben wir nicht gespielt. So etwas tat man wohl nicht.

/lemo/bestand/objekt/mueller_011 Eine sehr enge Freundschaft pflegten unsere Eltern mit der jüdisch-holländischen Familie van Leer. Mijnheer van Leer verblieb in lebhafter Erinnerung. Wahrscheinlich war er sehr nett zu uns Kindern. Wahrscheinlich konnte er auch Geschichten erzählen, vielleicht auch Witze machen. Die Freundschaft reichte bis nach dem Kriege. Der weitere Bekannten- und Freundeskreis gehörte zu unseren Eltern und strahlte auf uns Kinder nicht aus. Er setzte sich aus einer kosmopolitischen Vielfalt zusammen, die im Ausland nichts Auffälliges hat. Und dennoch war das unterschiedliche Auftreten und Gehabe der Menschen für uns spannend. Die Europäer waren meistens beleibt, ihre Frauen trugen riesige Hüte. Die Chinesen waren dickleibig zum Zeichen ihres Wohlstandes. Und als äußeren Ausweis dafür, dass sie manuelle Tätigkeiten nicht ausüben mussten, ließen sie die Fingernägel ihrer kleinen Finger sehr lang wachsen. Sie trugen glitzernd bunte Gewänder. Ihre Frauen hatten die damals noch üblichen kleinen verkrüppelten Füße. Die Inder konnten in ihren wallenden Gewändern aus wunderbar gefärbten Stoffen auffallend würdevoll schreiten, sie rochen nach schweren Essenzen. Die javanischen Adligen traten stolz auf und konnten grimmig dreinblicken. Sie trugen kunstvoll gebundene Kopftücher und einen im Bauchgurt auf dem Rücken steckenden "kris", der je nach hierarchischer Stellung sehr kostbar sein konnte.

Obwohl unsere Eltern unsere Bedienten korrekt und menschlich behandelten und den Einheimischen mit Achtung vor ihrer Würde freundlich begegneten, bestand doch ein spürbarer Abstand zwischen den Eingeborenen und den Weißen (Holländern, Engländern, Deutschen u.a.). Dieser wurde von beiden Seiten eingehalten und respektiert. Jedenfalls zu den "einfachen" Eingeborenen. Es gab eine javanische Oberschicht, wie auch eine solche von anderen Asiaten. Insbesondere Chinesen fielen dadurch auf, dass sie ihren zuweilen unermesslichen Reichtum offen zur Schau stellten. Anders die bevorzugten Inder, die durch eine stolze Würde bekundeten, dass sie zu den Bessergestellten zu zählen wären. Diese soziale Schichtung, quer durch alle Hautfarben, war ein unangefochtener und ganz natürlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens. Ich habe nicht erlebt, dass sich etwa die Weißen zusammengetan hätten gegen die begüterten Asiaten.

/lemo/bestand/objekt/mueller_012 Für 1940 planten unsere Eltern einen nächsten Europaurlaub, nachdem sie ihren letzten 1933/34 hatten. Wir drei ältesten Kinder sollten danach in Deutschland auf einem Internat bleiben und zur Schule gehen. Auf Java gab es nur holländische, aber keine deutschen Schulen. Zu der Zeit wären meine Schwestern 9 und 7 und ich 8 Jahre alt gewesen. Bis dahin sollten wir jedenfalls Anfangsgründe gelernt haben. Um die Ecke wohnte eine deutsche Lehrerin, Frl. Friedlaender, eine Halbjüdin, die in Deutschland nicht unterrichten durfte, zu der Ev', Blibb und ich zum Unterricht geschickt wurden.

Ohne dass wir Kinder schon was bemerkten, zogen die politischen Schatten aus Europa auch über Niederländisch-Indien. Am 10. Mai 1940 brach unsere ganze Welt buchstäblich zusammen. Deutschland hatte seinen Krieg nach Westen getragen und dabei auch die Niederlande (man sagte auf Java merkwürdigerweise nur "Holland") überfallen. Ohne Verzug machten die Holländer uns Deutsche zu Feinden. Unsere Mutter wurde rasch verständigt, dass unser Vater von einer Dienstreise aus verhaftet worden war. Gehalt war gesperrt, ebenso Telefon. In diesem Trubel hatten wir Kinder natürlich keinen Überblick. Unsere Bedienten hielten uns die Treue, obwohl unsere Mutter sie nicht mehr bezahlen konnte. Unsere holländischen Nachbarn wandten sich augenblicks von uns ab. Mein Spielkamerad Geisje von nebenan durfte nicht mehr kommen.

Ich habe zeit meines Lebens darüber nachgesonnen, wie durch weit entfernt ablaufende Ereignisse aus festen Freundschaften im Handumdrehen Feindschaften werden können. Ich selber bin indessen niemals in eine Situation gekommen, in der die Holländer damals waren. Ihr Volk wird durch unser Volk kriegerisch überfallen. Musste man sich auf diese Weise wehren und rächen? Hätte man anderes auch rechtfertigen können? Noch nachträglich, mit weitem Abstand von dem Geschehen dürfen wir das Verhalten der Holländer unserer Umgebung nicht schelten, denke ich.

Einzig die schon benannte Familie van Leer hielt ihre Freundschaft aufrecht. Ev' erinnert sich, dass Mijnheer van Leer in der Dunkelheit zu uns ins Haus kam, um Nachrichten zu bringen und wohl auch Lebensmittel. Für ihn als holländischen Juden waren solche Freundschaftsdienste für die "duitsen moffen" natürlich nicht ungefährlich. Diese treue Freundschaft erhielt er bis zu seinem Tode in den 50er Jahren - und eine Tochter bis heute -aufrecht, und das, obwohl seine europäischen Verwandten in den Gaskammern zu Tode kamen. Das Kinderleben ist nicht befähigt, das Gewicht einer Situation zu bewerten. Unser Leben ging irgend einen Gang. Aus der Zeit ist mir erinnerlich, wie unsere Mutter Brot backte, Schwarzbrot. Warum jetzt und nicht schon vorher?

Nach einiger Zeit, Wochen, Monaten - es war im August 1940 - erschienen mehrere dienstlich dreinblickende, offizielle Herren bei uns im Haus. Nach der Unterredung weinte unsere Mutter heftig und aufgelöst. Wir müssten packen und würden abgeholt. Während sie aus dem Stande heraus einen Friedenshaushalt auflösen und wenige Habseligkeiten für die ganze Familie auswählen musste, trug sie uns auf, unsere Spielsachen selber einzupacken. Von allem, was ich besaß, es war wohl nicht wenig, war mir im Augenblick eine kleine Eisenbahn das wichtigste. Die hatten wir aus Streichholzschachteln zu basteln gelernt. Pappkreise ausgeschnitten und seitlich an der Schachtel angeklebt als Räder und mit einem Faden Wagen an Wagen gereiht. Gereut hat es mich niemals, zumal ich schnell vergessen hatte, woran alles ich nicht gedacht, was ich alles zurückgelassen hatte. Meinen Teddy-Bär habe ich jedenfalls auch mitgenommen. Der hat uns dann nach Japan und später noch nach Deutschland begleitet. Wo und wie er abhanden gekommen ist, weiß ich nicht mehr.

Mir ist nicht bekannt, wie über den Hausrat verfügt wurde, wie über Besitz und Vermögen. Irgendeine Weeskammer besorgte die bürokratische Abwicklung. Wir verließen das Haus nur mit tragbarem Handgepäck. Wir - unsere Mutter und ihre vier Kinder - wurden in eine Polizeistation am Hafen in Surabaya verbracht, wo wir auf andere deutsche Frauen und Kinder trafen, mit denen wir zusammen in einem Sammeltransport in ein Lager gefahren wurden. Meine Schwester Blibb erinnert sich daran, dass die Toiletten außerhalb der Gefangenenräume lagen. Während die erwachsenen Frauen aus Scham vor der Schmach nur bei Dunkelheit dorthin gingen, verabredeten die Kinder sich nacheinander die Wache zu veranlassen, sie unter Bewaffnung dorthin zu begleiten. Am Stakettenzaun ließen sich die eingeborenen Gaffer die ungewohnten Vorgänge nicht entgehen.

lo